Die Polizei hat bei einer Abschiebung nach Armenien, das noch schwer betroffen ist vom Krieg in Bergkarabach, nicht nur eine Familie, die seit 22 Jahren hier lebt, getrennt, sondern die Abschiebung auch mit gezogener Schusswaffe durchgesetzt.
Zur jesidischen Familie gehören die Mutter, der Vater und vier Kinder im Alter von drei bis 13. Alle vier Kinder sind in Magdeburg geboren. Die Mutter kam mit zehn Jahren nach Deutschland und ist jetzt 33. Sie leidet an Depressionen und ist akut suizidgefährdet. Bei der Abschiebung wurde sie gefesselt. Obwohl zwei ihrer Kinder (12 und 13 Jahre alt) beim Abschiebeversuch vor der Polizei geflohen sind und auch nach einer (sehr kurzen) Suche nicht auffindbar waren, wurde die Abschiebung durchgezogen, also in vollem Bewusstsein, dass hier die Familie getrennt wird. Der Vater wurde in ein anderes Auto verfrachtet, zunächst in Polizeigewahrsam genommen und dann wieder entlassen, um die beiden entflohenen Kinder zu finden. Bisher konnte er sie nicht finden. Er ist erschöpft, verzweifelt und körperlich wie seelisch am Ende.
Währenddessen wurde die Mutter mit den zwei anderen Kindern um 10 Uhr von Düsseldorf nach Armenien abgeschoben, in ein fremdes Land, dessen Sprache sie nicht spricht. Während der Abschiebung fanden sich Nachbar*innen, weitere Familienmitglieder sowie Freund*innen der Familie ein und protestierten friedlich gegen die Abschiebung. Sie redeten auf die Polizist*innen ein und baten sie darum, dass sich die Eltern wenigstens noch von den Kindern verabschieden können. Die Menge war aufgebracht und empört, aber friedlich. Trotzdem zog einer der Polizist*innen dann ohne erkennbaren Grund seine Dienstwaffe und richtete sie einhändig auf die umstehenden Menschen. Das ist eine beispiellose Eskalationsstufe.
Das Umfeld der Familie befürchtet, dass sich die Mutter etwas antut. Alle sind in heller Aufregung und mit den Nerven am Ende. Die Schulsozialarbeiterin ist in Tränen ausgebrochen, als sie von der Abschiebung erfahren hat. Die Kids gehen alle in Magdeburg-Nord zur Schule. Die Eltern arbeiten beide, sie in Teilzeit als Kellnerin im Hundertwasserhaus, er mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag und in Vollzeit als Lagerist.
Was muss man für ein Mensch sein, um sowas durchzuziehen, im Winter, mitten in einer Pandemie, unter Einsatz einer gezogenen Schusswaffe, in ein Land, das gerade erst einen Krieg erlebt hat, in dem viele Tausende Zivilist*innen gestorben sind? Wie muss man da drauf sein, um nachts noch ruhig schlafen zu können? Hier wurde eine Familie, die hier fest verwurzelt ist und deren Kinder hier alle geboren sind, auseinander gerissen. Hier wurden Kinder traumatisiert. Hier wurden aufgebrachte und verständlicherweise empörte Angehörige und Freund*innen mit einer Waffe bedroht. Was muss man für ein Mensch sein, das anderen Menschen anzutun? Eiserner Gehorsam, Korpsgeist und tumbe Befehlsexekutive.
In weniger als drei Wochen ist Weihnachten. Christliche Nächstenliebe heißt also, eine Familie, die ihr ganzes Leben hier verbracht hat, zu trennen und brutal abzuschieben. Dass es überhaupt Abschiebungen während der tödlichen zweiten Welle der Pandemie gibt, ist ein Skandal, dass es Abschiebungen nach Armenien gibt, das im Übrigens noch viel stärker von der Pandemie betroffen ist als das schon schwer betroffene Deutschland, ebenso, aber dass hier auf derart brutale Weise Menschen aus ihrem Leben gerissen werden, das hat mit Recht nichts mehr zu tun. Zur Stunde ist völlig unklar, wo sich die beiden entflohenen Kinder befinden und wie es ihnen geht. Es gibt mehrere Menschen, die nach ihnen suchen.
