Sie zieht den Reißverschluss ihrer Regenjacke bis unters Kinn. Im Spiegel betrachtet sie argwöhnisch ihr durch die Kapuze so unvorteilhaft eingerahmtes Gesicht. Die Mundwinkel neigen sich nach unten, der Gedanke an sechs Stunden Schule, in einer durchnässten Jeans, die den ganzen Vormittag an ihren Beinen kleben wird, lässt sie missmutig werden.
Überhaupt Schule.
Gestern war ein furchtbarer Tag.
Der neue Biologielehrer mit den Haaren auf den Fingern, vor denen es sie so ekelte, war wie immer am Anfang der Stunde durch die Klassenliste gegangen und hatte dann ausgerechnet ihren Namen aufgerufen. Kurz darauf stand sie dann vor der Klasse und versuchte verzweifelt, sich an das Thema der letzten Biologiestunde zu erinnern, zu dem Herr Kloson eine Frage nach der anderen stellte. Ihr Blick fiel immer wieder auf seine behaarten Finger, die ungeduldig auf das Klassenbuch klopften. Dünne braune Fäden auf kalkweißer Haut. Sie fragte sich, ob auch seine Zehen behaart waren und…
Da hat wohl jemand in der letzten Stunde wieder nur geträumt!
Sie zuckte zusammen. Selbst seine Stimme schien einer anderen Zeit zu entstammen, ebenso wie seine Unterrichtsmethoden. Die ersten Mitschüler lachten, froh, selbst nicht vor allen anderen stehen zu müssen und kein Wort herauszubekommen, aber nicht minder hämisch. Ihre Handinnenflächen füllten sich mit Schweiß, ihr Gesicht brannte, sie wusste, auch ohne einen Blick in den Spiegel, dass es bereits feuerrot leuchtete.
Mangelhaft. Du kannst dich setzen.
Biologie war eigentlich ihr Lieblingsfach gewesen, als am Schuljahresanfang die neuen Bücher verteilt wurden, war sie, kaum zuhause angekommen, auf ihr Zimmer verschwunden und hatte stundenlang im Biologiebuch gelesen. Bios logos, die Lehre des Lebens. Endlich ein wirklich interessantes Fach, sie hatte sich darauf gefreut.
Sie setzte sich auf ihren Stuhl. Spürte die Blicke im Rücken, das Gesicht immer noch brennend. Sie hasste das, jedes Mal, dieses peinliche Rotwerden, damit auch die in der letzten Reihe noch mitbekamen, wie unangenehm ihr das Reden vor vielen Menschen war. Besonders natürlich vor Robert. Sie mochte ihn, aber Robert mochte Anke und das war mehr als verständlich. Anke mit den großen braunen Augen und den glänzenden langen Haaren. Anke mit den zwei großen Brüdern und der daraus resultierenden großen Klappe.
Daneben sie. Straßenköterblond, sagte die Nachbarin, die ihr regelmäßig die Haare schief schnitt, aber angeblich gelernte Frisöse war. Und dann noch diese hässlichen grau-blauen Augen, nein, gegen Anke war sie ein Niemand.
Vor allem auch, was das Reden anging. In ihrem Kopf herrschte ständig wildes Geplapper, nur wenig davon kam jedoch in ihrem Mund an. Zu groß die Angst, man könnte sie wieder auslachen, dafür fanden die anderen immer einen Grund.
Ihre Stimme war zu tief, mit den kurzen Haaren und ihrer Figur sah sie aus wie ein Junge, ihre Finger sehen aus wie Spinnenbeine. Die Liste war lang.
Lasst die doch, die verbraucht auch nur Sauerstoff.
Als es nach der Schule klingelte und alle zur Tür hinaus drängten, spürte sie Tritte von hinten. Gelächter. Sie fühlte die Wut in sich aufsteigen, diese Wut, die immer häufiger plötzlich da und nicht aufzuhalten war. Ihre Fingernägel gruben sich in die Handinnenflächen, sie sah, dass Lutz sich über seine Tasche beugte und schlug zu. Einfach so, mit voller Wucht und geballter Faust. Als sie die anderen entsetzt um sich herum versammelt sah, ahnte sie, dass sie dabei laut geschrien hatte.
Jetzt dreht sie völlig durch.
Verächtliche Blicke. Lutz drehte sich zu ihr und lachte ihr ins Gesicht.
Schlagen kannst du also auch nicht.
Es regnet jetzt stärker. Sie steigt auf ihr Fahrrad, ihr Blick fällt auf den neuen Tachometer, den sie zum Geburtstag bekommen hat. Leider kann sie die Geschwindigkeit darauf nicht mehr ablesen, am zweiten Tag, nachdem sie damit in die Schule gefahren war, hatte jemand das Kabel durchgeschnitten. Der orangefarbene Zeiger bleibt vorwurfsvoll auf der Null liegen, egal wie sehr sie in die Pedale tritt.
Sie fühlt die Nässe und Kälte auf ihren Oberschenkeln, die Jeans klebt bereits an der Haut. Obwohl sie die Kapuze fest zugezogen hat, bahnt sich der Regen einen Weg hindurch und läuft eiskalt am Hals herunter. Im Gegensatz zum Regen fühlen sich ihre Tränen warm an.