Die Zukunft der Geschichte. Eine Kolumne von Jürgen Zimmerer

Ob die globale Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus, die verheerenden Waldbrände in Australien, Brasilien und Kalifornien oder die rassistischen Morde an George Floyd und anderen in den USA sowie die Reaktionen darauf im Rahmen der „Black Lives Matter“-Bewegung - drei der bestimmenden Themen des vergangenen Jahres stehen nicht nur für Konflikte der Gegenwart und eine bedrohte und bedrohliche Zukunft, für tektonische Verschiebungen innerhalb des globalen Systems, sondern erzwingen auch eine kritische Analyse der Vergangenheit.

Alle drei, ein Wirtschaften, das die Grundlagen unserer Erde zerstört, eine rassistische Gesellschaft, in der als fremd markierte Menschenleben offenbar weniger zählen, und ein global vernetztes System, in der nicht nur Menschen und Güter, sondern auch Krankheitserreger zirkulieren, sind zutiefst mit der Geschichte Europas und des europäischen Kolonialismus verbunden.

Rassismus heute wurzelt im Kolonialismus

Zum kolonialen Erbe gehört dabei auch, dass die verheerendsten Auswirkungen gar nicht in Europa selbst zu verspüren sind, sondern außerhalb. Selbst der vor einigen Wochen zu beobachtende 'Sturm' eines überwiegend weißen rassistischen Mobs auf das Kapitol in Washington wurzelt in dieser Geschichte, in dem Gefühl, die eigenen Privilegien der Siedlergesellschaft zu Recht zu besitzen, bei wachsender Angst, diese zu verlieren.

Dass nicht nur Menschen und Güter zirkulieren, sondern auch Viren, ist ebenso eine Folge der europäischen Expansion wie die Verbreitung einer kapitalistischen Wirtschaftsform, die nicht nur auf Privatkapital und -besitz setzt, sondern auch auf Verschwendung und Raubbau.

Die Globalisierung, deren Schattenseiten nun auch immer mehr Menschen des Globalen Nordens, darunter auch wir Europäerinnen und Europäer, erfahren, besitzt eine Geschichte: den europäischen Kolonialismus. Diese Geschichte muss man kennen, will man die historische Umbruchsphase verstehen, in der wir uns befinden: den Übergang von der kolonialen zur postkolonialen Globalisierung.

Europa ist nicht mehr das Zentrum der Welt

Dominierten Europa oder einzelne europäische Staaten das sich seit dem 15. Jahrhundert ausbildende Weltsystem, so kam es im 20. Jahrhundert zuerst zu einer allmählichen Verschiebung dieses Zentrums nach Nordamerika bei gleichzeitiger allmählicher Ablösung der Kolonialreiche. Inzwischen verlagern sich die Schwerpunkte der Wirtschaft zunehmend nach Asien. Mit den USA und China (aber auch Indien oder Brasilien) stehen dabei Staaten im Mittelpunkt, die selbst an einem Punkt ihrer Geschichte unter kolonialer oder quasi-kolonialer Herrschaft standen. Sie sind die neuen Zentren der postkolonialen Globalisierung.

Während diese Schwerpunktverschiebung, diese Provinzialisierung Europas, das heißt der Rückbau ihrer hegemonialen Position, allerorten und auf allen Ebenen zu spüren ist, möchte man dies in Europa selbst nicht wahrhaben. Ein Paradebeispiel, allerdings nicht das einzige, ist Großbritannien, das im Brexit ganz unverhohlen versucht, an die als glorreich gedachten Tage des Empires anzuschließen, nicht verstehend, dass diese Zeiten unwiderruflich vorbei sind.

Aber es ist nicht nur Großbritannien. Der auch in anderen Staaten der Europäischen Union Zulauf findende Nationalismus übersieht die zentrale Tatsache, dass Europa nicht mehr das Zentrum der Welt ist, und auch gemeinsam weniger als fünf Prozent der globalen Bevölkerung und Fläche ausmacht. Gemeinsames Handeln, eine europäische Einigung, ist also schon deshalb ein Gebot der Stunde.

