WAS NICHT IN DEN TWEET PASSTE:
Während meine spontane Mitschrift dieser bemerkenswerten mitmenschlichen Begegnung im alltäglichen Nebeneinander unerwartet viel Aufmerksamkeit bei Twitter erhielt, machte ich mir derweil unweigerlich meine eigenen weiteren Gedanken dazu.
Und »unweigerlich« ist hier wörtlich gemeint. Es war mir den Rest des gestrigen Tages praktisch unmöglich, nicht immer wieder an diese Frau und ihre spezielle Atemtechnik denken zu müssen.
Atem-Meditation gegen Corona.
Okay.

Atmen klingt ja prinzipiell erstmal nach einer guten Idee, selbst in Pandemiezeiten. Übertriebene Zurückhaltung wäre bei diesem Ansatz völlig unangebracht und möglicherweise mit unangenehmen Folgen behaftet.
Denkt man jedoch auch nur eine Sekunde über die von der Dame angedeutete Prämisse und ihre im Subtext unterschwellig erkennbare, möglicherweise dahinter stehende Überzeugung nach, offenbaren sich im Detail schnell einige gravierende logische Schwächen.
Dafür muss man nicht Virologin oder Virologe sein, weder professionell noch als Freizeit-Passion, man muss weder Medizin noch BWL studiert haben oder gar von Corona betroffen sein, eigentlich muss man nur Grundlagen-Biologie verstanden und/oder die letzten zwei Jahre Pandemie mitgemacht haben.
Und da wir alle in den letzten zwei Jahren genug mit der Pandemie mitgemacht haben, ist ohnehin jeder in irgendeiner Art betroffen. Auch ohne positiven Schnelltest oder Schlimmeres.

Eine erste spontane Reaktion auf solch eine kundgetane Überzeugung fällt dem zu Folge so leicht, wie sie einfach ausfällt.
Es ist leicht, daran zu zweifeln, ungläubig zu staunen, darüber zu verzweifeln, zu lachen, sich lustig zu machen, bei der Vorstellung frustriert, ärgerlich, wütend oder sogar aggressiv zu reagieren oder als letztes Mittel einfach nur mit den Schultern zu zucken, den Kopf zu schütteln und zu resignieren.

Alles davon hat seine eigene Berechtigung.
Keine der oben aufgeführten Reaktionen hat etwas mit Überheblichkeit, Hohn oder echter Aktiv-Agressivität zu tun, wenn man unversehens mit einem solchen respiratorischen Nonsens konfrontiert wird.
Nach zwei Jahren Pandemie mit ungezählten Erkrankten, unübersehbaren Toten, massivsten Einschränkungen im Alltag, rund-um-die-Uhr-Berichterstattung mit gebetsmühlenartiger Aufklärung, dem großflächigen Bemühen der Bevölkerung, innerhalb ihrer Möglichkeiten eigenverantwortlich zu handeln, dem parallel dazu wiederkehrenden Vollversagen unserer Politik und der medial wie auch vis-à-vis allgegenwärtig ansteigenden Konfrontation mit Querdenkern, Corona-Leugnern, Impfgegnern und ihren scheinbar allgegenwärtigen Gallionsfiguren, selbsternannten Führern, Untergrundkämpfern oder heilbringenen Lichtgestalten, ob sie nun esoterisch weichgespült, besorgtbürgerlich resolut, sektenartig verschworen überzeugt, unverholen aggresiv bis hin zu tödlich gewalttätig oder einfach nur dumm und ängstlich sind; wird man nur lange und oft genug mit diesen verschiedenen Typen der Realitätsverweigerer und Querschiesser konfrontiert und zerschellt an ihren Mauern ihrer unbeirrbaren inneren Logik, geht jede obiger Reaktionen problemlos als Reflex durch.
Aber, dass diese Reaktionen so leicht zuzulassen sind und jede auf ihre Art ihre Berechtigung hat, bedeutet nicht, dass sie auch richtig sind.

