Der Aktivist Rosa von Praunheim hat 1971 für das öffentliche Fernsehen in Deutschland einen Film produziert mit dem Titel: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Dieser Filmtitel bringt ein fundamentales Merkmal von Kultur zum Ausdruck: dass Normalität eine Frage des Kontextes ist, innerhalb dessen sie beansprucht wird; dass alles, was Kultur ist, auch anders interpretiert werden kann und hin und wieder sogar muss.
Normalität und das gesellschaftlich Normative sind also nicht vom Himmel gefallen. Sie sind kulturelle Konzepte. So ist das auch mit der Schule. Auch die ist ein Konzept, das einmal erfunden wurde. Aus Gründen. Heute ist sie eines der wenigen, das uns noch geblieben ist aus den letzten hundertfünfzig Jahren. Normativ hoch aufgeladen und sakrosankt wie einst die großen christlichen Kirchen, die ihre Funktion als moralische Flüstertüte des Kapitalismus verloren haben - so staatstragend sie einmal waren. Die meisten anderen Systeme (z.B. Politik oder Gesundheit) sind, was ihre Funktionsweise betrifft, ökonomisiert.
Derzeit scheint alle gesellschaftliche Hoffnung am Phänomen Schule zu hängen. Sie muss in jedem Fall "offen" bleiben, damit Kinder nicht den Anschluss verlieren. Woran? An die Schule natürlich. An den Stoff, die nächste Prüfung, den Abschluss. Sie muss offen bleiben, damit Eltern zur Arbeit können oder ihre Kinder nicht quälen. Manchmal sogar, damit sie was zu essen haben. Medien verbreiten die Hiobsbotschaft: "Schulausfall kostet zukünftige Generationen bis zu 3,3 Billionen Euro".
Schule erscheint als letztes Refugium eines Humanismus, der nicht wirklich einer war, wie dieses Diagnose-Feuerwerk zu beschreiben weiß:
Diejenigen Merkmale, die in der Zeit um 1900 nur eine schmale Oberschicht kennzeichneten, charakterisieren heute grosse Bevölkerungsanteile Europas (und Deutschlands ganz besonders ...): Mangel an Tatkraft, geringer Glaube an sich selbst, Reflexionsüberhang, Entscheidungsschwäche, Zukunftsangst, Orientierungsverlust, Vergnügungssucht, Überempfindlichkeit, Weichlichkeit bei latenter Grausamkeit, Narzissmus, Haltlosigkeit, Depressivität und Handlungslähmung, Identitätsschwäche, Rollenspiel, Egozentrik, Mangel an Gemeinsinn, Sexualisierung, Psychologisierung, Nervosität, Hypochondrie, Alkoholismus, Fress- und Magersucht, Historismus, Entpolitisierung und Ästhetizismus, Stilpluralismus, Manierismus, Zitatverliebtheit an Stelle von Eigenschöpfung, Schein statt Sein, Dezisionismus bei gleichzeitig schwacher, gelegentlich aber theatralisch auftrumpfender Willenskraft. (Hermann Kurzke: Elend, Glanz und Komik der Dekadenz. Tagesanzeiger 6.8.2005, S. 37).
Auf mich macht Schule den Eindruck einer ultimativen kulturellen Projektionsleinwand. Eine Art Rettungsboot für alle. Das verleiht ihr in den hitzigen Debatten über sie den Nimbus einer Institution, die eigentlich nicht zur Diskussion stehen darf. An ihr herumkritteln: klar. Sie Reformen unterziehen: bitteschön. Sie digitalisieren: wenn es sein muss. Aber sie selbst darf nicht zur Disposition stehen.
Schule ist vorbei
Doch diese Situation ist eingetreten. Schule als System ist zu Ende. Ähnlich wie andere kulturelle Trägersysteme, die erfunden wurden, um über Jahrhunderte hinweg gesellschaftliche und ökonomische Stabilität zu garantieren, und die dann unter mehr oder weniger großem Lärm abgewickelt wurden. Wir stehen an einem Punkt der Geschichte, wo das System Schule seine Funktionen als Stabilisator und Reproduzent von Kultur verloren hat und in wirklich jeder Hinsicht dysfunktional geworden ist.
