Mein Leben ist ein Traum.
Nein, wirklich.

Meine Entscheidung, die zweite Hälfte meines Lebens schreibend und auf Bühnen verbringen zu wollen, statt damit, Arbeiten für andere Leute zu verrichten, bedeutet einen enormen Gewinn für mich.
Also, vielleicht jetzt nicht unbedingt Gewinn im Sinne addierbarer Zahlen.
Das bisher eher nicht. Mehr so allgemein.
Mein Lohn ist ein besseres Lebensgefühl. Und ein besseres Lebensgefühl ist etwas, das zumindest ich dieser Tage dringend brauche.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen da geht.
Ist nicht schön, was man da draußen sieht, wenn man denn hinschaut, oder?
Ich weiß, einfach nicht hinschauen, dann sieht man nichts, aber das ist gar nicht so einfach. Das mit dem Nichthinschauen, meine ich.

Auf der Straße wie in der Politik fallen die Masken, manche gehen lautstark spazieren, händchenhaltend mit solchen, die mit im Geist gehobenem Arm marschieren, andere heben die Waffen und jeden Tag sterben Menschen.
Viele haben weniger als sie brauchen und wenige haben viel mehr.
Die, die verzichten könnten, wollen meist nicht, und die, die verzichten wollen würden, können oft nicht, müssen aber am Ende meistens doch.
Die einen müssen um das bangen, was sie brauchen, andere horten, was sie zu brauchen glauben, und wieder andere sind gezwungen, das verteidigen, was sie haben, gegen solche, die sich selbst das Recht zusprechen, sich das zu nehmen, was sie gern hätten.
Alles wird immer billiger, kostet uns dafür aber mehr.
Auch die Ausreden unserer Politiker.
Und die Temperatur steigt. Nicht nur global gesehen.

Jedenfalls wollte ich in diesem Klima lieber versuchen, etwas für mich Sinnstiftendes mit meiner verbleibenden Lebenszeit anzufangen, statt an 5 Tagen der Woche um 6.00 Uhr aufzustehen und Arbeiten zu verrichten, mit denen ich gerade genug Geld verdiene, mir ein Zuhause leisten zu können, in dem ich mich an zwei Tagen der Woche mit Hilfe von billig produzierten Konsumgütern davon zu erholen versuche, meinem Chef die Anschaffung eines neuen SUVs zu ermöglichen, der leistungsstark genug für seinen neuen, größeren Bootsanhänger ist, den er kaufen musste, weil der alte ärgerlicherweise zu klein für sein neues Boot ist.
Ich weiß.
Es ist tragisch.
Manche Menschen haben es wirklich nicht leicht.

Aber ich schweife ab.

Manchmal muss man eben etwas aus seinem Leben entfernen, damit das Gefühl der Leere verschwindet. In meinem Fall war es ein geregeltes Einkommen.
Und bezahlte Rechnungen sind meiner Meinung nach ohnehin überbewertet. Ebenso wie tägliche warme Mahlzeiten.
Hauptsache, die Haustür schließt.
Und neben einigen anderen Vorzügen lernt mal als Kunstschaffender immer wieder neue, interessante Leute kennen. Nicht nur hinter der Bühne.

So sitze ich neulich zum Beispiel an meinem Schreibtisch und lebe mit knurrendem Magen meinen Traum, als es an der Tür klingelt. Da ich allein zu Hause bin, weder Besuch noch gute Nachrichten erwarte und nicht das geringste Bedürfnis verspüre, den Gang meiner Gedanken zu verlassen, entschließe ich mich, das Geräusch kurzerhand zu ignorieren.
Was nicht ganz einfach ist, da das Drücken unseres Klingelknopfes eine aus dem Plastikkasten unserer Türsprechanlage scheppernde atonale Tonfolge auslöst, die mutmaßlich eine Melodie der klassischen Musik nachahmen soll und pro Klingelknopf drücken etwa eine Minute andauert. In der Lautstärke einer Feuersirene.
Es ist uns in den vier Jahren seit unseres Einzugs trotz intensiver Bemühungen bisher nicht gelungen, herauszufinden, wie man dieses Geplärre um, aus oder wenigstens leiser stellen kann, was jeden unangekündigten Besuch von der ersten Sekunde an zu einem köstlichen Vergnügen macht.

