Verbale Erniedrigungen und vermeintlich witzige Sticheleien sind einfach, aber Empathie und Überzeugungskraft sind besser.

Es gibt eine Geschichte über Jeff Bezos aus seiner Zeit als kleiner Junge. Er war bei seinen Großeltern, die beide Raucher waren. Bezos hatte kürzlich im Radio eine Anti-Raucher-Kampagne gehört, die erklärte, wie viel Lebenszeit jede Zigarette einem Raucher nimmt. Und so setzte er seine mathematisches Können und dieses neue Wissen ein und erklärte stolz seiner rauchenden Großmutter vom Rücksitz aus: "Du hast neun Jahre deines Lebens verloren, Oma!"

Die typische Reaktion auf diese Art von argloser Frechheit ist, dem Kind einen Klaps auf die Stirn zu geben und ihm zu sagen, wie intelligent es doch ist. Bezos' Großmutter hat das nicht getan. Stattdessen brach sie in Tränen aus. Nach diesem Gespräch nahm Bezos' Großvater seinen Enkel beiseite und lehrte ihm eine Lektion, von der er sagt, dass er sie für den Rest seines Lebens behalten hat. "Jeff", sagte sein Großvater, "eines Tages wirst du verstehen, dass es schwerer ist, freundlich zu sein als klug zu sein."

Manche mögen sagen, dass der junge Bezos nichts falsch gemacht hat. Es sind nur Fakten, und die Wahrheit tut weh. Wie sonst soll jemand den Ernst dessen erkennen, was er sich selbst antut? Da ist etwas dran, aber es zeigt eine gefährliche Annahme auf, die wir heute verinnerlicht haben: Dass Recht zu haben eine Lizenz ist, ein totales Arschloch zu sein. Warum solltest du schließlich etwas bereuen, wenn du nichts falsches gesagt hast? Manche sagen, es gibt keinen Grund, sich um die Gefühle anderer zu kümmern, wenn die Fakten auf deiner Seite sind.

140 Zeichen lassen nicht viel Raum für Freundlichkeit. Und der Wunsch nach viralem Teilen erhöht die Bereitschaft zu aggressiven, vereinfachenden Argumenten.

Die Ursachen für die Verbreitung dieser Einstellung in unserer Kultur sind vielfältig. Da wir polarisierter und mehr von Algorithmen geprägt sind, kümmern wir uns viel weniger um die Menschen, die anders denken als wir und geben uns wenig Mühe, sie zu überzeugen. Denn Überzeugung ist nicht mehr das Ziel - sondern "Signaling" ist es. Und beim Signaling kommt es auf die Stärke an, nicht auf die Qualität. Die sozialen Medien reduzieren auch den Raum für jede Nuance oder Einschränkung, die du anbieten möchtest; 140 Zeichen oder sogar 240 lassen nicht viel Raum für Demut oder Freundlichkeit. Und der Wunsch nach viralem Teilen erhöht die Notwendigkeit aggressiver, vereinfachender Argumente.

Diese gefühllose Call-Out-Kultur hat beide Seiten des politischen Spektrums vollständig infiziert; normale Menschen und Experten mit gleicher Schärfe korrumpiert.

Die Donald Trumps und Stephen Millers der Welt scheinen zu denken, dass für die Entlarvung linker Heuchelei keine persönliche Attacke zu schade ist und es keine Grenzen gibt; und wenn sie dabei Linke verärgert, dann umso besser. Politische Korrektheit ist zu einem solchen Problem geworden, sagen sie, dass die einzige Lösung eine unverblümte, gnadenlose Ehrlichkeit ist. In der Zwischenzeit versorgen die John Olivers und Daily Show-Moderatoren der Welt das Publikum der linken Blogosphäre mit Clips, in denen sie Menschen auf der rechten Seite zerstören, grillen und kaputt machen. (Jon Stewart hat Tucker Carlson 2004 auf Crossfire "zur Strecke gebracht".) Es ist zu einem Wettkampf geworden, zu sehen, wer in einer Schlagzeile grausamer oder gemeiner sein kann: "Ist Jordan Peterson der Schlaue unter den Dummen?" und "Demokraten verhätscheln Ilhan Omar, als wäre sie ein idiotisches Kind, genau wie Republikaner es mit Trump machen." Moderatoren wissen, dass eine wirklich gute Beleidigung oder Erniedrigung ihnen am nächsten Tag Online-Ruhm bringt; so wie Athleten wissen, dass ein großartiger Dunk sie auf YouTube - oder Sports-Twitter - bringen wird.