Schule garantiert nicht mehr "gesellschaftlichen Fortbestand" und ermöglicht nicht mehr "kulturelle Teilhabe", weil sie sich in ihren Strukturen und Prozessen auf eine Kultur und auf eine Gesellschaft bezieht, die nicht mehr existieren. Auch auf die fundamentalen ökonomischen Herausforderungen bereitet sie in keiner Weise vor. Dennoch halten sich ganz viele Akteure (Lehrende, Eltern, Bildungspolitiker:innen und auch Lernende) an der Idee fest, dass all die Probleme, die Schule hat und hervorbringt, in den Griff zu bekommen seien. Sie sind nach wie vor davon überzeugt, dass wir das hinkriegen mit genügend Geld und so viel Reform, wie es halt (zum x-ten Mal) braucht. Lehrende hoffen auf andere Schüler und Eltern, Eltern und Lernende auf andere Lehrer, und natürlich: digitale Infrastruktur muss her. Doch da liegt ein fundamentaler Irrtum.
Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess.
Die aktuelle Pandemie wirkt wie ein Kontrastmittel. Wir beklagen zwar vor allem fehlende digitale Infrastruktur und Kompetenz. Doch tiefer scheint ein anderes Problem zu liegen: Autoritäre Strukturen und Menschenbilder; ein großes Misstrauen und eine uralte Inkompetenz-Vermutung gegenüber Schüler:innen, die mit Adultismus mittlerweile auf den Begriff gebracht ist. Eine im Obrigkeitsdenken und im autoritären Menschenbild verwurzelte Überzeugung, dass der Mensch nur funktioniert, wenn er/sie direkt und ununterbrochen kontrolliert wird und vor allem: wenn er und sie sich lückenlos einpasst in das System: "Sozialisationsprozesse sind dann erfolgreich, wenn die Individuen am Ende genau das tun wollen, was das System benötigt, um sich zu reproduzieren." (Zygmunt Baumann, Leben in der Flüchtigen Moderne, S. 150)
Nur ist es heute nicht mehr die Gesellschaft oder die Kultur, die sich mit Hilfe von Schule reproduziert. Schule reproduziert nur noch sich selbst.
Ein Beispiel: Der Einsatz heilpädagogischer Berufe und der Ruf nach ihnen nimmt stetig zu. Entsprechende Studiengänge & Stellen werden immer wichtiger. Vordergründig geht es dabei um die Unterstützung von Kindern mit Problemen. Tatsächlich geht es aber um eine Illusion von "Reibungslosigkeit" nach dem Vorbild industrieller Produktionsabläufe: Wer sich nicht von sich aus in das Belehrungssystem einpassen kann, wird hineinunterstützt. Maike Plath spricht metaphorisch von der Untertanenproduktionsmaschine, und auch Andreas Schleicher stellt fest, dass das industrielle Arbeitsmodell nach wie vor großen Einfluss auf die Schulkultur hat. Heilpädagogik, Logopädie, Schulsozialarbeit, Ritalin und Nachhilfe werden als Überlebensstrategien des Schulsystems eingesetzt. Es geht um die Rettung einer anachronistischen Vorstellung von Normalität.
Dieses Mindset bringt die Problematik mitsamt den Kindern, die "Probleme machen", also womöglich erst hervor. Darauf verweisen z.B. die Langzeitstudien von Remo Largo. Auch erleben mehr und mehr Kinder und ihre Eltern seit Jahren auf ganz nicht-wissenschaftliche Weise, dass Schule eher krank macht als klug, wie die Lerntherapeutin und Ex-Lehrerin Corinna Milinski exemplarisch beschreibt und auffängt.
Wir sind an einem Punkt angekommen, wo – wenn überhaupt – nurmehr die Kinder und Jugendlichen "unauffällig" (!) bleiben, die ein gefestigtes soziales und am besten auch materiell gepolstertes Lebensumfeld haben, denn Nachhilfe wird, im Unterschied zu Ritalin & Co, nicht von der Krankenkasse bezahlt.
Wir nehmen nicht wirkmächtige Zusammenhänge in den Blick, sondern operieren an den Folgen herum. Wichtig ist, dass die Verantwortlichen in ihre Sessel zurückfallen können mit dem ruhigen Gewissen, dass sie nun wirklich alles mögliche getan haben, was Wirt- und Wählerschaft zuzumuten ist. Das Vorgehen ist auf perfide Weise hermetisch: Das Schulsystem erweckt den Eindruck, dass es „etwas für die Kinder tut“ und erwartet diesbezüglich vor allem Dankbarkeit und Zustimmung. Dass es selbst Verursacher eines Problems ist (z.B. in dem es "lernschwache Schüler" hervorbringt), zu dessen Lösung es dann großzügig antritt (indem es dann lernschwache Schüler entsprechend beschult), diese erfahrungs- und reflexionsgesättigte Erkenntnis, die wird ausgeblendet. Aus Gründen.
