Lernen ist der Prozess, der uns ermöglicht, Fehler nicht zu wiederholen. Das ist kein Selbstläufer.


Vera Birkenbihl war eine beeindruckende Frau. [1]

Viele ihrer auf YouTube verfügbaren Videos haben mich beeindruckt. Aber eins ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Anschauen lohnt sich:

Der hier entscheidende Teil spielt sich auf dem ersten Blatt ab, das sie vollschreibt. Ihre beiden Kern-Erkenntnisse zum “Lücken-Management” — also dem Umgang mit eigenen Wissenslücken — sind zeitlos wichtig:

1. Mut zur Lücke

Jeder sollte den Mut haben, zu seinen Wissenslücken zu stehen.

Oft ist der Drang groß, Wissen vorzugaukeln oder einen Mangel an Wissen zu überspielen. Aber niemand kann oder muss alles wissen. Es sollte völlig normal sein, zu sagen: “Das weiß ich nicht.”

2. Fehler ist nicht gleich Fehler.

Fehler haben qualitative Unterschiede:

Zwischen “Ich habe absolut keine Ahnung, wovon du sprichst” und “Das weiß ich nicht, aber ich kann mir einen Teil der Antwort herleiten” liegen Welten.


Was Birkenbihl im schulischen und pädagogischen Kontext ausgeführt hat, lässt sich gut auf den Umgang mit Fehlern insgesamt übertragen:

Fehler sind unvermeidbar

Ob Sudokus lösen oder Schach spielen, eine Sprache sprechen oder ein Vorzeige-Elternteil sein: Worin auch immer man richtig gut werden möchte, ist man zunächst einmal richtig schlecht.

Diese Einsicht ist ziemlich logisch und offensichtlich. Und doch tun wir oft überrascht oder beleidigt, wenn uns etwas nicht nach wenigen Anläufen gelingt.

Selbst mit einer Menge Naturtalent hat man lediglich einen gewissen Vorsprung gegenüber anderen Anfängern. Wirklich gut sind am Ende die Leute, die viel und lange geübt, Rückschläge ausgehalten und aus Fehlern gelernt haben.

Dazu ist ein Perspektivwechsel zwingend erforderlich: Einen Fehlschlag sollte man nicht als Niederlage betrachten, sondern als Datenpunkt.

“Fehler sind natürlich. Mach’ es dir einfach, sie anzuerkennen und zu korrigieren, anstatt sie als Desaster zu behandeln.” (Paul Graham) [2]

“Fehler” zwischen Missgeschick und Katastrophe

Wir verwenden das Wort “Fehler” für sehr unterschiedliche Arten von Fehlschlägen:

Am einen Ende des Spektrums haben wir den Kommafehler, einen Schusseligkeitsfehler in einem ansonsten perfekten Rechenweg, ein unbedachtes Wort oder ein Geschenk in der falschen Konfektionsgröße.

Irgendwo in der Mitte sagen wir “Fehler” zu Dingen wie einem unnötigen Streit mit einem geliebten Menschen oder einer Nacht, die ohne Erinnerungen, dafür mit Kopfschmerzen und einem neuen Tattoo endet.

Am Ende des “Fehler”-Spektrums drohen Gerichtsprozesse, Gefängnisaufenthalte, zerstörte Biografien, für immer verlorene Beziehungen und lebenslange Reue.


Aus Fehlern lernen ist kein Selbstläufer

“Aus Fehlern lernt man”, sagt der Volksmund.

Ich würde korrigieren: “Aus Fehlern kann man lernen.”

Selbstverständlich ist das allerdings nicht. Der Grund: Fehler müssen zunächst souverän eingeschätzt werden, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und das ist leichter gesagt als getan.

Unsere eigenen Reaktionen und auch die unseres Umfeldes passen oft nicht zum Schweregrad eines Fehlers. Unser Magen zieht sich zusammen, wir ärgern uns heftig über uns selbst, geraten manchmal geradezu in Panik.
Freunde oder Verwandte schütteln verständnislos den Kopf, haben unnötige Ratschläge parat, womöglich leidet eine Beziehung.

Auslöser all solcher Reaktionen kann ein Geschehen sein, das sich bei näherem Hinsehen als Bagatelle erweist.