Das in den sozialen wie asozialen Medien präsentierte Abbild der mittlerweile typisch wirkenden Impfsketptiker, Impfgegnger und Querdenker ist nun wirklich kein sympathisches. Und dabei zu allem Überfluss leider so oft so wahr.
Fast jeder hat heute mindestens einen Vertreter der ach so unbelehrbaren, aber doch so ausschlaggebenden Minderheit der Bevölkerung in der Nachbarschaft, auf der Arbeit, im Freundes- oder Bekanntenkreis oder im schlimmsten Fall in der Familie und kann sich inzwischen selbst ein Bild von den fernen Ufern machen, an denen der Gegenüber geistig verschwindet, wenn das Gespräch auf DAS THEMA kommt.
Und wer keinen persönlich kennt, kann sie im Fernsehen und in den sozialen Medien in all ihren Spielarten und auf allen Klaviaturen gespielt aus sicherer Entfernung studieren. Nötigenfalls in Dauerwiederholung.
Es gibt kurze und lange Interviews mit prominenten und unprominenten Impfskeptikern, Interview-Schnipsel mit und ohne Kontext, Befragungen auf der Strasse, faselnde Fachesoteriker, krisenprofitierende Parteivertreter und schwadronierende Schwurbler.
Und wem sie im Detail zu sehr unter die Haut oder auf die Hirnrinde gehen, kann sie inzwischen immer öfter in bewegten Bildern ihrer scheinbar stetig anwachsenden Massenzusammenkünfte bei der zumeist ungeregelten Ausübung ihrer im Grundgesetz verankerten Rechte auf Versammlungs-, Rede- und Meinungsfreiheit beobachten, ohne dass sie jemand trotz aller Verstöße gegen geltende staatlichen Auflagen groß daran hindern würde. Als Diktatur ist unsere Bundesrepublik wirklich das reinste Entwicklungsland.
Da marschieren sie nun, auf ihren "Spaziergängen" oder sogar ordentlich angemeldeteten Demonstrationen. Singend, lautstark oder angespannt, mit selbstgemalten medizinischen Theorien, »DAGEGEN!« Schildern oder agressiver Klage über den Untergang der deutschen Demokratie zu Füßen eines aufblühenden Polizeistaates.

Rosenquarz kauende Ganzheitlichkeitsvertreter,  Doppelbuggy schiebende Paarungen im Jack Wolfskin Partneroutfit, wütend mit schwer verständlichem regionalen Urdialekt am Strassenrand vor sich hin brabbelnde Rentner, Handwerker und Zimmermädchen, Hobby-Virologen, studierte und unstudierte Professoren, Selfies machende Polizistinnen und Polizisten, Autoren und Autorinnen, Janas, die extra aus Kassel angereist sind, Flugblattdrucker und Untergangspropheten, Alkoholiker und Drogengegner, selbsternannte Enthüllungsjournalisten und was weiß ich nicht noch alles. Praktisch alle Bevölkerungsschichten und Berufsgruppen sind vorhanden. Vertreter der medizinischen Pflegkräfte und seriös praktizierenden Ärzteschaft sieht man zugegebenermaßen eher selten. Woran das wohl liegen mag? Vielleicht, weil sie rund um die Uhr für uns alle weit über ihre körperlichen und seelischen Belastungsgrenzen arbeiten?
Ich vermute andere Gründe.

Und sie alle verweigern und fordern, mäandern und marschieren, dramatisieren und drohen Seite an Seite und oft auch Hand in Hand mit offen rechten Personen, Gruppen, Gruppierungen, Vereinen und Verbänden, während die AfD im Hintergrund im selbsternannten Oberhaus thront und sich als parlarmentarischer Arm des Rechtsextremismus für die geistige und moralische Unterschicht immer öffentlichkeitswirksamer zur Partei der Impfgegner hochstilisiert.
Und vor dieser Kulisse soll man ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Gegenseite haben.

Puh.

