Walter Benjamin (1892-1940) zählt zu den Säulenheiligen der Philosophie, auch wenn er zu Lebzeiten kaum etwas veröffentlichen konnte und er sich nur mühsam als Literaturkritiker über Wasser zu halten vermochte. Der aus Berlin stammende Benjamin scheiterte mit dem Versuch einer Habilitation, fand dadurch keinen Platz an einer Universität und führte ein Vagabundenleben mit Ausflügen unter anderem nach Capri, Paris und Moskau, und das alles endete mit Selbstmord, als sein Bemühen scheiterte, über die Pyrenäen nach Spanien zu fliehen und Nazi-Deutschland zu entkommen. Inzwischen kann man viele Biographien über den „polyzentrischen Denker“ und „schwer zu fassenden Menschen“ lesen, wie eine fast 1000 Seiten lange Darstellung des Lebens von „Walter Benjamin“ den Helden charakterisiert, um die Aufmerksamkeit von Lesern zu wecken. Und als vor kurzem in einem Bestseller „das große Jahrzehnt der Philosophie 1919-1929“ als „Zeit der Zauberer“ beschrieben wurde, gehörte Benjamin selbstverständlich mit zu dem erlesenen Kreis. Er hat nach dem Zweiten Weltkrieg in der alten Bundesrepublik die Rolle des literarisch versierten Meisterdenkers und Intellektuellen übernommen, von dem die Adornos, die nach ihm kamen, viel profitieren konnten, und die Verlage, die Benjamins Schriften im 21. Jahrhundert publizieren, bescheinigen ihm, dass Benjamins Miniaturen und Reflexionen „längst zum Kanon der Klassischen Moderne“ gehören. Aus den Werbeabteilungen tönt es, „in jedem Fragment spürt man dabei die Bedrohungen und Katastrophen der Zeit“ und zugleich „die tiefe Hoffnung, dass alles einmal anders und besser wird“.

Man bescheinigt Benjamin an vielen Stellen, er habe mit seinen „berühmten Denkbildern“ zu einem „tieferen Verständnis des 20. Jahrhunderts“ beigetragen, wobei man bevorzugt die knapp 100 Seiten mit kleinen Prosastücken meint, die 1928 als einziges literarisches Werk zu Benjamins Lebzeiten erschienen sind, und zwar unter dem Titel „Einbahnstraße“. Das Büchlein wird gerne mit dem Hinweis vermarket, Benjamin habe es nach einer „erotisch wie politisch intensiven Begegnung mit einer russischen Kommunistin“ geschrieben, und das macht potentielle Leser immer neugieriger. Es gibt von der „Einbahnstraße“ eine Ausgabe in der Reihe „Fischer Klassik“, und so investiert man voller Neugierde acht Euro in ein schlankes Taschenbuch, um zu sehen, ob sich mit seiner Hilfe ein Weg durch das thematische Dickicht im Denken des „Hommes des lettres“ finden lässt. Zwar wird in dem hin und her springenden Text mit aphoristischem Ehrgeiz nirgendwo klar, was mit der Einbahnstraße gemeint ist – wenn man von der kryptischen Notiz zu Beginn absieht, in der Benjamin seiner Geliebten Asja Lacis bescheinigt, im Autor etwas „durchgebrochen“ zu haben, so dass es nun mit ihm vorangehen kann –, aber immerhin fängt die Straße an einer „TANKSTELLE“ an und führt „ZUM PLANETARIUM“ hin, in dem die literarische Tour endet.

Zugegeben – es gibt unterwegs nette Sätzchen zu lesen – „Bücher und Dirnen kann man mit ins Bett nehmen“ oder „FÜR MÄNNER: Überzeugen ist unfruchtbar“ –, aber es gibt vor allem immer wieder allzu kernige Behauptungen, die Lesenden wuchtig an den Kopf geschmissen werden, ohne dass sie deshalb einleuchten. So meint Benjamin die „Arbeit an einer guten Prosa“ durch drei Stufen festlegen zu können, die er musikalisch, architektonisch und textil nennt, ohne dass man dieses Trio anschließend in den Texten der „Einbahnstraße“ ausmachen und auf der dazugehörigen Leiter hochsteigen könnte. Im Laufe der Lektüre nehmen nach und nach Ärger und Enttäuschung an den zwar als kanonisch gepriesenen, oftmals aber unnötig verdrehten und sich vielfach windenden Textpassagen zu, bis zuletzt im PLANETARIUM nur noch Unverständnis und Kopfschütteln übrigbleiben und Ärger hochkommt. Was Benjamin im Schlussabschnitt schreibt, ist vor allem ahnungsloser Unsinn und dummes Zeug, und historische Fakten interessieren ihn offenbar überhaupt nicht, wie im Folgenden ausgeführt wird.

