Als die Tür aufgeht schlägt ihr dieser Geruch entgegen. Sie kann ihn nicht ausstehen, diesen Geruch nach Fisch und Frittierfett, er haftet sich an die Innenseite ihrer Nase und scheint dort den ganzen Tag zu verweilen. Fischstäbchen gehen immer einher mit Rahmspinat und natürlich Kartoffelpüree. Ein kulinarischer Supergau. Der einzige Vorteil, Sabine, ihre vier Jahre jüngere Schwester, aß gerne Fischstäbchen. Kein Grund also für den Vater wieder einmal mit dem hölzernen Kochlöffel drohend am Tisch zu sitzen, um sicherzustellen, dass auch alles gegessen wird. Nach dem Krieg haben wir schließlich alles gegessen, was auf den Tisch kam! Einmal hatte sie gewagt, zu sagen, dass der Krieg nun schon mehrere Jahrzehnte her war und sie absolut keine Lust mehr auf diese Argumentation hatte, es nicht einsehen wollte, dass er ihnen allen dies immer wieder vorhielt. Seither wusste sie, dass Schweigen die bessere Alternative war.

Wie war die Schule. Ja, wie immer. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr über der Küchentür, noch 15 Minuten, dann fängt ihre Lieblingsradiosendung an. Ihr Blick fällt auf ungespülte Töpfe und Pfannen und sie weiß, dass sie bis dahin niemals auf ihrem Zimmer sein wird. Und unten in der Küche darf sie diesen Sender nicht anmachen, die Musik hält ja kein Mensch aus.

Habt ihr Mathe schon zurück? Nein, weiß auch nicht warum der Zimmermann immer so lange braucht, vielleicht am Freitag. Ihr Magen zieht sich zusammen, Zimmermann war dieses Mal außerordentlich schnell mit der Korrektur gewesen. Sie hatte sich kaum getraut, das Heft zu öffnen. Musste hinten im Heft nachschauen, ob „mangelhaft“ eine Fünf oder gar eine Sechs bedeutete, denn bis dahin war ihr die Note unbekannt gewesen. Gestartet war sie mit „gut“, aber die Zeiten waren vorbei, es interessierte sie einfach nicht mehr, sie konnte sich nicht vorstellen, diese Dinge irgendwann in ihrem Leben brauchen zu können.

Was sie brauchen könnte, war ein Freund oder zumindest irgendwer, der sich überhaupt für sie interessierte und nicht hinter ihrem Rücken abfällige Bemerkungen über sie machte. Sie mochte Ralf, aber Ralf mochte nun mal Anke, wie so ziemlich jeder Junge aus der Klasse und der Parallelklasse. Anke mit den großen braunen Augen und den dunklen langen Haaren, sportlich und immer im Mittelpunkt.

Sie dagegen immer am Rand, farblos und still. In ihrem Kopf war es alles andere als still, aber das behielt sie lieber für sich. Tausend Gedanken drängten sich dort, dicht an dicht, Tag für Tag. Immer. Manchmal wünschte sie, dass sie zwischendurch den Kopf abnehmen könne, um ihre Gedanken auszuleeren, weil es unerträglich viele waren. Als sie einmal den Mut gefasst hatte, einige davon im Deutschunterricht zu teilen, sah sie im Blick der Lehrerin nur Unverständnis. Auch so etwas, dass sie nicht gewagt hatte zu wiederholen.

Endlich sind alle Töpfe und Pfannen gespült, schnell packt sie ihre schwarze Adidastasche mit den Schulsachen und hastet die Treppen nach oben, bevor ihr eine weitere Aufgabe zugeteilt werden kann. Alexandra hält noch Mittagsschlaf, also würde sie nur leise Musik hören können. Sie betritt ihr Zimmer. Auf der Wand gegenüber ein krakeliger Schriftzug mit rotem Edding „Scheiß Tapete!!!“. Außer sich vor Wut hatte sie es an die Wand geschmiert, weil der Vater versprochen hatte, ihr Zimmer zu tapezieren, das Versprechen dann aber nicht einhielt. Die braune Textiltapete, deren Fäden sich langsam auflösten, erinnerte sie an ihre Großmutter, deren Wohnzimmer dieses Zimmer gewesen war. Sie träumte oft von ihr, hatte regelrecht Angst entwickelt nach deren Tod diesen Raum zu beziehen; besonders die verschlossenen Türen in der Abseite erzeugten bei ihr Unwohlsein. Manchmal war es ihr, als ob da hinter etwas kauerte, dunkel und still. Auch ein Gedanke, den sie niemals irgendwo äußerte.

Nach dem Edding-Zwischenfall hatte ihr Vater ihr für drei Wochen den Schallplattenspieler und alle ihre Schallplatte weggenommen. Sie hatte sich ohnmächtig und wütend gefühlt, ihr Zimmer nur noch zum Essen verlassen.

Er wusste, dass er sie damit bitter treffen würde. Musik war ihr Ein und Alles. Die verhasste Tapete war gepflastert mit Bildern britischer Popstars, geschminkte junge Männer, die bei ihren Eltern erhobene Augenbrauen hervorriefen. Wenn die Musik erklang, setzte sie sich auf das braun kariertes Couchbett und träumte. Sie war jemand anders, trug nicht diesen verhassten Namen, war überall beliebt, selbstverständlich hatte sie einen Freund! Die Leute bewunderten sie für ihre Wortgewandtheit, ihr Selbstbewusstsein kannte keine Grenzen, sie erreichte nahezu alles, was sie sich vorgenommen hatte. Einmal war die Mutter in eine dieser Träumereien geplatzt, einfach in ihr Zimmer herein gekommen und sie fühlte sich ertappt, mit leerem Blick auf der Couch sitzend. Du sitzt den ganzen Tag nur rum, musst du nichts für die Schule tun? In der Stimme eine Mischung aus enttäuschten Erwartungen und Ärger. Sie hatte gebeten, dass man in Zukunft klopfen möge, natürlich hielt sich niemand daran.

Unten wurde schon wieder geschrien, die Telefonrechnung, sie hatte gesehen wie die Mutter diese versteckt hatte.

Sie dreht die Musik lauter und lehnt sich zurück. Es riecht nach Fischstäbchen.