Der Globale Norden verschließt die Augen

Eine Dekolonisierung Europas, die diesen Namen verdient, muss eben auch einen realistischen Blick auf die Welt gewinnen. Es ist aber nicht nur die Position innerhalb eines global-ökonomischen Systems, welche eine Dekolonisierung nötig macht, sondern das System an sich, mit seiner ideologischen Fixierung auf (ökonomisches) Wachstum muss hinterfragt werden.

Die eingangs zitierten Brände, und man könnte auch Dürren und Überflutungen, generell die Zunahme von Extremwetter-Situationen erwähnen, zeigen eindeutig, dass wir uns inmitten einer präzedenzlosen Klimakrise befinden, und es stellt sich die Frage, warum so viele Menschen gerade im Globalen Norden die Augen vor den daraus zu ziehenden Konsequenzen verschließen.

Die Antwort ist, dass ein Leben über den eigenen Verhältnissen, das Verbrauchen von mehr Ressourcen, als man hat und einem bei gleicher Verteilung zustehen würden, tief in Europas Geschichte verwurzelt ist, eingeübt über Jahrhunderte kolonialer Expansion: ein koloniales Ausgreifen, um sich die benötigten Ressourcen zu holen, bei weitgehender Externalisierung der humanen und ökologischen Kosten.

Der globale Siegeszug des Kapitalismus mit seiner Ideologie des permanenten Wachstums stand von Anfang an in einer symbiotischen Beziehung zum Kolonialismus. Die territoriale Expansion ermöglichte es Europa, seinen wachsenden Ressourcenbedarf zu decken, ohne dass die Konsequenzen fortwährenden Wachstums und Verbrauchs mit voller Härte in Europa selbst zu spüren gewesen wären. Durch die Ausweitung der kolonialen Frontier brachte man immer neue Ressourcen unter die eigene Kontrolle, zugleich hatte man ein Ventil für soziale Spannungen.

Wohlstandsverzicht und eine neue Ethik

Die Antwort auf die Klimakrise ist eigentlich eindeutig: globale soziale Gerechtigkeit und De-Growth oder zumindest ein Wohlstandsverzicht im reichen Norden zugunsten eines grünen Wachstums im Globalen Süden. Es ist aber gerade dieses Verschont-Geblieben-Sein von den Folgen des Raubbau- und Verschwendungskapitalismus im Kolonialismus, welche es Bewohnern des Globalen Nordens besonders schwer macht, die notwendigen Schlussfolgerungen aus der Umweltkrise zu ziehen.

Wie soll man zur Kursumkehr bereit sein, wenn bisher immer alles gut ging? Wieso soll man von der bequemen Wachstumsideologie Abstand nehmen, wenn die dadurch verursachten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verwerfungen weit entfernt stattfinden?

Dies beschleunigt die Krise und ist auf Dauer nicht aufrecht zu erhalten. Dekolonisierung ist deshalb auch Dekarbonisierung, ja der Ausstieg aus fossilen Energieträgern generell. Dekolonisierung ist auch Wohlstandsverzicht und nachhaltiges Wirtschaften, gerade weil es um grundlegende Fragen des globalen Zusammenlebens, ja um die Zukunft, geht, ist Dekolonisierung nichts weniger als eine neue Ethik.

Diese Überlegungen erschienen zuerst im missio magazin 2/2021.


Zum Autor
Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg und Leiter des dortigen Projektverbunds "Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die (frühe) Globalisierung. Er beschäftigt sich mit Fragen des kolonialen Erbes, der Erinnerungs- und Gedächtnispolitik, der Vergleichenden Genozdiforschung und der Umweltgewalt, insbesondere der Klimakrise. Immer wieder kritisierte er – zuletzt in Debatten über das Berliner Humboldt Forum – eine weit verbreitete „koloniale Amnesie“ in Deutschland, also das fehlende Bewusstsein in Politik und Gesellschaft für die während der deutschen Kolonialzeit ausgeübte Gewalt und die mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Nachfolgestaaten der deutschen Kolonien.

(c) UHH/Dingler