Im Zusammenhang mit der "VUCA"-Welt, die den Zustand der aktuellen Entwicklungen in der Welt beschreibt, wird häufig davon gesprochen, dass wir jetzt anpassungsfähiger werden müssen (VUCA steht für Volatil, Uncertain, Complex, Ambigiuous). Und das gelte sowohl für Individuen als auch für Organisationen. Aber mit unserer Anpassungsfähigkeit ist alles in Ordnung - und sie kann mit den aktuellen Entwicklungen locker mithalten. Warum wir trotzdem das Gefühl haben, dass alles immer noch schneller geht, wir gestresst sind und scheinbar oft "den Anschluss verlieren", liegt an einem anderen Grund: Unsere mangelnde Transferleistung. Hier möchte ich erklären, was ich damit meine und wie wir sie besser einsetzen können.

Ein Abbild der Welt in deinem Gehirn

Hast du dich schon mal gefragt, wie deine Wahrnehmung der Welt eigentlich zustande kommt, obwohl es in deinem Gehirn ja mucksmäuschenstill und dunkel ist - und eigentlich nur elektrische Impulse und Hormone/Botenstoffe gibt? Trotzdem kannst du diesen Text lesen - und dich gleichzeitig wundern, dass das ja eigentlich sehr erstaunlich ist. Und das obwohl all diese Wahrnehmung nur die Summe aus aktivierten Neuronen ist, die je nach Sinneseindruck in einem bestimmten Muster "aufleuchten". Jedes Mal wenn ich mir darüber Gedanken mache, versinke ich in einer Welle der tiefen Faszination für diese unglaubliche Meisterleistung der Evolution. Aber, dafür haben wir jetzt keine Zeit, wir dürfen ja nicht die VUCA-Welt da draußen vergessen. Wichtig für den Moment ist nur, dass unser Gehirn im Laufe der Zeit so genannte Mentale Repräsentationen der Außenwelt entwickelt. Das beginnt bei sehr einfachem visuellen Input wie beispielsweise Punkte oder Linien und geht sogar bis hin zu ganzen Situationen (wobei der Nachweis von Repräsentationen von Situationen sehr schwierig ist - Punkte und Linien hingegen kann man sehr gut nachweisen). Das heißt, jedes Mal, wenn die Signale der Sinnesorgane in einem bestimmten Muster am Gehirn ankommen, wird die Mentale Repräsentation aktiviert - und das Gehirn sagt z.B. "grüne Bank", oder "Beethoven's Neunte".

Gute Repräsentationen machen unser Verhalten erfolgreich

Zum Zeitpunkt unserer Geburt ist unsere Festplatte leer. Unser Neokortex (das ist der Teil des Gehirns, in dem die Repräsentationen abgebildet werden) ist im Prinzip nur ein (zugegeben sehr großer) Haufen Neuronen, die teilweise fest mit der Außenwelt (Sinnesorgane) und teilweise fest - aber größtenteils flexibel - untereinander verbunden sind. Und jetzt kommt eine ganz wichtige Tatsache: Was das Gehirn erlebt und beobachtet, formt es. Es bilden sich Repräsentationen der Dinge, die ich erlebe - so wie ich sie erlebe. Dabei spielt es keine Rolle, ob meine Wahrnehmung real ist; ob also meine Wahrnehmung der tatsächlichen Realität entspricht. Mein subjektives Empfinden bestimmt mein Erlebnis, das Erlebnis bestimmt die Repräsentation im Gehirn. Daraus ergibt sich der wichtigste Zusammenhang, um den es in diesem Artikel geht:

Repräsentationen der Welt und des Körpers sind in unserem Gehirn nicht einfach nur so vorhanden, sondern haben im Grunde nur einen einzigen Zweck: Sie steuern unser Verhalten und machen dieses damit um so erfolgreicher, je besser sie dem, was tatsächlich in der Welt ist,    nahekommen [1]

