Opernkritik: Homers Mythos der Endzeit wirkt heutig, wird jedoch in der Münchener Erstaufführung von Faurés Oper nicht recht spürbar.

Die Pariser Erstaufführung von „Pénélope“ am 10. Mai 1913 im Théatre des Champs-Élysées war ein triumphaler Erfolg. Und eine späte Genugtuung für Gabriel Fauré. War er als junger Mann ein Liebling der Proustschen Salons gewesen, und hatte an den offiziellen Institutionen wie der Société Nationale de Musique und dem Pariser Conservatoire, dessen Leiter er seit 1905 war, Karriere gemacht, so war ihm ein Erfolg auf der prestigeträchtigen Opernbühne bis dahin verwehrt geblieben.

Doch so groß dieser Erfolg auch war, er hatte in seinem überständigen und affirmativen Gestus auch eine bittere Note. Denn nur wenige Wochen später, am 29. Mai, fand an derselben Stelle eine andere Uraufführung statt, die von Igor Strawinskys „Sacre du printemps“, die zu einem spektakulären Skandalerfolg geriet. Dieses Ereignis war nur die Kulmination einer Entwicklung, die bereits mit der Uraufführung von Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ am 30. April 1902 seinen Ausgang genommen und einen ästhetischen Paradigmenwechsel eingeleitet hatte.

Die Koinzidenz im Jahre 1913 war das Aufeinandertreffen zweier Welten, der Welt von Gestern mit der von Morgen. Auch der Kritiker Émile Vuillermoz sah in seinem Artikel über die Pariser Erstaufführung diesen Kontext als er schrieb, dass der „weißhaarige“ Fauré gleich Odysseus mit seiner Oper über seine „jungen Rivalen“ triumphiert und mit seinem Bogen „ins Herz des Publikums“ getroffen habe.

Mythen der Endzeit

Intuitiv hatte Gabriel Fauré mit der Wahl seines Stoffes durchaus den richtigen Instinkt. Denn die Epen Homers sind Mythen der Endzeit. Und in einer Endzeit befand sich auch das Frankreich vor dem ersten Weltkrieg. Ist der Trojanische Krieg der „Ilias“ die Urerzählung von den großen Kriegen, in denen Kulturen untergehen - wie er sich in der Antike in den Peloponnesischen und Punischen Kriegen und in der Neuzeit im 30-jährigen und den napoleonischen Kriegen wiederholt hatte – ist die „Odyssee“ die Erzählung der narzisstischen Selbstentfesselung, die im Untergang der Vereinzelung endet.

Auch im ersten Weltkrieg ging, ungeachtet des vermeintlichen französischen Sieges, die europäische bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts unter. Allen kulturellen Animositäten zwischen französischer Zivilisation und deutscher Kultur zum Trotz gab es auf beiden Seiten des Rheins dieselbe Endzeitdynamik von zwei Fraktionen: den Traditionalisten, die vom Wiederauferstehen der alten Größe träumen und den Utopisten, die hoffen den Untergang durch eine große Transformation verhindern zu können. Was sich im Gegensatz von Fauré und Strawinsky abbildete, hatte auf deutscher Seite in Hans Pfitzner und Arnold Schönberg seine Entsprechung.

Daher ist es auch ein Missverständnis, die Wiedervereinigung von Penelope mit Odysseus in irgendeiner Weise zu idealisieren. Sie sind die negativen Protagonisten jener narzisstischen Entfesselungen, die für diese Mythen der Endzeit so charakteristisch sind (und die man auch aktuell wieder beobachten kann). Als König und Königin von Ithaka war ihre erste Aufgabe das Wohl seiner Bewohner. Dass sie die Insel nicht nur Jahrzehnte unregiert in einem Provisorium beließen sondern am Ende auch noch die junge Generation und damit die Zukunft auslöschen, ist unter politischen Prämissen das größte denkbare Verbrechen.