Nachdem fast drei Minuten des ohrenbetäubenden Lärms vergangen sind, frage ich mich, wer da so dringlich Einlass in unser Refugium begehrt, dass er oder sie sich genötigt sieht, mit solcher Penetranz zu klingeln, obwohl sich doch ganz offensichtlich niemand in der Wohnung befindet, der die Tür zu öffnen bereit ist. Als die vierte Minute beginnt, ringe ich mich schließlich dazu durch, mal nachzusehen. Und sei es, damit der Lärm aufhört.
An der Tür angekommen drücke ich den Knopf der Sprechanlage, worauf das akustische Inferno gnädigerweise augenblicklich verstummt.
»Ja, bitte?« frage ich den Plastikkasten.
»Ich komme vom Netzbetreiber.« quakt der Plastikkasten zurück, »Ich soll den Zähler abklemmen.«
»Ach, das.« sage ich. »Moment, bitte.«

Da ich mit den meisten Vertretern dieses speziellen Berufszweiges gute Erfahrungen gemacht habe, setze ich mir eine Maske auf und öffne die Tür. In der Regel sind sie sehr nett und lassen mit sich reden.
In diesem Fall steht ein Mann mittleren Alters vor mir. Er trägt ein Klemmbrett in der Hand, einen plastikgefassten Ausweis auf seinem grobkarierten Hemd und einen kleinkarierten Gesichtsausdruck auf seinem Gesicht, dessen Nase über der Maske hängt. Gleich vom Fleck weg sympathisch.

»Guten Tag,« begrüsse ich ihn freundlich, »bitte kommen Sie doch rein.«
»Ich komme vom Netzbetreiber.« wiederholt er sich streng, »Ich soll den Zähler abklemmen.«
»Gas?« frage ich, als er im Flur zum Stehen kommt.
»Nee,« sagt er, »Strom.«
»Schade, « sage ich, »Gas wär mir lieber gewesen.«
Der Nasenmann schaut mich verständnislos an.
»Das hätte ich dann wenigstens als Teil der Sanktionen gegen Putin und Verzicht zu Gunsten des Klimas verbuchen können.« erkläre ich ihm. »Geht nicht vielleicht doch Gas?«
»Nee, « antwortet er etwas verwirrt, »ich mach nur Strom.«
»Schade.« sage ich.

Einige Sekunden betretenen Schweigens verstreichen.

»Und?« fragt er, »Wie wollen wir´s machen?«
»Nun, « sage ich, »wenn Sie die Freundlichkeit hätten, auf Ihrem Laufzettel zu vermerken, dass Sie niemanden angetroffen haben, verschafft mir das zwei bis drei Wochen, bevor ich ihr erneutes  Kommen schriftlich angekündigt bekomme. Bei diesem Termin treffen Sie mich dann zwar an, ich verweigere Ihnen jedoch den Zutritt, was mir weiterte zwei bis drei Wochen verschafft, bevor ich Post vom Gerichtsvollzieher bekomme, der mir einen verbindlichen Termin zur Sperrung der Zähler mitteilt. Das verschafft mir insgesamt etwa acht weitere Wochen, um das Geld für die ausstehenden Zahlungen zu verdienen, was mir in der Regel ausreicht.«
Er zieht die Augenbrauen hoch. »Sie kennen sich aber gut aus.«
Ich zucke mit den Schultern. »Tja nun.«

»Nee.« sagt er dann.
»Wie, nee?« frage ich.
»Kann ich nicht machen.« sagt er.
»Wieso nicht?« frage ich.
»Ich hab Sie ja angetroffen.« sagt er.
»Schon,« wende ich ein, »aber ja auch nur, weil Sie so penetrant vor sich hingeklingelt haben.«
»Das stimmt.« sagt er in einem Tonfall, als wäre das etwas, worauf er stolz sein könnte.
»Na schön,« seufze ich, »dann notieren Sie bitte, dass ich Ihnen den Zutritt zur Wohnung verweigert habe. Das verschafft mir zumindest weitere drei bis vier Wochen.«
»Nee.« sagt er.
»Wie, nee?« frage ich.
»Kann ich nicht machen.« sagt er.
»Wieso das nicht?« frage ich, ahne die Antwort aber bereits.
»Sie haben mich ja reingelassen.« sagt er.
»Ich bin eben ein höflicher Mensch,« sage ich, »und draußen regnet es schließlich!«
»Tja nun.« antwortet er und schaut mich mit einem Blick an der sagt:  »Jetzt bin ich drin, was soll man machen?«
»Na schön,« resigniere ich hörbar »dann eben so.«
Ich öffne die Tür unseres Hauswirtschaftsraumes.
»Bitte, « sage ich, »der Stromzähler ist da drin.«
Er tritt mit einem Grunzen durch die Tür, die ich direkt hinter ihm wieder schließe, um mir das Elend nicht mit ansehen zu müssen.

