von Amrei Bahr und Kristin Eichhorn

Die vierte Welle hat Deutschland voll im Griff. Es ist absehbar, dass Einschränkungen lediglich für Ungeimpfte nicht ausreichen werden, um den Anstieg der Infektionen zu bremsen und die Lage wieder halbwegs kontrollierbar zu machen. Bei einer konsequenten Einführung von 2G zu einem früheren Zeitpunkt sähe die Lage vermutlich sehr viel weniger beunruhigend aus. Jetzt aber mehren sich die Stimmen, die Kontakteinschränkungen für alle fordern – einschließlich derer, die bereits geimpft sind und auch sonst die bestehenden Regeln eingehalten haben.

Damit ist die Gerechtigkeitsfrage entbrannt: Warum soll ich mich jetzt wieder (weiter) einschränken, wenn doch andere ihren Beitrag noch nicht geleistet haben? Habe ich nicht lange genug verzichtet und darf mir jetzt wieder etwas mehr erlauben? Sind nicht meine Kontakte besonders wichtig (ein Argument, dass dieser Tage vor allem mit Blick auf Hochschullehre in Präsenz immer wieder zu hören und zu lesen ist) – sind jetzt nicht erst einmal andere Bereiche dran, sich einzuschränken? So einleuchtend und nachvollziehbar die dahinter stehende Frustration ist und so plausibel die Argumente auf den ersten Blick erscheinen mögen: Angesichts der sich immer weiter zuspitzenden gegenwärtigen Lage sind sie nicht stichhaltig.

Ja, es ist ungerecht, dass sich Geimpfte, die sich früh an alle Maßnahmen gehalten und aus Solidarität monatelang freiwillig zurückgenommen haben, jetzt ebenfalls wieder einschränken müssen, weil andere ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht annähernd im gleichen Maß nachgekommen sind. Die damit verbundenen Gefühle haben ihre Berechtigung. Unser Handeln dürfen sie dennoch nicht bestimmen. Denn was moralisches Handeln in dieser vierten Welle bedeutet, hängt nicht davon ab, was die anderen tun oder unterlassen. Es ist schlicht für alle von uns geboten, unser jeweils Möglichstes zu tun, um die Welle einzudämmen. Dies gilt nicht weniger, wenn wir zuvor schon lange vernünftig gehandelt haben, und selbst dann, wenn wir in absehbarer Zeit keine Belohnung für die eigene Mühen erhalten werden. Die Öffnungsversprechungen der Politik haben hier zu stark auf extrinsische Motivation gesetzt – darauf, dass Menschen eine Zeitlang auf etwas verzichten, um es später wieder bekommen zu können. Die Diskussion um Weihnachtsmärke, Karneval und Ähnliches trägt überdeutlich die Züge dieser Logik. Man hat ein Jahr lang verzichtet und glaubt, sich damit einen Anspruch darauf erworben zu haben, zum alten Leben zurückzukehren – unabhängig davon, ob das angesichts der Pandemielage vertretbar erscheint.

Die Wahrheit aber ist: Es gibt keinen Anspruch darauf, zur alten gewohnten Normalität zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückkehren zu können. Manche Dinge werden vielleicht nie wieder kommen. Wer weiß, ob nicht im Anschluss an die Pandemie die nächste anders geartete Krise kommt, die diesen Schritt erneut unterbindet? (Der Klimawandel lässt hier Beunruhigendes vermuten.) Diese Erfahrung von Kontingenz mag viele verständlicherweise erschüttern: Nichts ist auf Dauer sicher, uns kann immer etwas widerfahren, das den Status quo gefährdet – egal, wie gut wir uns in der Vergangenheit verhalten haben. Eine auf Gerechtigkeit ausgelegte Politik kann und sollte versuchen, hier entsprechende Stabilität zu schaffen und diejenigen zu entlasten, die eine besonders schwere Bürde tragen. Aber wir müssen damit umgehen können, wenn sie es nicht tut oder nicht beeinflussbare Ereignisse ihr einen Strich durch die Rechnung machen. Auch politisches Versagen berechtigt uns nicht dazu, die Ungerechtigkeit, dass unserem vorbildlichen Verhalten zum Trotz die Pandemie weiterhin wütet und auch uns hart trifft, dadurch zu kompensieren, dass wir der Gesellschaft unsere Kooperation bei der Eindämmung der Pandemie aufkündigen.

Ist vernünftiges Handeln also wertlos? Haben wir Vernünftigen uns nicht den Weihnachtsmarkt endlich mal wieder verdient? Wer so argumentiert, sollte das eigene Verständnis von Moral besser noch einmal kritisch überdenken. Denn Moral gründet nicht darauf, das Richtige zu tun, um dafür einen Anspruch auf spätere Kompensation zu erwerben. Moralisch handeln in der vierten Welle heißt weiterhin, das zu tun, was im Sinne des Gemeinwohls geboten ist – und zwar auch dann, wenn der eigene Anteil an der Eindämmung der Pandemie den anderer weit übersteigt.