In anderen Fällen fällt es uns schwer, einen Fehler überhaupt oder zumindest als so schwerwiegend anzuerkennen, wie er dargestellt wird. Das Gegenüber scheint ehrlich verletzt oder schockiert zu sein, man selbst empfindet das aber womöglich als Übertreibung.

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Foto von Brett Jordan / Unsplash

Zwei Denkfilter können helfen, dieses sehr unklare Bild zu schärfen, besser über die eigenen Fehler nachzudenken und zuverlässiger aus ihnen zu lernen:

Intention

Handelt es sich um einen Unfall, ein Missgeschick, einen Ausrutscher?
Dann ist das Geschehen nicht aussagekräftig dazu, was für ein Mensch man ist — aber sehr wohl dazu, wie achtsam oder vorsichtig man war.

Ist eine unbeabsichtigte Folge eingetreten?
Dann lässt sich wahrscheinlich etwas darüber lernen, wie man zuverlässiger vorausdenken kann, welche Auswirkungen das eigene Handeln haben könnte.

Oder wurde gar planvoll und absichtlich gehandelt? [3]
Dann war die Handlung repräsentativ für die eigene Psyche. Unter ähnlichen Umständen wird man wahrscheinlich ähnlich handeln. [4]
Hier gibt es am meisten über sich selbst zu lernen: Womöglich findet man erhebliches Entwicklungspotenzial — oder lernt, einen bestimmten Aspekt der eigenen Persönlichkeit zu akzeptieren.

Konsequenzen und Bedeutung

Ist eigentlich gar nichts Nennenswertes passiert?
War vielleicht der Schreck größer als der eigentliche Schaden?
Sind alle Beteiligten mit dem sprichwörtlichen “blauen Auge davongekommen”?
Oder ist ernsthaft Schaden entstanden?

Diese Frage sollte erst mit einigem Abstand beantwortet werden. Wie bereits erwähnt ist die erste Reaktion auf einen Fehler — ob nun einen eigenen oder einen fremden —oft unzuverlässig. Gerade in Lebenskontexten, in denen wir wirklich bemüht sind, keine schweren Fehler zu machen (enge Beziehungen, wichtige Aspekte unserer Arbeit etc.), ist es schwer zu akzeptieren, wenn sie dann doch passieren.


Das wiederholte Scheitern an den eigenen Vorhaben — vom Erlernen einer Fähigkeit bis zum Führen einer erfüllten Beziehung — gehört so sehr zum Leben wie das Atmen.

Fehler können die Trittstufen der Treppe sein, die uns immer weiter die Lernkurve hinauf trägt. Aber das erfordert einen souveränen, geordneten Umgang mit dem eigenen Versagen — und die Bereitschaft, wieder und wieder Fehler zu machen.

Am Anfang dessen stehen Akzeptanz und Nachsicht mit sich selbst. Je eher man seinen Frieden damit gemacht hat, dass man Fehler machen wird — auch die Art, die man wirklich nicht machen möchte — umso eher kann man beginnen, aus Fehlern Helfer werden zu lassen.


[1] Die Management- und Lern-Trainerin ist ein tolles Beispiel dafür, wie sehr es sich lohnen kann, Menschen nicht vorschnell aufgrund einer bestimmten Einstellung abzustempeln. Birkenbihl war eine brillante Pädagogin und Lerntheoretikerin — aber sie war auch Numerologin (Numerologie = Zahlenmystik; einzelnen Zahlen oder Zahlenkombinationen wird eine Bedeutung oder Wirkung zugeschrieben, die über reine Mathematik hinausgeht; für eine kurze Einführung und kritische Einordung hier entlang) und Esoterikerin (Wen’s interessiert: “Pragmatische Esoterik”).

[2] Original-Zitat aus “Taste For Makers”: “Mistakes are natural. Instead of treating them as disasters, make them easy to acknowledge and easy to fix.”

[3] Passenderweise ist das auch grob die Unterscheidung von Fahrlässigkeit und Vorsatz-Arten, die unser Strafrecht macht.

[4] Hier schließen sich zwei sehr wichtige Themen an, auf die ich aber nur kurz hindeuten möchte:
1. Die Frage, wie frei unsere Entscheidungen sind, die ich in Ausgabe 36: Freier mangels freiem Willen bereits angerissen habe.
2. Das Phänomen der nachträglichen Rationalisierung des eigenen Verhaltens. Darüber werde ich auf jeden Fall noch schreiben.


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