Es war für Odysseus, nachdem er im Trojanischen Krieg ausgiebig von der Droge der Macht gekostet hatte, unmöglich in die provinzielle Mittelmäßigkeit zurückzukehren. Die Odyssee, der Aufbruch in den unbekannten atlantischen Ozean, war der ultimative Trip der Selbstverwirklichung, ganz ähnlich wie heute Tech-Milliardäre von der Mission zum Mars träumen. Dante Alighieri hatte vollkommen Recht als er Odysseus in die Tiefen des „Inferno“ verbannte.

Doch heißt das nicht, dass die Geschichte von Odysseus und Penelope nicht der Erzählung wert wäre. Ganz im Gegenteil. Gerade die Abgründe des Menschen sind es, die ästhetisch besonders fruchtbar und faszinierend sind. Die Wiedervereinigung von Penelope und Odysseus -  beide sind nach den Begriffen der damaligen Lebenserwartung alte Menschen - fokussiert sich denn auch ganz auf den narzisstischen Eros, erneut an jenen Höhepunkt der Macht anzuknüpfen, als Odysseus im trojanischen Krieg aufgrund seiner besonderen Begabung als skrupelloser Zyniker (was auch alle anderen großen Feldherren von Alexander über Julius Caesar und Wallenstein bis zu Napoleon waren) vom Provinzkönig zur Führungsfigur aufstieg.

Faurés Perspektiven

Auch wenn Fauré kein Kriegsheld war, so hatte er doch durchaus seinen Trojanischen Krieg und seine Odyssee. Frankeich war im 19. Jahrhundert die führende Kulturnation der Welt und in den 80er und 90er Jahren bewegte sich Fauré als junger Mann in den adeligen und großbürgerlichen Salons im innersten Herzen dieser Kultur, deren literarischer Chronist Marcel Proust war. Er begleitete die vermögenden Damen samt deren Entourage auf ihre Landsitze und korrespondierte endlos mit ihnen über alle möglichen künstlerischen und nicht-künstlerischen Projekte.

Fauré, gutaussehend und als „homme à femmes“ berühmt berüchtigt, hatte gewiss das eine oder andere Kirke- oder Kalypso- Erlebnis, und stieg dem einen oder anderem Dienstmädchen nach. Ähnlich wie Proust kannte er die narzisstischen Dynamiken seiner Gönnerinnen aus jahrelanger intimer Erfahrung in und auswendig, und spielte auf dieser Klaviatur mit ganz eigener Virtuosität. Die erotischen Elemente von „Pénélope“, die durchaus eine zentrale Rolle spielen, bewegen sich denn auch vor allem in der Sphäre der Freier.

Die gescheiterte Verlobung Faurés mit Marianne Viardot-García, in die er Hals über Kopf verliebt war, ein Erlebnis, das Fauré später als das größte Trauma seines Lebens bezeichnet hat, hat dieses Don-Juan-Element, in der das hedonistische Abenteurertum die innere Haltlosigkeit übertönt, gewiss noch weiter verstärkt. Und auch wenn Fauré dann heiratete und eine Karriere am Conservatoire machte, diese nervöse Unruhe wich nie gänzlich von ihm und ist auch in allen seinen Werken untergründig spürbar.

Als die Sängerin Lucienne Bréval, die mit der Rolle der Brünnhilde berühmt geworden war, Fauré mit der Idee einer Oper für sie bedrängte, mag das altvertraute Dynamiken bei Fauré in Gang gesetzt haben. Und neben dem Statement, das „Pénélope“ in Bezug auf die musikalische Ästhetik war, spielt bei Fauré ganz gewiss auch diese ganz private Komponente eine Rolle, sich nicht nur in die ästhetischen Gewissheiten der Vergangenheit zurück zu träumen, sondern auch in die „temps perdu“ einer großen Lebensliebe.

Richard Wagner

Gabriel Fauré macht keinen Hehl daraus, dass er sich in „Pénélope“ ganz an Richard Wagner orientierte. Merkwürdiger Weise war die Obsession mit Wagner (über die Alex Ross mit „Wagnerism“ ein sehr lesenswertes Buch geschrieben hat) aller Feindschaft zum Trotz in Frankreich ganz besonders stark ausgeprägt. Und so gibt es denn auch zahlreiche Wagner-Anklänge in „Pénélope“. Schon im Prélude findet der Tristan-Akkord ausgiebig Anwendung, das Spinner-Lied zu Beginn gemahnt an das entsprechende Stück aus dem „Fliegenden Holländer“ und die Hirtenmusik des 2. Aktes erinnert an den dritten Akt des „Tristan“ wie das heroisch punktierte Odysseus-Thema an entsprechende Motive aus „Siegfried“ und „Parsifal“.