Zur zeitlichen Einordnung ist dabei zu beachten, dass die 1928 erschienene „Einbahnstraße“ rund ein Jahrzehnt nach dem Aufstieg von Albert Einstein zum Popstar der Wissenschaft auf den Markt gekommen ist. 1919 konnten britische Physiker nachweisen, dass Einsteins abenteuerliche Ideen einer gekrümmten Raumzeit als Modell des Universums die kosmische Wirklichkeit wohl besser erfasste als die überlieferte Vorstellung einer euklidischen Geometrie und die Sterne am Himmel nicht dort zu finden waren, wo sie zu stehen schienen, weil sich das Licht im Weltall nicht gradlinig ausbreiten kann. Einstein war nicht nur Stadtgespräch in Berlin, er war ein Weltstar, das Publikum war wie im Rausch, das unter einem völlig neuen Himmel lebte, vor allem nachdem zu Beginn der 1920er Jahre noch der Nachweis geführt werden konnte, dass die Milchstraße nicht die einzige Galaxie des Universums ist, das zudem nicht statisch verharrt, sondern munter expandiert. In einem Planetarium war in den Jahren der Weimarer Republik die Hölle los, und was sollte einen Leser Benjamins dort anderes erwarten als eine brillante Erörterung dieser revolutionären Kosmologie mit ihren phantastischen Auswirkungen auf die menschlichen Denkmöglichkeiten? Gespannt arbeitet man sich die „Einbahnstraße“ entlang bis ZUM PLANETARIUM durch – und wird beim Eintritt bitter enttäuscht. Nicht nur findet man dort nichts von dem neuen Weltbild mit seiner dynamischen Geometrie einer vierdimensionalen Raumzeit, die schon erste Autoren von Science-Fiction faszinierte, Benjamin beschäftigt sich stattdessen mit alten Erfahrungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, und selbst die bekommt er nicht auf die Reihe. Er wirft Kepler zum Beispiel eine „ausschließlich … optische Verbundenheit mit dem Weltall“ vor und vermisst, dass der Astronom nicht „rauschhaft mit dem Kosmos … kommunizieren kann“. Benjamin hat offenbar keine Ahnung, welche religiösen Überzeugungen und Gefühle Kepler überhaupt dazu gebracht haben, das Kopernikanische Modell mit der Sonne im Zentrum und einer Trinität am Himmel zu akzeptieren, was den Mathematiker und Astronomen dann weiter unter größten Mühen die Abweichung der Marsbahn von einem Kreis und ihre Form als Ellipse berechnen ließ und ihn schließlich in eine heilige Ekstase versetzte, als er endlich die Gesetze der Planetenbewegung formulieren konnte und seinem Gott danken wollte. Benjamin interessiert das alles nicht, er hüpft besinnungslos und beliebig in seinem Planetarium umher und palavert plötzlich und unvermittelt etwas von Gasen, Menschenmassen und Hochfrequenzströmen, er schwafelt von Propellern, die in Meerestiefen brausen, und redet von unabsehbaren Fahrten, mit denen Menschen „in das Innere der Zeit“ kommen möchten. Er spricht einfach alles an, was ihm gerade so in den Sinn kommt und helfen könnte, ein paar Bemerkungen über „die Profitgier der herrschenden Klasse“ und „die Macht des Proletariats“ zu rechtfertigen und zu Papier zu bringen, während sich die russische Geliebte zwischen den Laken räkelt, um „den Taumel der Vernichtung … im Rausche der Zeugung“ zu überwinden. Damit schließt die „Einbahnstraße“. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Merkt denn niemand aus der heutigen Benjamin Gemeinde, dass der Kritiker auf seiner Einbahnstraße in eine Sackgasse geraten ist, in der die ihm nachfolgenden Gebildeten unter den Verächtern der Naturwissenschaften bis heute festsitzen, es sich bequem machen und nicht mehr herausfinden wollen? Hegel war der erste Philosoph, dem bereits im 19. Jahrhundert aufgefallen war, wie die Naturwissenschaften das Einsichtspotential der reinen Denker hinter sich ließen, und Heideggers Spruch „die Wissenschaft denkt nicht“, konnte nur schal wirken neben den erfolgreichen Bemühungen von Physikern, die zeigen konnten, dass Menschen im Innersten der Welt auf sich selbst trafen.

Als Benjamin auf seiner Einbahnstraße unterwegs war, fand die Wissenschaft erstmals Zugang sowohl zum Äußersten als auch zum Innersten der Welt. „Denen allein wird die Erde gehören, die aus den Kräften des Kosmos leben“, wie Benjamin beim Betreten des Planetariums einen Versuch zitiert, die philosophische Lehre der Antike in aller Kürze auszusprechen. Noch zu seinen Lebzeiten sollte sich zeigen, dass die Moderne sagen konnte, „Denen allein wird die Erde gehören, die aus den Kräften der Atome leben“. Der Philosoph hätte das wissen und über die Frage nachdenken können, ob die Menschen auf diesem Weg einer Einbahnstraße gefolgt sind. Benjamin ahnt etwas von einer zunehmend gefährlichen Naturbeherrschung und meint, die „Menschheit als Spezies“ stehe nicht „am Ende ihrer Entwicklung“, dafür aber „an deren Anfang.“ Der Mut, der dazu nötig und in dieser Lage gefragt ist, geht ihm und seinen Nachfolgern ab. Sie geben den Menschen keine Hoffnung, dass alles einmal anders und besser wird.

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