Und wem das völlig zu Recht alles zu ernst ist und zu bedrohlich erscheint, der kann sich im Internet zur Ablenkung über zahllose Screenshots aus Telegram und Whats App Gruppen wundern, beömmeln und auslassen, in denen freidrehende Querdenker Selbstheilungsanleitungen und die leckersten Rezeptideen für Pferdewurmkuren austauschen, sich gegenseitig Tipps geben, wie man eine Impf-Ansteckung durch Impflinge vermeiden kann, vor impfenden Gulli-Guerillas und Impfhubschraubern auf Demos warnen, immer wieder den baldigen Tod aller Impflinge datieren, im Wechsel mit dem Termin für die längst überfällige Revolution, oder besorgt verunsichert in die Weite des Netzes fragen, ob jemand weiß, woran es liegen könnte, dass Ungeimpfte häufiger schwere Verläufe haben.
Manche Auszüge sind so bizarr, dass es längst unmöglich ist, die Realität von der Satire zu unterscheiden. Und umgekehrt.
Tja nun. Lachen soll ja gesund sein.

Und doch.
Es ist, als würde man einer intellektuellen Massenkarambolage mit über 100.000 Toten unter Beteiligten und Unbeteiligten in Zeitlupe zusehen.
Aber wegsehen können wir nicht, ganz gleich, wie sehr uns das Grauen packt.
Aber warum?
Weil uns diese Menschen nicht egal sind.

Rechtes Gesinnungsgesindel muss man leider in 9 von 10 Fällen verloren geben. Der entmenschlichte Irrsinn, die tiefverwurzelte Ablehnung und der fanatische Extremismus dieser Gestalten kennt in der Regel weder gut Zureden noch schlüssige Argumentation. Die wenigen, die es aus diesen Schleifen und Kreisen heraus schaffen, tun das meistens durch eigene Erkenntnis im Alleingang.

Aber was da jetzt in ihrem Kielwasser mitschwimmmt, paddelt und manchmal mitgerissen wird, sind überwiegend ganz normale Menschen. Manche verwirrt, verzweifelt oder verdummt, andere gründlich selbstinformiert, völlig überzeugt oder ehrlich verängstigt, verdrossen, verloren oder nicht selten alles zusammen. Es sind Partnerinnen und Partner, Eltern, Schwestern, Brüder, Söhne und Töchter von jemandem. Es sind Nachbarn, Arbeitskollegen, Bekannte und Freunde. Wenn nicht von uns selbst, dann doch sicher von irgendjemand anderem. Und es fällt uns einfach schwer, diese Menschen aufzugeben. Und das nicht nur, weil ihre Ablehnung gegen die Impfung und ihr Verhalten im sozialen Miteinander entscheidend zum weiteren Verlauf der Pandemie beiträgt. Sondern, weil sie unsere Mitmenschen sind und wir sie uns nicht egal sein lassen können, so sehr wir es vielleicht auch manchmal wollen.

Deswegen versuchen wir sie zu verstehen. Immer und immer wieder, in allen Farben des Regenbogens, ganz gleich, wie krude ihre Theorien und Ängste uns erscheinen mögen oder wie sehr sie uns ängstigen. Wir wollen verstehen und einen Weg finden, diese Menschen zu erreichen. Wir versuchen, sie zu verstehen. Bis zur totalen Übersättigung, bis es uns schwarz und rot vor Augen wird und wir schier verzweifelt resignieren. Man weiß nicht mehr, ob man lachen oder weinen soll.

Was hier so ausschweifend in aller Kürze gesagt werden sollte:
Wie auch immer Sie auf die Anti-Corona-Atem-Meditations-Theorie der Dame reagiert haben mögen, ich verstehe Sie. Und mich auch.
Aber, wie ich oben bereits anmerkte, verständliche Reaktion bedeutet in diesem Fall nicht gleich richtige Reaktion.

Tatsächlich weiß ich über diese Frau kaum mehr als Sie. Also praktisch nichts.
Ich weiß nicht, ob sie Impfskeptikerin, Impfgegnerin, Querdenkerin, Esotherikerin oder nichts von alledem ist. Vielleicht bringen diese Leute sie genau so zur Verzweiflung wie Sie und mich. Vielleicht ist sie ja doppelt oder sogar dreifach geimpft, trägt beim Pendeln und in geschlossenen Räumen gewissenhaft Maske und reduziert ihre persönlichen Kontakte ebenfalls seit zwei Jahren auf das Minimum. Vielleicht bedeutet diese mutmaßlich berufliche Fahrt einen unglaublichen Stress für sie, weil sie trotz aller Vorkehrungen Angst vor einer Ansteckung hat, möglicherweise wegen einer Vorerkrankung. Vielleicht muss sie die nächsten zwei Stunden in diesem Zug verbringen und bekommt schon nach 30 Minuten unter der Maske Beklemmungen. Und wird sie trotzdem aufsetzen. Vielleicht befolgt sie gewissenhaft alle Empfehlungen und Vorschriften, aber braucht diese Atem-Meditation einfach zu ihrer eigenen Beruhigung. Weil sie nunmal auch daran glaubt. Oder es ihr einfach hilft.
Ich weiß es nicht. Und Sie ebenso wenig.