Was auf den ersten Blick sehr logisch klingt, ist allerdings in der Praxis extrem schwierig umzusetzen. Denn unsere Wahrnehmung hat natürlich immer eine subjektive Einfärbung, insbesondere wenn wir schon viel erlebt haben. Und wenn man sich einmal überlegt, dass nur 1 in 48.000 (!) Nervenzellen in unserem Körper uns über die Außenwelt informiert [2] - und der Rest sich auf die wenigen Signale von außen verlassen muss, muss man sich eigentlich wundern, dass wir überhaupt etwas von außen mitbekommen.

Aber, wir merken uns, dass je besser die Repräsentationen in unserem Gehirn der Realität entsprechen, desto größer sind unsere Chancen, erfolgreich zu handeln.

Aus Repräsentationen werden Vorhersagen

Eine weitere, wichtige Eigenschaft des Gehirns brauchen wir noch. Denn gerade weil der Kanal der Wahrnehmung von außen so schmal ist, arbeitet unser Gehirn andauernd mit Vorhersagen - die wiederum auf den existierenden Repräsentationen basieren. Und das gilt für alle Sinneseindrücke gleichermaßen. Stell dir vor, du suchst in einer ziemlich voll gepackten Tasche nach deinem Handy. Du sprichst aber gerade mit jemandem, möchtest also nicht unhöflich sein und deinen Blick nicht abwenden. Also musst du dich ganz auf deinen Tastsinn verlassen. Sobald du "Handy" denkst, stellt dir dein Gehirn ein Erlebnisrepertoire basierend auf den bisherigen Erlebnissen bereit. Du weißt schon, wie sich der Gegenstand in deiner Hand anfühlen muss, damit du ihn einigermaßen sicher als Handy erkennen kannst. Und dabei spielt es keine Rolle, ob du es an der Ecke, auf der Rückseite oder am Bildschirm berührst [3]. Und gleichermaßen wirst du all die anderen Gegenstände in deiner Tasche als "Nicht-Handy" erkennen, ohne dass du sie herausnimmst oder lange mit deinen Fingern untersuchst.

Ein Spiel zwischen Repräsentation, Vorhersage und Erlebnis

Mit diesen beiden Eigenschaften unserer Wahrnehmung ausgerüstet, die ich jetzt zugegeben möglichst vereinfacht dargestellt habe, können wir uns trotzdem einige Phänomene unseres Alltags erklären. Und im Grunde läuft jeder Moment unseres Lebens so ab - das was wir letztlich wahrnehmen, ist oft nur noch der Unterschied zwischen Vorhersage und Erlebnis. Wenn sich beide ganz deutlich unterscheiden, werden wir überrascht. Denn dann müssen wir uns die Frage stellen, ob unsere Repräsentation mittlerweile vielleicht gar nicht mehr stimmt. Sollten sich also die Ereignisse häufen, in denen meine Repräsentation als falsch erkannt werden, wird das Gehirn anfangen, die Repräsentation anzupassen. Je nachdem, ob daran nur die Verbindungen zwischen Neuronen (Synapsen) oder die Neuronen selbst beteiligt sind, dauert eine solche Anpassung entweder Stunden oder Wochen bis Monate [1].

Was ist an der VUCA-Welt anders?

Egal ob man den Begriff mag oder nicht, eine Tatsache ist tatsächlich nachweisbar: Wir befinden uns in einer Zeit der exponentiellen Entwicklungen. Das bedeutet, dass sich die Dinge so rasant ändern, dass man mit einer linearen Herangehensweise keine treffenden Vorhersagen mehr machen kann. Und leider basieren die Vorhersagen unseres Gehirns auf genau einer solchen linearen Extrapolation. Ich verbinde also gedanklich zwei Punkte in der Vergangenheit und ziehe die Linie weiter in die Zukunft. In einer Zeit der exponentiellen Entwicklung werde ich mit dieser Vorhersage ziemlich sicher falsch liegen. Welche Chancen haben wir aber dennoch, in Zeiten wie diesen nicht total kalt erwischt zu werden?