Das Absurde ist, dass die politische Korrektheit ein echtes Problem ist. Ich habe schon mal darüber geschrieben. Keine Gesellschaft kann erfolgreich sein, wenn sie vor unbequemen Wahrheiten davonläuft oder diese leugnet. Und nur weil eine Tatsache unangenehm ist, bedeutet das nicht, dass sie beleidigend ist. Dieses Spiel, bei dem wir beleidigt sind - oft im Voraus - im Namen anderer marginalisierter Gruppen, ist völlig absurd geworden. Eine weiße Frau kann kein Bild von Emmett Till malen. Kleine Mädchen können sich nicht als ihre Lieblingsprinzessin verkleiden. Eine TV-Show muss eine Figur loswerden, die seit fast 30 Jahren in der Show ist. Junge Schriftsteller werden aus dem Weg geräumt, weil sie nicht passen.

Anti-Intellektualität ist auch ein echtes Problem. Wir sollten uns Sorgen über den Verlust von Fachwissen machen. Wie wir zu einem Thema stehen, ändert nichts an den grundlegenden Fakten oder Daten. Jeder dritte Amerikaner weiß nicht, wer der Vizepräsident ist, jeder Dritte findet den Pazifischen Ozean nicht auf der Karte, und mehr als jeder Dritte kann kein einziges Recht benennen, das durch das First-Amendment geschützt ist. Nicht zu lesen ist keine Auszeichnung. Leute denken, dass es ein Argument gegen den Klimawandel ist, einen Schneeball in den Senat mitzubringen. Es gibt Politiker, die denken, dass Vergewaltigungsopfer nicht schwanger werden können. Doch Schreien, herablassendes Verhalten oder "Trolling" wird all das nicht ändern. Das hat es nie und wird es auch nie.

Ich dachte, wenn ich nur immer Recht hätte, könnte ich die Leute dazu bringen, zuzuhören.

Wenn ich auf einige meiner eigenen Artikel zurückblicke, sehe ich einen ähnlichen Fehler, wie ihn auch Jeff Bezos als Kind gemacht hat. Ich ging davon aus, dass, wenn ich nur immer Recht hätte, mir alle Leute zuhören würden. Wenn ich meine Widersacher erniedrigen würde, müsste man mir Recht geben und ihnen Unrecht. In Interviews habe ich sogar gesagt, dass das Ziel meines ersten Buches sei, aufzudecken, wie Medien wirklich funktionieren, um dies den Menschen vor Augen zu halten. Aber weißt du was? Meine Leser haben ihr Verhalten trotzdem nicht geändert. Natürlich haben sie das nicht. Ich hatte Recht, aber ich war gleichzeitig auch ein Arschloch.

Tatsächlich ist der größte Teil meiner Artikel, auf die ich jetzt zurückblicke und auch bedaure, durch einen ähnlichen Tonfall geprägt. Ein Tonfall von viel zu viel Überlegenheit und Gewissheit und nicht annähernd genug intellektueller Demut oder Empathie. Das ist etwas, dessen ich mich immer wieder beim Schreiben schuldig gemacht habe und was ich auch wieder tun werde - denn es ist so viel einfacher, rechthaberisch und neunmalklug zu sein, als nuanciert und nett.