Doch während in den frühen Werken Faurés die tristanesken Tinkturen den formal noch von Chopin und Schumann herkommenden Werken genau jenes Etwas an neuem Aroma verliehen hatten, was ihnen ihren einzigartigen Reiz verleiht, werden die späten Werke, und so auch „Pénélope“ oft vom wagnerianischen Gewicht niedergedrückt. Schon das „Prélude“ wirkt zu lang für seine musikalische Substanz, gerade wenn man es mit dem Tristan-Vorspiel vergleicht, das viel mehr „auf den Punkt“ ist.

Da leider auch das Libretto jene Verdichtung vermissen lässt, die für das Medium der Oper so essentiell ist, wundert einen nicht, dass es diese Oper nicht ins Repertoire geschafft hat (auch an der Staatsoper wurde sie zum ersten Mal überhaupt aufgeführt). Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“ ist nicht zuletzt deswegen ein Repertoirestück eben weil es Debussy schaffte, sich von Wagner zu emanzipieren und jenen wagnerianischen Ballast abzuwerfen, der Fauré Oper beschwert.

Trotzdem habe ich durchaus eine Schwäche für diese Oper, da sie ganz eigentümliche und individuelle Aromen und Gefühlsfacetten transportiert, die man in keiner anderen Oper findet. Viele davon befinden sich im bitteren und resignativen Spektrum, und offenbaren durchaus adäquat das melancholische Gefühl einer Endzeit. Auch der affirmative C-Dur Schluss wirkt gerade in seiner Falschheit richtig, ähnlich wie das Finale aus Mahlers 7. Sinfonie. Interessanter Weise berührt sich die Oper darin mit der anderen prominenten Vertonung dieses Stoffes, Claudio Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in patria“, die von ganz ähnlichen nostalgischen und resignativen Farben geprägt ist. Auch damals war die Renaissance Kultur mit dem 30-jährigen Krieg untergegangen.

Die Neuinszenierung

Die Regisseurin der Münchner Erstaufführung bei den Opernfestspielen, Andrea Breth, hat durchaus den richtigen Instinkt für das assoziativ Zerfahrene der Oper, und ihre Idee verschiedene Projektionen und Rituale der Protagonisten, die zudem als vergangenes oder zukünftiges Ich dupliziert wurden, quasi als obsessive „Kompartmentalisierung“ in mehrere Guckkästen auszustellen, hat etwas für sich und war auch künstlerisch konsequent umgesetzt.

Doch wirklich überzeugt hat mich die Inszenierung nicht. Der am Ende doch vor allem atmosphärischen Stofflichkeit der Oper stand dieser intellektuelle Zugang eher im Weg. Zudem wurde der bei Fauré oft obsessiv intime Charakter mancher Szenen, der von einer durchaus komplexen interpersonellen Kommunikation geprägt ist, durch den permanenten Bühnenaktionismus verunmöglicht.

Musikalisch war die Aufführung sehr ordentlich, doch nicht wirklich bemerkenswert. Victoria Karkacheva als Pénélope und Brandon Jovanovich als Ulysse fehlte es an echter Individualität, um einen Begriff von der Monstrosität dieser antik mythischen Figuren zu vermitteln. Der Dirigentin Susanna Mälkki gelangen die atmosphärischen Teile durchaus nicht schlecht, doch den bewegten Passagen fehlte es oft an Kontur.

Alles in allem war es, wie heute leider so oft, ein mittleres künstlerisches Erlebnis. Keineswegs schlecht, doch eben auch nicht wirklich überzeugend oder gar aufregend. Anders als 1913 kann man heute kaum mehr mit triumphalen oder gar skandalösen Erfolgen rechnen.

Photo credit: Bayerische Staatsoper München