Am 1. August 2020 geriet ich in Berlin zufällig in eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen. Tausende Leute auf der Straße, mit Schildern und Megafonen bewaffnet, wetternd gegen Maskenpflicht und vermeintliche Corona-Diktatur, eine Stimmung wie auf einem Volksfest, bloß ein wenig aggressiver.
Ein paar der Demonstrierenden hatten das Grundgesetz um den Hals gehängt, »Freiheit, Freiheit!«-Rufe erschallten immer wieder. Ich fragte einen der Vorbeiziehenden, der mir den Flyer der Partei »Widerstand 2020« in die Hand drückte, was er denn eigentlich unter dem Freiheitsbegriff verstehen würde.
Seine Antwort: »Das ist mal eine gute Frage.«

Natürlich kann diese Anekdote nicht beispielhaft sein. Doch mein persönlicher Eindruck ist, dass es kaum etwas gibt, das von so vielen Menschen geschätzt wird, von dem aber gleichzeitig so wenige Menschen eine Vorstellung haben wie der Begriff Freiheit.

Freiheitskonzepte

Allgemein bedeutet Freiheit, die Möglichkeit zu haben, Entscheidungen frei, also ohne Zwang treffen zu können. Sich ohne Einflussnahme anderer für das entscheiden zu können, was man mag, oder was man will. Womit der Freiheitsbegriff allerdings derart weit gefasst ist, dass er sich quasi auf alles beziehen lässt, auf die Freiheitsbestrebungen von Demokrativebewegungen im Iran oder in Hongkong ebenso wie auf die Wahlmöglichkeit bei Pizzabelägen oder Eissorten. Was womöglich der Grund ist, warum Freiheit in unterschiedlichster Form diskutiert und verschiedentlich unterteilt worden ist, etwa in die innere und äußere Freiheit oder die individuelle und kollektive Freiheit.

Die vielleicht bekannteste dieser Unterteilungen, die bereits Aristoteles bekannt war und unter anderem von Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau aufgegriffen wurde, ist die Unterscheidung in positive und negative Freiheit. Positive Freiheit bezeichnet dabei die Freiheit, etwas zu tun, also zum Beispiel seine Meinung zu sagen, zu demonstrieren oder zu reisen. Negative Freiheit, bezeichnet dagegen den Zustand, frei von etwas zu sein, von staatlichen Repressalien etwa oder dem Krach des Nachbarn, der um 3 Uhr morgens seine Boxen aufdreht.

Ich möchte mich im Folgenden ebenfalls mit dieser Unterteilung befassen, finde jedoch die Begriffe positive und insbesondere negative Freiheit ziemlich missverständlich. Daher werde ich hier von aktiver Freiheit statt von positiver Freiheit sprechen und von passiver Freiheit statt von negativer Freiheit. Zudem möchte ich dieses Konzept ergänzen um das Konzept der verfügbaren Freiheit und das Konzept der nutzbaren Freiheit, was ich im Folgenden näher erläutern möchte.

Verfügbare Freiheit

Verfügbare Freiheit ist die Freiheit, die den Individuen in einer Gesellschaft grundsätzlich zur Verfügung steht. Und dies wiederum hängt vom Entwicklungsstand der Zivilisation im allgemeinen und dem Entwicklungsstand der jeweiligen Gesellschaft im speziellen ab.

Der zivilisatorische Entwicklungsstand bezeichnet den Stand der technologischen und ideellen Entwicklung einer Gesellschaft. Er ist grundlegend für das Maß an Freiheit, das einer Gesellschaft allgemein zur Verfügung steht. Die Freiheit, Häuser und Städte aus Stein zu errichten, wird erst durch die Erfindung dafür notwendiger Werkzeuge möglich, die Möglichkeit, in ferne Welten aufzubrechen, kann es erst geben, wenn die dafür nötigen Schiffe erfunden sind. Buchdruck, Eisenbahn, Internet - erst durch einen gewissen zivilisatorischen Fortschritt erlangen wir überhaupt erst die Freiheit, gewisse Dinge zu tun.

Und das ist nicht nur auf Technologien bezogen, sondern auch auf Ideologien, wie etwa Max Weber in seinem Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus recht schlüssig nachvollzieht. Oder man führt sich vor Augen, dass die Katholische Kirche jahrhundertelang notfalls auch mit Androhung des Scheiterhaufens versucht, den wissenschaftlichen Fortschritt zu unterbinden.
Ob nun das kopernikanische Weltbild, die Erkenntnisse Galileis oder Darwins Evolutionstheorie. Es lassen sich zahlreiche Belege finden, wie sich anachronistische Weltbilder und Ideologien als Hemmnisse des Fortschritts erwiesen haben. Und damit als Hemnisse der mit diesem Fortschritt verbundenen Freiheiten.

Aber es ist nicht nur der Fortschritt, auch den Entwicklungsstand einer Gesellschaft ist von entscheidender Bedeutung für die Freiheit der in ihr lebenden Individuen. Die Erfindung des Autos bringt einem nämlich keinen Zugewinn an Mobilität, wenn niemand da ist, der das Auto baut. Oder die Straßen. Oder ein Netz an Tankstellen und Werkstätten, die notwendig sind, um den durch das Auto  ermöglichten Zugewinn an Freiheit nutzen zu können.