Nicht das Kind ist krank, sondern die Schule, in der es steckt
Schule bringt aber nicht nur Probleme hervor, die sie dann zu lösen vorgibt. Vielmehr vermittelt sie unzähligen Kindern und Jugendlichen ja ein Selbstbild als problematische, zurückgebliebene, als nicht oder nur schwer integrierbare Menschen. Sie (re-)produziert mit dem Benotungs- und Bewertungsunsinn den Leistungsdruck auf junge Menschen. Wo sie nicht selber aktiv diskriminiert, reicht Schule Diskrimierung durch bzw. verstärkt bestehende Formen.
Dabei ist völlig aus dem Blick geraten, dass wir Menschen niemals sind: lernschwach oder bildungsfern etwa. Wir verhalten uns: so oder anders. Auch und gerade Schüler:innen. Die Situation, in die Schule junge Menschen steckt, hat immer einen fundamentalen Anteil daran, wie sich diese Kinder und Jugendliche dazu verhalten. Selbst Probleme wie das Mobbing, das ja reflexartig an den Kindern und an ihrem kulturellen bzw. familiären Hintergrund festgemacht wird, an den Medien und den Eltern, gedeihen ja vor allem in bestimmten schulischen Kontexten.
Wer (Cyber-)Mobbing verstehen möchte, sollte nicht bloß auf die Kinder schauen, die es praktizieren, sondern auch auf die Schule als ein Kontext, in dem das passiert. Die Tatsache, dass sich Mobbing an innovativen und alternativen Schulen nicht durchsetzt, hat nicht damit zu tun, dass dort „halt spezielle Kinder sind“, die sich die Schule wie Rosinen herauspickt. Es hat damit zu tun, dass das Phänomen an solchen Schulen keine Chance hat, weil Kinder und Jugendliche, die auch dort aus jedem erdenklichen persönlichen Background kommen, eine andere Kultur des Lernens und der Gemeinschaft erfahren, und weil sie dort ganz anders lernen, mit Macht umzugehen.
Ganz zu schweigen davon, dass auch Kinder und Jugendliche, die einigermaßen unauffällig durchkommen (aka „erfolgreich“), in der Schule schon lange nicht mehr auf das vorbereitet werden, was die Gegenwart an Haltungen, Fähigkeiten und Einstellungen erfordert. Hier lautet die Begründung von Seiten der Schule immer wieder: "Wir können unsere Arbeit deshalb nur noch schwer machen, weil wir immer mehr problematische Kinder haben." Dass ein Kind ganz einfach überfordert ist, wenn es in einen Rahmen gespannt wird, der die Individualität von Lernen und Persönlichkeitsentwicklung systematisch ignoriert und unterdrückt, gerät nicht in den Fokus der Überlegung. Vielmehr ist genau dann zu hören, Kinder müssten als erstes lernen, sich ein- und anzupassen, sich unterzuordnen. Und wer das nicht kann, brauche halt Unterstützung – oder eine andere Schule.
Schule als System kann schlicht und einfach nicht mehr die kulturelle Vielfalt und Heterogenität bewältigen, die sich in unseren Lebens- und Arbeitswelten heute abbildet. Dafür wurde sie nicht erfunden. Deshalb erfinden sich im Moment ja auch vielerorts ganz neue Konzepte von Lernen und Bildung.
Wir brauchen keine andere Schule sondern eine Alternative
Wir brauchen einen Zusammenschluss all jener Kräfte in unseren Gesellschaften, die Bildung und Lernen auf viele kulturelle Schultern nehmen; nicht verteilen sondern in Angriff nehmen, selber in die Hand nehmen; die die Anliegen von Bildung und Lernen gemeinsam und grundsätzlich neu praktizieren. Nicht nur vereinzelte Eltern und Elterngruppen, die ihre Kinder aus der Schule nehmen, weil es nicht mehr anders geht – wie es zunehmend in Ländern geschieht, die keine Schulpflicht kennen. Das kann nur ein Anfang sein. Ein wichtiger und wertvoller Anfang, weil er alarmiert. Aber es geht um viel mehr. Es geht darum, dass wir für Kinder und Jugendliche völlig andere Räume und Formen des Lernens entwickeln, bauen und umsetzen – und das passiert ja bereits, gegen den hartnäckigen Widerstand der staatlichen Bildungsmonopolist:innen.
Die traditionellen Institutionen zu adressieren oder auf sie zu warten, ist deshalb sinnlos, wie im Kontext der Pandemie gerade deutlich wird, denn die sind weder bereit noch fähig, sich auf innovative Initiativen einzulassen und von ihnen zu lernen. Die Safaris und Wallfahrten, die Bildungspolitiker und Hochschulen schon länger zu solchen Initiativen unternehmen, enden so, wie die Ausflüge von Politikern und Unternehmern ins Silicon Valley: Sie kehren erschreckt und fasziniert in die eigene Welt zurück mit der Erkenntnis, "dass das so bei uns natürlich nicht funktionieren kann" – aus Gründen.
