Der Umgang der Gesellschaft mit Leid/Tod und der Zusammenhang, den ich zum aktuellen Geschehen sehe.

Als junge Ärztin gab es einen Moment, in dem mir (trotz streng katholischer Erziehung) erstmals richtig klar wurde, was der Tod bedeutet. Und was Sterben bedeutet. Ob man an Reinkarnation oder Auferstehung, Energiesublimation oder ein Nichts glaubt... es ist für ein Individuum der einschneidendste, endgültigste Prozess. Es ist beängstigend, kann aber auch erlösend sein.

Was sein wird? Wir wissen es nicht. (Lasst uns Religion da heraushalten, bitte!) Die wenigsten Menschen sterben leicht und ohne Schmerzen, oder gar gut "vorbereitet". Ob physisch oder psychisch. Es ist in den allermeisten Fällen eine leidhafte Angelegenheit, unterschiedlicher Dauer.

Als ich nun damals anfing meinen Kollegen Fragen zum Thema Sterben zu stellen, fiel mir auf: Kaum einer hatte sich damit je intensiv beschäftigt. "Man stirbt halt." "Am besten eine Pille und es ist vorbei". Der Freund/Kollege, mit dem ich am besten darüber reden konnte, ist übrigens Professor für Geriatrie geworden.
Die Betreuung sterbend Kranker (Palliative Therapie) und die der Angehörigen ist eine zeitintensive, in mehrerer Hinsicht anspruchsvolle Arbeit. Für die Pflege und die Ärzte. Sie ist häufig belastend, kräftezehrend und doch auch lehrreich.

Worauf will ich hinaus?

Tod, Sterben und Pflegebedürftigkeit sind in unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Sie finden meist in Krankenhäusern und Pflegeheimen statt. Pflegebedürftigkeit führt meist zu Vereinsamung. Gestorben wird immer seltener im Kreise der Angehörigen. Personal von Heimen und Krankenhäusern übernehmen häufig die Aufgabe des "Da seins", des Händehaltens und Beruhigens. Soweit es der Personalmangel erlaubt.

Das gesamte Thema ist nicht "gesellschaftsfähig". Das Leid wird ausgeblendet. Selbst unter uns Ärzten/Pflegenden. (Gewiss benötigen wir eine gewisse professionelle Distanz und für uns ist der Tod/Schmerz alltäglich. Aber wir sollten nie unser Mitgefühl und ein offenes Auge hinsichtlich des Leidens und unsere Fähigkeit zu helfen verlieren.)

Was jedoch durch die gesellschaftliche "Ächtung" des Themas geschieht, sehen wir an Impfgegnern, die keine Vorstellung mehr davon haben, wie leidvoll schwere "Kinderkrankheiten" sein können. Die nicht realisieren können, dass diese auch bei gesunden Kindern zum Tod führen können.

Wir sehen es an einer Bevölkerung, die nicht realisiert, was es bedeutet beatmet, an Maschinen hängend und ohne Verabschiedung von den Lieben zu sterben. Die nicht realisiert, dass solch eine Erkrankung auch für sie, in guter Gesundheit und relativ jungen Jahren, den Tod oder den Beginn einer Leidenszeit durch eine chronische Erkrankung bedeuten kann. Die keinen Blick dafür hat, dass der sorgfältig gespannte Rettungsschirm, der sie in Krankheit und Not auffängt, nicht unendlich ist. Die nicht sieht, welches Leid sie anderen Menschen aufbürden. Oder deren Angehörigen. An einer Bevölkerung, der Konsum und Freizeitvergnügen wichtiger als all das sind. Wichtiger auch als die Belastung, die ihr abgeschobenes Leid für diejenigen bedeutet, die es auffangen. Die Pfleger*innen und Ärzt*innen. Das Personal im Rettungsdienst.

Warum wir in Deutschland keine Bilder wie aus Italien aus den ICUs sehen? Wir haben vermutlich ein stabileres Gesundheitssystem als manche Nachbarländer. Aber auch, weil man das nicht sehen will in den Medien. Einige Berichte werden als Panikmache und Sensationsgier abgetan. Das tagtägliche Leid und Sterben interessiert schon länger nicht.

Krankheit und Kranke werden stigmatisiert und ausgegrenzt. Das auffangende Gesundheitssystem dennoch kaputt gespart. So klappt das alles nicht mehr. Mir ist klar, dass das Konzept "wir pflegen Oma daheim" meist nicht mehr realisierbar ist. Familie und Beruf binden genug Energie. (Ich könnte das zumindest nicht). Zudem ist häufig eine professionelle Pflege einfach auch besser (leider sehe ich das z.Z.). Aber kümmern kann man sich auch wenn eine Versorgung daheim nicht machbar ist. Aktuell bedeutet das "Sich-kümmern" leider gerade auf Abstand zu gehen. Abstand von der Oma, von der Tante, selbst von Eltern. Was ich mir für die Zeit nach der Pandemie aber wünsche, ist genau das Gegenteil. Eine Bevölkerung, die rücksichtsvoller mit Gesundheit/Leben und Würde anderer umgeht; die sich um ihre Schwachen kümmert. Die nicht ausblendet.

Wie ich gestern auf Twitter irgendwo gelesen habe:

"Du warst bei meinem ersten Atemzug dabei; ich bei deinem letzten."