Leise strich der Wind über die Dachschindeln, flüsternd fast, verfing sich in den Kanten, flötete eine geheime Tonfolge, kaum hörbar, und strich davon, um sich mit dem Wispern der Baumwipfel zu vereinen. Dann verebbte die Böe, es war wieder still.

Sie hätte ihn gern auf der Haut gespürt, diesen Wind. Doch dafür war es zu hell. Viel zu hell. Fast Vollmond.

Sie starrte in den Himmel. Die Sterne starrten zurück.

Ihre Zehen legten sich um den Dachfirst. Angenehm kühl sogar durch den Stoff. Sie lehnte sich noch tiefer in den Mondschatten des gemauerten Kamins. Aus dem Wald, schwarz und undurchdringlich, trat die Ricke hervor. Ein paar Tage war sie nicht zu sehen gewesen, und tatsächlich folgte ihr auf stöckernden Beinen ein Kitz. Vom Dach wirkten die beiden Tiere wie Scherenschnitte vor der silbrigen Wiese. Fast augenblicklich hob sie das Gesicht, horchte, nein schnupperte in den Nachtwind, angestrengt, doch weder Geräusch noch Geruch kam vom nahen Hochsitz.

Es war ja auch Schonzeit.

Sie seufzte. Starrte noch einmal missmutig in den mondhellen Nachthimmel und zog sich noch tiefer in den Schatten des Schornsteins zurück.

Weit entfernt durchzogen die Scheinwerfer eines Autos die Wiesen. Blitzten noch einmal auf und wurden von den Bäumen verschluckt.

Sie erstarrte. Konnte das Geräusch nicht einordnen. Drängte sich erschrocken an die tröstenden Steine. Eine Stimme tönte aus dem Haus. Ihre Stimme. Der Anrufbeantworter. Niemand rief je bei ihr an. Ihre Chefin einmal. Vor Jahren. Der Auftrag war erledigt, abgeschickt, wie immer, alles online, Gespräch nicht nötig, schon gar nicht mitten in der Nacht.

Eine andere Stimme. Ein Mann. Weinerlich. Betrunken wohl. Das war Heiko und ihr Herz setzte aus und stolperte und raste lost, sie drückte sich an die Steine, als könnte sie darin verschwinden.

Heiko. Sie hörte nur Bruchstücke, es rauschte zu stark in ihren Ohren und ihr eigener japsender Atem störte sie. Er sprach von Nähe und Schreiben und Freundschaft und Liebe. Von Treffen und Sprechen. Von seiner Enttäuschung. Was sie für ein Mensch sei. Das Band brach ab.

Eine weitere Windbö erhob sich, brandete über den Wald, traf das Dach und sie und hätte in ihren Haaren gewühlt, hätte sie diese nicht genau so sorgsam unter schwarzen Stoff verborgen wie den Rest ihres Körpers.

Ein Schatten zog vor den Mond, eine Wolke verbarg seinen Schein, endlich, sie erhob sich, die Füße schlossen sich vogelkrallengleich um den First, sie spannte sich und schleuderte ihren Körper in die Luft und jetzt durchströmte der Wind ihre Augen, ihre Ohren, ihre Lungen und sie raste aufwärts, dem Himmel entgegen, schneller als je ein Mensch gefallen ist – die Wolke würde bald weiterziehen – und verschwand in der Dunkelheit über den Bäumen.

Kein Mensch, dachte sie. Kein Heiko. Kein Mensch. Ich bin, die ich bin. Eine Gestalt der Nacht und des Windes. Ein fliegender Mensch. Etwas, das es nicht gibt, nicht geben darf. Ein fliegender Mensch. Erzähl es niemandem, zeig es niemandem, bleib immer für dich, Worte aus der Kindheit, eingebrannt in ihr Gehirn. Kein Heiko für sie und niemals jemanden in ihrer Nähe.