Die Fragen, die wir uns jetzt zu stellen haben, sind: Was spricht dafür, im großen und ganzen so weiterzumachen wie bisher, mit all diesen Ausreden und Begründungsreflexen, weil wir das bestehende Schulsystem weiterhin für das beste aller möglichen halten, an dem wir hier und da rumschrauben und reformieren, digitale Tools importieren und eine Schulsoftware, die Frontalunterricht, Leistungsnachweise und Lehrermangel optimal digitalisiert? Und was spricht dafür, dass die traditionelle Schule zu Ende gegangen ist: konzeptionell, methodisch und in Bezug auf ihr Menschenbild? Erkennbar daran, dass sie die meisten jener Probleme, die sie hat, selber hervorbringt, indem sie pausenlos mehr desselben tut in einer Situation, in der ein radikaler Neuanfang die Lösung ist.
Die großen Institutionen, die dem Umfang nach immer noch das ganze Bühnenbild und den Szenenaufbau dessen beherrschen, was wir unsere Gesellschaft zu nennen fortfahren, obwohl sie mehr und mehr in einer Inszenierung aufgeht, die mit jedem Tag an Plausibilität verliert, nachdem sie sich sogar der Mühe enthoben glaubt, das aufgeführte Schauspiel zu erneuern, und ein ganzes gescheites Volk durch ihre Mediokrität hinabzieht – die großen Institutionen also gleichen jenen Sternen, deren Licht uns erreicht, während sie, wie die Astrophysik uns lehrt, seit langem schon erloschen sind. (Michel Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, S. 62.)
Das neue Lernen ist in den Nischen
Aufgrund meiner Beobachtungen, Beratungen, Expeditionen, Gespräche und Recherchen vermute ich, dass vor allem jene Initiativen stark an gesellschaftlichem Einfluss zunehmen, die nicht innerhalb des bestehenden Schulsystems innovativ werden, sondern im freiem Feld: initiiert von Menschen, die verstanden haben, was es braucht; die das Geld und auch die Aufmerksamkeit zusammenkratzen, um ihre wertvollen Konzepte weiterzuentwickeln und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das ist im Moment noch mit hohen Risiken verbunden – vor allem im alten Europa, wo Staaten wie Deutschland ihre Bürger:innen mit einer rigorosen Schulplicht drangsalieren und ausschließlich traditionelle Systeme alimentieren – sei es mit Geld, sei es mit Gültigkeit. Fatal ist, dass wir alle im Moment noch am staatlichen Bildungsmonopolismus hängen, der jedoch zum Glück nicht verhindern kann, dass sich in Nischen wunderbare Initiativen entwickeln und verbreiten – und damit meine ich nicht jene Privatschulen nach Schweizer Vorbild, die jährlich Zigtausende von Euro dafür kassieren, um junge Leute durch's Abitur zu bringen, die also am Ende doch wieder im Takt des traditionellen Systems tanzen.
Ich meine jene Initiativen, die selber ums finanzielle Überleben kämpfen, gerade weil sie mit einem völlig anderen Konzept arbeiten, als staatliche Schule. An dieser Stelle seien einige genannt, in denen ich die Zukunft des Lernens sehe: Das mittlerweile über 50-jährige Konzept der Sudbury Valley School in seiner ganzen Radikalität, aufgegriffen und weiterentwickelt in den Demokratischen Schulen, die School Circles in den Niederlanden bzw. ganz aktuell dort die Agora-Schulen, die Grundi in der Schweiz, und für mich besonders beeindruckend, weil sie gerade ein internationales Netzwerk aufbauen: die Learnlife-Comunity.
Das neue Lernen, das wir so dringend brauchen, wird sich weder im alten Schulsystem entfalten, noch aus ihm heraus. Vergleichbar mit vielen Entwicklungen, die wir momentan im Kontext der Digitalisierung erleben, und die sich allesamt an anderen Orten auf dieser Welt abspielen. Das alte Europa, und darin ganz besonders Deutschland, ist kraft- und mutlos geworden. Zelebriert wird das Alte, wird die Wiederholung.