Freiheit ein kollektives Gut ist, das sich erst durch die Gemeinschaft entfalten kann. Der frei von jeglichem fremden Einfluss allein auf einer Insel lebende Robinson Crusoe mag einem gewissen romantischen Freiheitsideal entsprechen. Doch ein Höchstmaß an Freiheit lässt sich sicher nicht dadurch erreichen, dass man auf einem Flecken Erde festhockt, sich hauptsächlich damit befassen muss, am Leben zu bleiben und nur hoffen kann, dass man nicht krank wird oder von irgendeinem wilden Tier gefressen.

Ob eine durch Arbeitsteilung bedingte höhere Produktivität, gegenseitige Fürsorge oder der Schutz, den das Individuum durch die Gemeinschaft erfährt: die Freiheit des Einzelnen wird durch die Gemeinschaft überhaupt erst ermöglicht. So wie die Freiheit des Einzelnen durch die Gemeinschaft beschränkt wird.

Nutzbare Freiheit

Technologischer und ideller Fortschritt bestimmen im Rahmen einer arbeitsteiligen Gesellschaft das Potential an (verfügbarer) Freiheit. Ob und inwieweit ein Individuum diese Freiheit zu nutzen vermag, hängt jedoch von individuellen und kollektiven Beschränkungen ab.

So nutzt einem die Freiheit zu Reisen praktisch überhaupt nichts, wenn man zu alt ist und körperlich zu gebrechlich, um noch reisen zu können. Oder wenn man durch eine Krankheit ans Bett gefesselt oder anderweitig körperlich oder geistig eingeschränkt ist. Ebenso stellen die zur Verfügung stehenden monetären Mittel eine wesentliche Beschränkung dar, etwa wenn man überhaupt kein Geld hat, um zu reisen. Oder sich vielleicht nicht einmal die Freiheit nehmen kann, ein Eis zu essen oder einfach mal ins Kino zu gehen.

Daneben können auch selbst gewählte oder auferlegte Weltbilder die potentiell in einer Gesellschaft zur Verfügung stehenden Freiheitsrechte beschränken. Seien es religiöse Vorschriften, die einem etwa den Verzehr bestimmter Speisen verbieten, ideologische Vorstellungen (etwa die Ablehnung gewisser Lebensweisen) oder persönliche Überzeugungen (zum Beispiel Xenophobie): sie alle führen zu einer praktischen Beschneidung von Wahlmöglichkeiten und damit zu einem Verlust an Freiheit.

Und auch wenn wohl jeder gewisse Ansichten hat und einer gewissen Geisteshaltung unterliegt, sind solche Anschauungen problematisch, je radikaler und dogmatischer sie sind, da Tatsachen und gesellschaftliche Übereinkünfte durch sie ideologisch gefiltert werden und kaum mehr außerhalb eines bestimmten Denkrahmens vorstellbar sind. Und noch problematischer wird es, wenn Ideologien in Autokratien von Staats wegen durchgesetzt werden. In diesen Fällen gründet sich die Beschränkung von Freiheitsrechten letztlich auf der Willkür der Herrschenden.

Aber nicht nur Staaten, auch privatwirtschaftliche Unternehmen können die Freiheit des Einzelnen trotz allgemeiner Verfügbarkeit beschränken. Etwa wenn Güter künstlich verknappt werden, um höhere Gewinne zu erzielen, wie es etwa bei Luxusgütern der Fall ist. Oder wenn die der Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Ressourcen einer Gruppe von Menschen exklusiv zur Nutzung zur Verfügung gestellt wird, wie es teilweise bei der Privatisierung des öffentlichen Raums geschieht.

Dass Freiheit ein existentielles Gut ist, ist eine Binsenweisheit.
Man braucht sich nur den Iran oder sonst eine Diktatur anzusehen, um zu wissen, dass das Recht auf Freiheit eine Frage von Leben und Tod sein kann. Doch Freiheit wird meines Erachtens  gerade hierzulande viel zu häufig mit Beschränkungen durch die Allgemeinheit in Zusammenhang gesehen. Dass die Freiheit, die wir etwa hier in Deutschland und Europa genießen ohne die Gemeinschaft schlicht nicht existieren würde, spielt in der öffentlichen Debatte hingegen seltener eine Rolle.

Freiheit kann nie Selbstzweck sein. Freiheit selbst als Grund zu nennen, um Freiheitsrechte einzufordern, macht keinen Sinn. Denn wir würden zum Beispiel aktuell überhaupt nicht über ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen reden, wenn es die Gemeinschaft nicht gäbe und die durch sie hervorgebrachten Leistungen. Es gäbe ohne sie weder Straßen, noch Autos, und eine Diskussion darüber wäre absurd.
Die Gemeinschaft nimmt die Freiheit nicht, die Gemeinschaft ermöglicht die Freiheit erst. Um sie dann im Sinne und zum Wohle der Gemeinschaft wieder zu beschränken.


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