Es war die Wahl eines Querkopfes, ohne Zweifel. Eines Populisten, der es versteht auf der Klaviatur des Politisierens von links bis rechts zu spielen. Er kann auf "Ich bin einer von euch" machen und "kleine" Leute ebenso gewinnen, wie er den ewiggestrigen Besitzstandswahrern das Gefühl vermittelt: Eure Werte bzw. "Werte" sind bei mir gut aufgehoben. Er besucht wiederholt radikal-evangelikale und homophobe Gruppierungen ebenso wie er die Unterstützung örtlicher Humanisten bzw. "Humanisten" gewinnen konnte.

In der Tat: Boris Palmer vermochte Menschen hinter sich zu einen. Immerhin etwas mehr als die Hälfte derer, die zur Wahl gingen. Ob das noch Demokratie ist oder schon Populismus, das sollen Politik-Wissenschaftler untersuchen.

Palmer und seine Wähler müssen auch ausgebuht werden dürfen: Was bei der AfD recht und billig ist, muss auch bei Palmer gelten.

Und holzschnittartig skizziert: Es war die Wahl eines Mannes, die durch überwiegend alte, weiße, privilegierte Besitzstandswahrer erfolgte: Während beispielsweise das Team der sozial-demokratischen Kandidatin jung war und dynamisch und aus neuen Gesichtern bestand, waren die Palmer-Befürworter das Tübinger Establishment: Und das ist überwiegend das, was die Grünen-Politikerin Sarah-Lee Heinrich "weiße Mehrheitsgesellschaft" nennt: Privilegiert, nicht bereit zu verzichten weder auf das fette Haus im Grünen noch auf Flugreisen oder den Benz vor der Tür (Verzichten, das sollen gefälligst andere tun!). Grün wird gewählt, weil es dem Gewissen guttut.

Auf den Wahlplakaten und am Wahl-Abend in der Palmer-Fankurve das gleiche Bild: Alte, weiße Männer und Frauen, verbeamtete Lehrer, Ärzte, die weitab von der versifften Innenstadt Hanglage Talblick wohnen. Führende Köpfe der Stadtwerke und der städtischen Wohnungsgesellschaften, die trotz der Krisen keine Kurz-Arbeit kennenlernen mussten, sogar Erhöhungen ihrer Bezüge mitnahmen, ihnen allen geht es gut. Und: Sie fürchten den Wechsel, denn der Wechsel hätte sozial werden können und dies bedeutet, der Wechsel hätte sie in die Verantwortung nehmen können. Etwa durch Deckelung der Vorstandsgehälter bei allen städtischen Gesellschaften, eine Erhöhung der Grundsteuer, wenn sie ein Häusle besitzen, aber nicht vermieten. Oder durch Nullrunden bei den städtischen Gesellschaften, durch Streichung der Sitzungsgelder dort oder in anderen Gremien. Denn schließlich sitzen wir doch in dieser Krise alle blablabla in einem Boot, heißt es. Nur dass Palmer dafür gesorgt hat, dass es den ohnehin Privilegierten weiterhin gut und immer besser geht. Ich weiß, ich bin hier auf verlorenem, sozial-reformerischem Posten.

Ein Kollege ging am Abend vor der Wahl davon aus, dass Palmer mit 60+ Stimmen OB bliebe. Nun hat Palmer nur etwas mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhalten. Ganz so schlimm steht es folglich nicht um die Mentalität. Tübingen ist nicht Hoyerswerda! Es waren nicht die Abgehängten und Verzweifelten, die den Populisten gewählt haben, es waren Überzeugungstäter: Make Tübingen Great Again light. Mit Stimmen derer, die sonst CDU, FW oder AfD wählten, konnte sich der Unverantwortliche im Amt halten – denn grüne und sozialdemokratische Stimmen gingen ja wohl an die beiden Kandidatinnen.

Und nun ist er halt erst mal da, der Mann mit dem schlechten Stil, der es nicht verträgt, wenn er diesen Stil gespiegelt bekommt: Der Wahlabend verging nicht ohne Buh-Rufe. Drei Hotspots gab es: Das antifaschistische Spektrum buhte von hinten, es gab einen Kreis um SPDler und Jusos, aus deren Ecke Palmer ausgebuht wurde und aus der Mitte der Schaulustigen wurden gebuht, gepfiffen und "Schande! Schande!" gerufen.

Palmer rückte alle Kritiker pauschal in die Schmuddelecke der Trump-Anhänger: Der Streit sei beigelegt und das bedeute, "dass nicht Menschen auf das Kapitol stürmen". Das ist natürlich rhetorisch geschickt und fast schon göbbelesk! Aber mal im Ernst: Die Jusos und die Antifa ist, unterstützt vom SPD-Stammtisch, auf das Kapitol gestürmt? Really?! Palmer ist lost.

Er selbst wolle aber weiterhin "streitbar" bleiben. Quod licet Iovi, non licet bovi. Klar, was Sonnenkönig Palmer darf, darf der Pöbel noch lange nicht.

"Mit Boris Palmer hat Deutschland jetzt den ersten AfD Oberbürgermeister. Traurig!", schrieb der Grünen-Politiker Vasili Franco am Tag nach der Wahl auf Twitter.