Der patriarchale Traditionalismus mit seinen Symbolen und Artefakten, mit seinen Hierarchien und Seilschaften durchwirkt noch immer alles, damit das radikal Neue nicht Fuss fassen kann: nachhaltige Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens, ökologische Neuanfänge auf breiter Ebene, Überwindung nationalistischer Narrative, Erfindung neuer Erzählungen über lebenswertes Leben, eine Ahnung davon, wie unsere Zukunft aussehen könnte, statt des ritualhaften Abhakens all jener Vorschläge, die nicht genehm sind. Aus Gründen. Überall Vermeidungsängste statt Zukunftshoffnungen. Und dazwischen das gute alte "panem et circenses" (Brot und Spiele) im neuen Gewand.
Der erste Schritt, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist ein Unterbrechen der Versorgung unseres Schulsystems mit "menschlichem Nachschub". Entweder wir gehen dieses Risiko ein und praktizieren Bildung und Lernen jetzt neu – die Alternativen sind ja weltweit bereits vorhanden, oder wir gehen vor die Hunde. Ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.
Die Herausforderung, die es für die nächsten Generation bedeutet, aus dem heruntergewirtschafteten Ort, den wir ihnen hinterlassen, wieder einen Lebensraum zu machen, sind riesig. Und es ist unsere Aufgabe, jungen Menschen erstens alles aus dem Weg zu räumen, was es ihnen erschwert, diese Zukunft zu gestalten und ihnen zweitens alle Unterstützung zu geben, die sie fordern, um das zu leisten.
Abschließen möchte ich mit (m)einer Zusammenfassung eines Interviews, das Luisa Neubauer vor einigen Wochen dem Schweizer Tagesanzeiger gegeben hat, wobei ich ihre Worte zitiere. Für mich ist das ein wunderbarer 13-Punkt-Plan für den politischen, den kulturellen und den gesellschaftlichen Neuanfang; für eine neue Gesellschaft,
die Bildung und Lernen nicht mehr an ein totes System delegiert, sondern das selber in die Hand nimmt.
- Hoffnung hat man nicht. Sie entsteht, wenn sich etwas bewegt. Im besten Fall ist man selbst daran beteiligt. Für mich entsteht Hoffnung aus Menschen, die sich organisieren.
- Bei der Überwindung der Klimakrise geht es auch darum, wie eine klimagerechte Welt, wie eine Welt, in der alle glücklich sein können, aussehen wird.
- Die Realitäten, mit denen wir uns befassen, sind da. Ob wir darüber sprechen oder nicht. Wir müssen auf die Heftigkeit, auf die Wucht, auf die Gewalt der realen Klimaveränderungen eine Antwort finden.
- Wir müssen dem eine Handlungsebene entgegenstellen, eine Ebene, auf der wir selbst aktiv werden können: Viele Möglichkeitsfenster aufstoßen. Solange ich mich mit den Lösungen beschäftigen kann, halte ich auch die krasse Realität aus. Und bleibe fröhlich!
- Wenn wir einer Sache gerecht werden wollen, dann braucht es ganz viele Menschen, die sich einer Sache gemeinsam anschließen.
- Menschen sind zu unglaublichen Unbequemlichkeiten bereit, wenn sie verstehen, warum es nötig ist.
- Es muss ein überparteiliches Selbstverständnis geben, dass jede Partei ein Programm benötigt, das es ermöglicht, die Versprechen des Pariser Abkommens zu erfüllen. (Stellen Sie sich vor, wie schön es wäre, wenn wir nicht nur ein Parteiprogramm hätten, das halbwegs klimakrisentauglich ist, sondern fünf! Dann hätten wir auf einmal einen Ideenpool, aus dem wir ganz anders schöpfen könnten.)
- Ich finde es richtig, zu überlegen, wie man Menschen noch einmal anders zu Wort kommen lassen kann. In anderen Ländern haben repräsentative Bürgerräte bereits erstaunlich radikale Lösungen vorgeschlagen.
- Wir haben kein Hauptquartier, keine juristisch verbindlichen Strukturen – wir sind, was wir tun.
- Gespräche drehen sich um die Frage, was alles geht, nicht um das, was nicht geht.
- ... von der Straße her die Parteien derart unter Druck zu setzen, dass sie tun, was nötig ist. Unsere Aufgabe ist es, an diesem System so lange herumzuschrauben, bis wir drei wesentliche Defizite behoben haben: das Emissions-, das Zeit- und das Gerechtigkeitsproblem unseres gesellschaftlichen Systems.
- Die Bedeutung von Erfahrungswissen und Zukunftswissen verschiebt sich. Die Lebensperspektive von jungen Leuten wird immer wichtiger, während das angesammelte Wissen und die Erfahrung der älteren Generation an Übermacht verliert.
- Wenn bereits drei junge Frauen sichtbar sind, dann kommen eher weitere dazu.
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