Wir müssen herausfinden, was die Musik mit uns anstellt

Bei all den Quellen die ich bisher verwendet habe, wird dir die kommende etwas komisch vorkommen: Ein Gespräch zwischen Pharrell Williams und Rick Rubin, zwei absoluten Größen der amerikanischen Musikbranche. Eine Aussage von Pharrell hat sich bei mir festgesetzt:

There's a whole university of science between what's being played and what you're hearing. So you're analyzing yourself as much as the music. Because if you don't - you're not getting the proper assessment of what's happening (...) If I can't see how I feel about it - then it's just music. [4]

Im Prinzip geht es uns doch genau so: Wir werden tagtäglich mit Informationen bombardiert. Klimawandel hier, politische Krise da, Handelsstreit und Unruhen usw. Das ist unsere "Musik". Doch wir hören sie nur - wir nehmen uns selten die Zeit und versuchen, die Informationen in unser System einzusortieren - und insbesondere zu spüren, wie sich das für uns anfühlt.

Das heißt, das mittlerweile sogar die Flut an Informationen Teil unserer Vorhersage geworden ist. Es ist absolut normal, Schreckensmeldungen über das Klima und Wetterextreme zu hören. Auch bei innovativen Entwicklungen aus dem In- und Ausland hören wir nicht genau hin - sondern es gehört ja auch zur Tagesordnung. Das heißt, wir haben uns voll an die Situation angepasst, ohne in sie einzugreifen. Teilweise werden wir sogar davon gelähmt.

Transferleistung - fangen wir bei den Fakten an

Wir haben aber die Chance, das zu ändern. Dafür brauchen wir aber weniger - und nicht mehr. Dafür brauchen wir insbesondere Ruhe - und Zeit nachzudenken. Nimm dir doch mal eine Erkenntnis der letzten Jahre vor, z.B. dass die Arbeitswelt immer stressiger wird. Dass die WHO mittlerweile Stress als "größte gesundheitliche Gefahr des 21. Jahrhunderts" bezeichnet. Nimm diese Erkenntnis/diesen Fakt und füttere dein eigenes neuronales Netz damit - was stellt das mit dir an? Wo fühlst du dich bestätigt? Was siehst du für Handlungsmöglichkeiten? Wie kannst du ganz persönlich und ganz individuell damit umgehen? Dabei wirst du zuerst auf sehr viele Widerstände, Hindernisse und Begrenzungen stoßen: "Ich muss doch arbeiten, hab ein Haus abzubezahlen und eine Familie zu ernähren."

Wo kannst du dennoch anfangen, etwas an deiner eigenen Situation zu ändern? Welche deiner eigenen Ressourcen kannst du dafür nutzen? Das sind die Ansätze, die wir brauchen. Wir haben uns mittlerweile sogar an die Denkweise gewöhnt, dass unsere großen Organisationen "Tanker" sind, die sich schwer bewegen lassen. Ist das wirklich die Realität? Ich meine wirklich, wirklich?

Wenn wir anfangen, unsere Lösungen ausgehend von dem zu gestalten, was wirklich Realität ist, kann es uns gelingen auch in der VUCA-Welt zu bestehen. Dafür müssen wir lernen, die wirklich relevanten Informationen von dem Grundrauschen zu unterscheiden - und uns die Zeit nehmen, sie in unserem Kontext einzusortieren.

Quellen:

[1] Manfred Spitzer, Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens

[2] Moshé Feldenkrais, Die Entdeckung des Selbstverständlichen

[3] Anders Ericsson, Peak: Secrets from the new science of Expertise

[4] https://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=PnahkJevp64


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https://www.linkedin.com/pulse/es-scheitert-nicht-der-anpassung-sondern-am-transfer-jaksch/