Es palmert munter weiter. Dass Palmer nichts zu ändern gedenkt an seiner von den Tübinger Grünen kritisierten Rambo-Mentalität, hat er am Wahl-Abend allzu deutlich gemacht:

Auf die einzige(!) kritische Frage von SWR-Moderator Florian Buchmaier an den alten neuen OB, ob er denn seinen "Stil" zu ändern gedenke, entgegnete Palmer schroff: Ändern Sie "den Stil Ihrer Fragen." ( https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/ob-wahl-tuebingen-wahlabend-106.html )

Palmer ist lost. Lost in narcism. Da freut man sich, dass nach fast zwei Stunden Schönfärberei bzw. beharrlichem Verschweigen des Elefanten im Raum (Rassismus-Vorwürfe) durch den örtlichen SWR endlich ein Journalist – und dann auch noch vom öffentlich-rechtlichen Funk – Palmer kritisch nach seinem Stil befragt. Palmer nutzt es, um zu zeigen, wer der Sonnenkönig ist.

Und es wird weiter gepalmert. So rechnete er am Abend die Stimmen der grünen Kandidatin den Seinen zu und verkündete, er sei von über 70% der Wählenden im Amt bestätigt worden. Man blättert inzwischen bei Palmers Äußerungen erwartungsvoll in der ICD-10, ob er nicht etwa schon im Fallbuch als Beispiel zu finden sei ....

Die  Law-und-Order-Gehabe Palmers, seine geradezu verschwörungstheoretischen Spinnereien, in dem Autokennzeichen mit "8888" eines Tübinger Anbieters von Kultur-Reisen einen "Nazi-Code" zu erblicken, die Vorschläge, Menschen von Leistungen des Sozialstaates auszuschließen, weil sie willentlich das System zu sehr belasten würden, dazu seine öffentliche Zurschaustellung von Menschen, nur weil diese eine andere Hautfarbe haben, die pauschale Verunglimpfung unbescholtener Bürgerinnen und Bürger der Stadt, das alles wiegt schwer und spricht dafür, dass es eine Instanz geben muss - neben Wahlen – so jemanden schnell und zügig, so es sein muss, auf die Strafbank zu setzen.

"Mit Boris Palmer hat Deutschland jetzt den ersten AfD Oberbürgermeister. Traurig!", schrieb der Grünen-Politiker Vasili Franco am Tag nach der Wahl auf Twitter.

Man mag das Statement von Franco für überzogen halten, aber man versteht, was gemeint ist und seufzt.

Anders gesprochen: Jemand der droht, ausgrenzt, diskriminiert, einstige Unterstützerinnen mitten auf dem Marktplatz anfährt, so jemand kann noch so schön Kommunal-Politik machen, dennoch muss er von allen Demokraten dafür kritisiert und auch ausgebuht werden dürfen: Was bei der AfD recht und billig ist, muss auch bei Palmer gelten. 🤷🏼

Man könnte auch noch an die Causa Kemmerich erinnern, denn bei einer derartig hohen Wahlbeteiligung in Tübingen ist davon auszugehen, dass Palmer auch mit Stimmen der AfD und von Law-and-Order-CDULern gewählt worden ist ..... Hat Scholz schon gefordert, die Wahl rückgängig zu machen? 🤭

Im Ernst. Es ist durchaus denkbar, das in Stadtteile mit mehr "kleinen" Leuten diese den "starken Mann" gewählt haben, der ihnen kurze Zeit vor der Wahl die faulen Flüchtlinge als Sündenbock angeboten hatte – und nicht etwa sein eigenes Versagen bei der Entlastung der Bürgerinnen und Bürger oder das Versagen in Berlin.

Und: Gastronomen und Läden, die schon länger (vor 2020) und nach Kassenlage (de facto) insolvent sind, erhielten Geldgeschenke der Stadt – so "bindet" man natürlich auch Wähler an sich. Vor allem, wenn Palmer selbst im Laden steht und Geldgeschenke zusagt.

Und dann sind da noch die, die die Grünen im Bund doof finden und sich freuen, dass Palmer den Grünen "eine Klatsche" erteilt habe. (Sie finden derartige Artikel.) Ähm, nein, Ihr Grünenhasser: Nicht immer ist „der Feind meines Feindes“, der vermeintliche, mein Freund.

Fazit und Ausblick:

67,2% der Wahlberechtigten wählten Palmer NICHT. Er konnte knapp über 50% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen – er erhielt trotz höherer Wahlbeteiligung 10 Punkte weniger als in 2014. Und knapp 44% derer, die gewählt haben, gaben ihm seine Stimme nicht. Das muss man anerkennen.

Und da geht er hin, rechnet sich die Prozente hoch und haut als erstes Statement in die Kameras raus, er werde seinen Stil nicht ändern. Hätte Orban das gesagt oder der andere Boris jenseits des Kanals, bei denen wäre das "Populismus", "Egomanie", "politischer Autismus" genannt worden.

Ich sehe es sehr einfach: Palmer ist einfach nur lost.

Und, das ist kein Geheimnis, narzisstisch gestört: Keine Silbe, dass er verbinden, dass er einen will, dass er etwa Fehler wiedergutmachen möchte. Palmer ist sich selbst genug, übernimmt keinerlei Verantwortung für die ihm anvertraute Stadt und die Menschen. Nur dann wendet er sich ihnen zu, wenn es ihm nützt. Palmer, ein brandgefährlicher Ego-Populist.

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