Nun ist es so, dass trotz meiner Verwendung des Wortes „Hauswirtschaftsraum“ der Begriff im Kontext unserer Wohnung eher irreführend ist.
Zwar befinden sich dort neben einem kleinen Regal mit Einmachgläsern, an deren Datumsetiketten sich sehr schön der Verlauf der verschiedenen Pandemiewellen rekonstruieren lässt, auch diverse Anschlüsse und Zähler, jedoch handelt es sich eher um eine Art Abstellkammer, deren bescheidene Grundfläche von 80 mal 80 Zentimeter fast vollständig mit Altpapier, Altglas und dem Staubsauger vollgestellt ist. Hätte ich dem guten Mann die Tür nicht kräftig ins Kreuz gedrückt, hätte er das Kämmerchen wahrscheinlich kaum betreten können. Aber man hilft ja, wo man kann.
Ich höre es im Innern scheppern, verbunden mit einigen überraschten Lautäußerungen.

Möglicherweise irritiert ihn die Tatsache, dass die Abseite nicht nur sehr klein sondern auch fensterlos ist und dies noch durch das vollständige Fehlen einer elektrischen Lichtquelle unterstreicht.
Ich bezweifle jedoch, dass die lichtlose Umgebung die Arbeit des Mannes behindern wird, da er dort ohnehin auch bei guter Beleuchtung zwar Wasserhaupthahn, Wasseruhren und Gaszähler vorfinden könnte, nicht jedoch den Stromzähler.
Der ist woanders.
Ich schließe ab, hole einen Stuhl aus dem Wohnzimmer, den ich unter die Klinke klemme, ermahne ihn noch: »Gehen Sie mir nicht ans Eingemachte!« und gehe in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen, da ich keinerlei Drang verspüre, mir sein Gezeter mit anzuhören. Hinter mir beginnt mein Gast gegen die Tür zu bollern.

Als ich mit meinem Kaffee wieder an meinem Schreibtisch sitze, stelle ich erfreut fest, dass sich das Geboller deutlich besser ausblenden lässt als unsere Türklingel und meine Produktivität nur unmerklich beeinträchtigt. Ich schreibe zwei weitere Seiten, beantworte einige E-Mails, führe ein paar Telefonate, pflege meinen Terminkalender, schneide ein Auftrittsvideo und lese Wikipedia zu Ende.
Irgendwann fällt mir auf, dass die Hintergrundgeräusche schon seit einer Weile verstummt sind und ich beschließe, mal nachzusehen, ob er inzwischen gar ist.

Vor der Tür der Abstellkammer angekommen lausche ich. Von drinnen ist nur noch ein schwaches Kratzen zu vernehmen.
Ich klopfe höflich an.
„HALLO?!“ höre ich von drinnen.
»Hallo!« antworte ich gut gelaunt. »Und? Wie wollen wir´s machen?«
»Wie wäre es,« fragt er, »wenn ich notiere, dass ich Sie nicht angetroffen habe?«
»Das wäre wirklich überaus freundlich von Ihnen!« sage ich, ziehe den Stuhl weg und schließe auf.
Mein Gast stolpert blinzelnd und etwas desorientiert aus der Abstellkammer und beeilt sich dann ohne ein weiteres Wort durch die bereits von mir geöffnete Haustür zu entschwinden.
»Danke für Ihren Besuch!« rufe ich ihm hinterher. »Wir sehen uns dann in drei bis vier Wochen. Also, vielleicht.«
Ich schließe die Haustür und bringe den Stuhl zurück ins Wohnzimmer.
Als ich mich gerade wieder an den Schreibtisch setzen will, klingelt es erneut.
Was will er denn jetzt noch? denke ich, gehe zur Haustür und öffne.
Draußen steht zu meiner Überraschung eine mir unbekannte Frau und lächelt mich über ihre Maske hinweg mit den Augen an.
»Guten Tag,« sagt sie freundlich,»ich komme vom Netzbetreiber, ich soll den Zähler sperren.«
»Ach, das.« sage ich. »Bitte kommen Sie doch rein.«

»Gas?« frage ich drinnen.
»Ja, leider.« nickt sie.
»Der Zähler ist da drin.« sage ich und deute mit der Hand auf die Badezimmertür.
»Gehen Sie schon mal rein, ich hol nur schnell den Stuhl.«
Ich ignoriere ihren fragenden Blick und schlurfe müde ins Wohnzimmer.
»Ein Traum.« denke ich.
»Das Leben ist ein Traum.«


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Bleiben Sie stabil.

Mit Grüßen, Ihr


Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass der Faschist Björn Höcke bei jeder sich bietenden Gelegenheit als eben solcher benannt werden muss.
#TausendMalGesagt

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