Man kann ein Beispiel dieser Art in vielen Medien sehen, die sich populistischer Politik widersetzen (links und rechts). Es gibt diese unerschütterliche Vorstellung, dass, wenn sie nur die korrekten Fakten liefern, - wenn sie zweifellos beweisen können, dass Donald Trump ein Lügner ist oder Alexandria Ocasio-Cortez eine Marxistin - Menschen ihre Meinung ändern werden. Wenn sie dir einfach die richtige Studie zeigen, die beweist, dass es keinen Zusammenhang zwischen Impfstoffen und Autismus gibt oder, dass der Planet wärmer wird, dann müsste man kurz innehalten und dann zugeben: "Okay, das war dumm. Ich liege falsch. Ich stimme dir jetzt zu." Und wenn das nicht geschieht, dann beginnt das Anschwärzen, Erniedrigungen und persönliche Angriffe: "Ich habe dir die Studie gezeigt. Sie ist von Harvard. Was willst du noch, du Vollidiot?" "Sieh den Tatsachen ins Auge, du Kommunist!"

Nachdem wir Jahre und Millionen von Wörtern und Videostunden mit einer solchen Strategie verbracht haben, hat sie dennoch nichts gebracht. Warum? Weil man Leute nicht aus ihren Meinungen heraus argumentieren kann, in die sie sich nicht selbst hinein argumentiert haben. Niemand reagiert gut darauf, wenn er seine Identität angegriffen fühlt. Kein Argument, das mit böser Absicht geäußert wird - dass der Andere ein Idiot, Betrüger, Rassist oder ein Weichei ist - wird jemals in guter Absicht empfangen werden.

Der Grund ist einfach. Recht zu haben ist einfach. Jemanden zurecht zu weisen auch. Aber sich in die Lage anderer zu versetzen, sie dorthin zu "nudgen", wo sie sein sollten, zu verstehen, dass sie emotionale und irrationale Überzeugungen haben, genau wie du emotionale und irrationale Überzeugungen hast - das ist alles viel schwieriger. Schwer ist auch, andere Menschen nicht abzuschreiben. Und auch, sich mit den eigenen Vorurteilen und Meinungen auseinanderzusetzen, als mit denen anderer. Wir wissen, dass wir selbst nicht darauf reagieren, wenn uns jemand rechthaberisch oder belehrend gegenüber tritt, aber denken, es ist in Ordnung, es anderen gegenüber zu tun.

Es gibt einen großartiges Video von Joe Rogan während der Einwanderungskrise in den USA im vergangenen Jahr. Er argumentiert nicht mit Fakten, ob Einwanderung ein Problem ist oder nicht. Er greift niemanden auf beiden Seiten der Meinungen an. Er spricht nur darüber, wie es sich für ihn anfühlt, eine Mutter nach ihrem Kind schreien zu hören, von dem sie getrennt wurde. Das Video wurde millionenfach gesehen und hat zweifellos die Denkweisen von mehr Menschen verändert als eine Zwangspause der Regierung, als die Streitereien und Auseinandersetzungen im Fernsehen, oder als zahllose Blog- und Zeitungs-Artikel.

Rogan sagt niemandem, was er denken soll. (Ironischerweise wurde das Video jedoch von vielen missbraucht, die versuchten, es parteiisch zu machen). Er sagt nur, wenn man kein Einfühlungsvermögen für diese Mutter und ihre Schmerzen hat, ist man auf der falschen Seite. Das ist die richtige Art, damit umzugehen.

Wenn du nicht freundlich sein kannst, wenn du dich nicht einfühlen kannst, dann bist du nicht in unserem Team. Dieses Team ist das Team Menschlichkeit, in dem wir alle gemeinsam sind. Wo wir alle fehlerhaft und unvollkommen sind. Wo wir den Standpunkt anderer Menschen genauso wohlwollend betrachten wie unseren eigenen. Wo wir zivilisiert und respektvoll und vor allem freundlich zueinander sind - besonders gegenüber weniger Privilegierten, sich irrenden und Verängstigten.


Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt. Das Original kann hier nachgelesen werden:

It’s Not Enough to Be Right—You Also Have to Be Kind
Being right—and even having facts and data to support it—will never be as persuasive as kindness.