Update 08. Dezember 2020, 23:21 Uhr: Es gibt leider noch nichts Neues, weder von den entflohenen Kindern noch von der Mutter und den beiden anderen mit ihr abgeschobenen Kindern. Wir sind als Flüchtlingsrat dran und stehen in Kontakt mit dem Umfeld der Familie. Auch wenn es der Familie in ihrer Situation zunächst nichts bringt, ist die Empörung und die Wut vieler, vieler User*innen in den sozialen Medien ein Zeichen, dass es doch längst noch nicht allen am Arsch vorbei geht, was hier passiert. Das macht Hoffnung und die Freund*innen der Familie werden es erfahren. Vielleicht gibt es ihnen auch ein bisschen Hoffnung und Zuversicht.
Zur politischen Bewertung noch ein paar Gedanken: Wir sehen hier ganz konkret, was es bedeutet, wenn Politiker*innen eine "nationale Kraftanstrengung bei Abschiebungen" (Merkel) beschwören, davon schwadronieren, "mit aller Härte den Rechtsstaat durchzusetzen" oder feiern, dass die "Abschiebezahlen steigen". Es bedeutet, dass Menschen, die nichts weiter verbrochen haben, als eines Tages vor einem Krieg oder einer anderen Ursache geflohen zu sein, vor den Trümmern ihres Lebens stehen, denn hier zu leben war ihr Leben. Es bedeutet unsägliches Leid, das sich niemand, der nicht in einer ähnlichen Situation war oder ist, auch nur annähernd vorstellen kann, und schon gar nicht all jene, die wie auch ich privilegiert sind. Es ist unvorstellbar.
Wir registrieren seit einigen Monaten, dass mit voller Härte auch langjährig geduldete Familien, sogenannte "Ketten-Duldungen", abgeschoben werden. Aus meiner Sicht liegt auf der Hand, dass dies unter dem Eindruck des langen Schattens des Wahlkampfs geschieht. Hier möchten sich politische Akteur*innen und Innenminister mit "tollen", gestiegenen Abschiebezahlen profilieren und eine braune Nase beim rechten Rand verdienen. Die volle Härte, das kommt an bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der Gesellschaft, der keine Gnade kennt. Und genau hier verläuft eben keine Trennlinie mehr zu diesem vermeintlichen Rand. Es spielt keinerlei Rolle, ob eine rechtsextreme Partei irgendwann mal reale Machtmittel bekommt oder nicht, denn ihre Politik wird in Teilen schon längst exekutiert. Viele Abschiebungen sind Zeugnisse davon und diese hier ist es ganz besonders.
Es ist gut, dass sich so viele empören, dass sie wütend sind und zumindest das Minimalste tun, was man auf die Schnelle tun kann, nämlich voller Empörung Berichte zu dieser skandalösen Abschiebung zu teilen. Wichtig erscheint mir aber vor allem, dass das Bewusstsein wieder etwas mehr geschärft wird, dass solche Abschiebungen die Regel sind und nicht etwa Einzelfälle. Nur: Meistens bekommt davon niemand etwas mit. Viele Betroffene haben kein Unterstützungsnetzwerk. Schaut hin, seid achtsam und wachsam, und stärkt solidarische Strukturen, Unterstützungsnetzwerke und antirassistische Akteur*innen vor Ort. Das ist immens wichtig, denn die meisten Abschiebungen, viele von ihnen ähnlich brutal und schockierend, geschehen weiterhin im Verborgenen und genau so ist das System ja konstruiert. Es soll niemand mitbekommen, wie gnadenlos es mit Menschen und ihrer Würde umgeht.