Was ich aber weiß, ist, dass es mir herzlich egal ist, woran diese Frau, Sie oder sonst jemand glaubt. So lange er sich nicht auf eine Weise verhält, die in dieser schwierigen Lage auf Kosten aller geht, kann sich jeder in diesen schweren Zeiten helfen, wie es ihm am besten hilft. Diese Pandemie hat weit mehr Betroffene, als irgendeine Satistik jemals erfassen könnte und mehr nachwirkende Symptome, als irgendeine Krankenkasse jemals als Folgeschäden anzuerkennen bereit wäre.
Wir versuchen alle, möglichst unbeschadet durch diese Zeit zu kommen. Und jedem von uns hilft etwas anderes. Der eine kauft online ein, die andere trinkt öfter als ihr lieb ist, einer isst zu viel oder zu oft, manche drehen ihre Wohnung auf links, lesen exzessiv, gucken pausenlos Serien, schreiben zu viele Tweets, machen Yoga, graben sich zu hause ein oder suchen Halt im Kreise ihrer Lieben. Und wir alle versuchen uns gegenseitig immer wieder auf´s Neue glaubhaft zu versichern, dass das alles irgendwann ein Ende haben kann. Haben wird.

Was auch immer irgendjemand tut, um diese Tortour durchzustehen ist mir recht, so lange er dabei niemandem Schaden zufügt oder sich so verhält, dass er andere vorsätzlich gefährdet. Wer bin ich, darüber zu urteilen, ganz gleich, wie rat- oder fassungslos mich vielleicht manches im ersten Moment macht?
Wir dürfen über die medienwirksamen Bilder und O-Töne der verschwurbelsten aller Schwurbler nie vergessen, dass auch ganz normale und verantwortungsbewusste Mitmenschen oft verzweifelt nach einem Halt in dieser Zeit suchen. Vielleicht müssen wir alle unseren Weg finden, den Druck der Pandemie wegzuatmen. Ebenso wie manche Bilder und Äußerungen der Unbelehrbaren. Einfach wegatmen. Denn dazwischen gibt es noch immer Menschen die es besser wissen oder zumindest gerne besser wüssten. Und denen müssen wir die Hand reichen.

Ich weiß nichts über diese Frau. Nur, dass sie freundlich war, weder ablehnend, noch belehrend, noch aggressiv auf meine Nachfrage regiert hat, sondern im Gegenteil erfreut schien, dass sich jemand nach ihrem Wohlbefinden erkundigte und dass sie mich förmlich angestrahlt hat, als sie mir erklärte was sie da zu welchen Zweck macht.
Wenn sie glauben möchte, dass eine spezielle Atemtechnik sie zusätzlich vor Viren schützt, darf sie das ruhig. Ganz gleich, wie hahnebüchen diese Vorstellung auch ist. So lange sie sich nicht nur darauf verlässt.
Ich weiß, dass ich ihr ebenso wie Ihnen und mir alles Gute wünsche, bis diese Pandemie durchgestanden ist und dass ich hoffe, dass sie geimpft ist. Ebenso wie ich und hoffentlich auch Sie und Ihre Lieben.
Denn Impfen rettet Leben.
Nicht nur das eigene.

Gehaben Sie sich wohl.

Ihr,
Herr Balsam


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Und wenn nicht, dann auch. Oder andersherum.
Ganz wie Sie möchten, das hier ist ein freies Land.

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Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Faschist Björn Höcke bei jeder sich bietenden Gelegenheit als eben solcher benannt werden muss.

#TausendMalGesagt

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