Er rennt und rennt.
Sie hat mich geschlagen, sie hat mich geschlagen ..., wie in Endlosschleife schwirren die Worte in seinem Kopf herum. Mutter hat ihn bisher nie geohrfeigt. Aufräumen ist nicht sein Ding. Der Streit eskalierte.
Der werde ich es zeigen! Ich bleibe ewig weg, denkt er und stellt sich vor, wie sie es bereuen würde. Soll die doch heulen und betteln, dass ich zurückkomme ... ich ziehe zu Vater, der haut mich nicht! Fabian schüttelt mit einer heftigen Kopfbewegung die blonden Strähnen aus der Stirn.
Seine Eltern wollen sich scheiden lassen. Die Mutter fuhr mit ihm in den Urlaub, um ihm das beizubringen.
Er stolpert über eine Wurzel, bleibt liegen und schimpft seine Wut in den Wald hinein. Tränen tropfen auf das Heidekraut. Die Bäume spenden keinen Trost, aber jede Menge Schatten. Allmählich beruhigt sich der Zwölfjährige. Er richtet sich auf. Wenige Meter entfernt entdeckt er ein Gebäude.
Er quert Bahngleise und stellt sich vor das Stationshäuschen. Eine alte Frau wartet und schaut in die Richtung, aus der sich ein Zug nähert. Sie steigt ein, Fabian folgt, ohne zu überlegen.
Unentschlossen lungert er vor der Toilettentür.
Hoffentlich naht kein Schaffner, bangt er, denn er hat in der Hektik des Aufbruchs nichts mitgenommen.
Nach mehreren Haltestellen verlässt er den Zug und läuft in die Gegend hinein. Den Weg säumen Rapsfelder, die in voller Blüte stehen. Aus Spaß schreitet er hindurch. Am anderen Ende kommt er gelb bestäubt wieder heraus und wandert durch einen Kiefernwald. Grenzenlose Freiheit durchströmt seine Brust. »Ich brau-hau-hauche Mu-hu-mutter nicht«, trällert er im Rhythmus seines Wanderschritts den Vögeln entgegen.
Eine Lichtung offenbart eine verfallene Burg. Sie zieht ihn wie ein Magnet den Bergpfad hinauf. Der Hinweis Betreten strengstens verboten auf dem vermoosten Holzzaun verstärkt seinen Forscherdrang. Er zwängt sich durch eine Lücke und umläuft das massive Gebäude, bis er eine Tür findet. Vorsichtig drückt er die Klinke nieder. Fabian zuckt zusammen, weil sie beim Öffnen eindringlich quietscht.
Merkwürdige Geräusche lassen sein Herz klopfen. Er denkt an Gespenster und schaut nach oben, wohin eine Wendeltreppe führt. Schritt für Schritt schleicht er hinauf. Die Stufen stöhnen und ächzen. Plötzlich geben sie unter seinen Füßen nach und zerbersten in weiter Tiefe mit knackendem Getöse. Er greift in letzter Sekunde einen Balken, um sich mit aller Kraft hinaufzuschwingen.
Tauben fliegen erschrocken davon.
Er schaut nach unten. Der Rückweg ist abgeschnitten. Vor den Maueröffnungen des Turmes schwanken die Baumwipfel im Wind. Panik durchströmt kalt seinen Körper. Totenstarre. Er erwacht aus seiner Angstlähmung, sucht nach Fluchtwegen. Es ist hoffnungslos.
Er ruft: »Mutti! ... Hilfe! ... Vati, ich bin hier oben!«
Die Nacht bedeckt ihn mit Finsternis. Er hat Durst.
Die Morgenhelligkeit weckt ihn mit Hunger.
»Hilfe. Hiiiilfe!«
Er weint, schreit und grübelt. Wieso rannte ich weg, ohne zu wissen, wie ich zurückfinde?
Am dritten Tag versagt seine Stimme. Er schläft und träumt, er wäre wieder zuhause.
Die Angst kriecht durch die Zeit ...

Fabians verzweifelte Mutter durchstreift mit den polizeilichen Suchtrupps die Umgebung, doch niemand kommt auf die Idee, in der 200 Kilometer entfernten Burgruine zu suchen.

© Brigitte Voß