Fortsetzungsroman
„Alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball.“
Albert Camus
Der eine Moment des Zorns, der Furor, der mir, meinem Vater, meinem Großvater, der meiner Familie so eigen ist, so eigen war und immer sein wird, überstrahlt alle meine Leistungen, meine Fähigkeiten, meine sportlichen Erfolge.
Es war ein herrlicher Abend, dieser Abend in Berlin. Glanzvoller hätte sich niemand das Ende einer strapaziösen Reise von zwei Jahren mit vielen Kämpfe ausmalen können.
Man hatte mich zurückgeholt. Zurückgeholt auf die große, auf die internationale Bühne. Zurückgeholt, um mit der Equipe Tricolore den Weltmeistertitel wieder nach Frankreich zu holen.
Die Menschen im Berliner Olympiastadion vibrierten vor Erwartungen; die einen in Erwartung unseres Sieges, die anderen wollten uns danieder liegen sehen, auf die Knie gezwungen. Seit Stunden fieberten sie dem Ereignis entgegen: Wann endlich pfeift der Schiedsrichter an!
Ich fühlte mich sicher. Bereits in den Momenten vor dem Spiel spürte ich meine Kraft, meinen Körper; meine Zweifel, meine Verzagtheit war verschwunden. Dieser Abend wird unser Triumph. Ich werde endgültig zur Legende werden.
Schon beim Einlaufen mit den anderen Spielern, um mich auf dem Rasen für das Finale aufzuwärmen, spürte ich dieses Gefühl, so wie in tausend Spielen zuvor und doch so einmalig.
Ich nehme nichts und niemanden und doch alle und alles wahr:
Da, genau vor mir, da sprechen sie jetzt über mich.
Er ist es, sagen sie jetzt, er wird heute den Sieg erringen. Er wird die Trophäe in den Nachthimmel stoßen. Das Bild wird millionenfach bewundert und in allen Zeitungen, auf allen Bildschirmen immer und immer wieder gezeigt werden.
Erster Schweiß kriecht zwischen den Schulterblättern hervor, Muskeln sind überall zu spüren. Die Geräusche in der Arena verschmelzen zu einem undeutlichen Brausen, doch ich blicke in Richtung der blau gekleideten Menschen, dorthin wo die französischen Laute klingen: „Allez les bleus!“
Jetzt noch dehnen und kurze Sprints, bevor wir zurück in die Katakomben gehen und in die von hilfreichen Geistern ausgelegten frischen Trikots schlüpfen.
Genau in diesem Moment beginnen seit Jahren meine Zwiegespräche mit meinem Gott. Mit den Gedanken bin ich bei meiner Familie. Bei meiner Frau und meinen Kindern, bei meinem Vater und bei meiner Mutter. Gerade von ihr habe ich mein Talent geerbt, in Bruchteilen von Sekunden eine Situation zu erfassen und dann das Richtige zu tun. Sie, meine Mutter, war häufig in Portugal bei Freunden. Dort, so erzählte sie, spricht man von desenrascanço, wenn jemand diese besonderen Fähigkeiten besitzt. Sie ist sehr stolz auf mich!
Von meinem Vater jedoch habe ich den Furor. Wild und unberechenbar erfasst er mich und ohne Ankündigung überfällt er mein Gemüt: Eine dunkle Wolke umhüllt mich, wenn mein Stolz verletzt wird, mein Stolz auf meine Familie. Den Stolz habe ich von beiden mitbekommen, vom Vater und von der Mutter.
Herrlich, die frischen Jerseys überzustreifen. Gemeinsam stehen wir jetzt im Gang, jeder Spieler, Hand in Hand mit einem Kind. Einem jungen Spieler, dessen Augen leuchten und dessen Erregung in der Hand zu spüren ist. Welch ein Erlebnis, für ihn und für mich. Hier in Berlin werde ich gekrönt werden, gekrönt zum König des Fußballs, zum zweiten Mal Weltmeister!
Ganz entfernt nehme ich die Marseillaise wahr, mit meinen Gedanken bin ich bei meinem Vater und meiner Mutter. Und ich danke meinem Gott für diesen Abend.
Wir spielen groß auf, von Beginn an spüren siebzigtausend Menschen in diesem Stadion: Dies ist mein letztes Spiel im französischen Trikot! Es wird alles übertreffen, was ich bisher erreichte.
Leichtfüßig setzte ich schon in den ersten Minuten die Stürmer in Position. Florent nimmt den Ball und dringt ein in den Strafraum der Italiener. Foul. Keine Zweifel, keine Proteste.
Der Ball lächelt mir zu, als ich ihn liebevoll auf den Elfmeterpunkt lege. Nochmals nehme ich ihn auf. Schön soll es sein, flüstere ich ihm zu, schön!
Der Schlenzer unter die Querlatte wird begleitet von einem tausendfachen Aufschrei der Begeisterung: Ein Jahrhunderttor! Einen Elfmeter unter dieser Belastung elegant zu schießen, das können nur ganz wenige Spieler auf der Welt. Mir ist es gelungen. Nichts steht dem Triumph mehr im Wege. Doch ich spüre die nachlassende Konzentration der Kameraden, noch ist das Spiel nicht zu Ende. Warum läuft Florent nicht mehr, wenn ich den Ball nach vorne treibe? Warum bleiben wir in der eigenen Hälfte? Die Italiener lassen nicht nach, sie greifen an. Spürt Patrick nicht die Gefahr: Dieser Materazzi, dieser ungehobelte Klotz, überspringt ihn, den eleganten Patrick. Gerade erst hatte Materazzi unseren Florent im Strafraum gefällt; wie mit einer Axt gefällt.
Jetzt macht er das Tor zum eins zu eins. Unglaublich, unfassbar. Gerade zwanzig Minuten sind gespielt. Es wird ein schweres Spiel werden.
Wir haben unseren Vorteil aus den Händen gegeben, unser Gemüt war geblendet von meinem schnellen Tor. Immer wieder überlaufen die Italiener unser Mittelfeld, was ist los? Warum hilft Ribéry nicht hinten aus? Er ist noch jung, er sollte mehr laufen!
Jetzt muss ich stärker den Takt vorgeben, in der eigenen Hälfte stabilisieren und den Rhythmus wieder aufnehmen. Die anderen spüren meine Ruhe; nach und nach gelingen wieder schnellere Stafetten. Ich hole Atem. Der Halbzeitpfiff hilft mir.
Wir sind besser! Mehr brauche ich nicht in der Kabine zu sagen. Die Zuversicht kehrt in den Gesichtern zurück. Raus. Weiter!
Schnell drängen wir die Italiener in ihre Hälfte, Henry überläuft die Abwehr. Doch immer wieder hält Buffon im italienischen Tor, dieser verdammte Buffon. Respekt.
Die Zeit läuft. Die Spielzeit wird gleich zu Ende sein, ich spüre es. Schnell Kräfte sammeln für weitere 30 Minuten. Und wieder gelingen uns schnelle Vorstöße; herrlich die Flanke von Willy. Ich habe den Ball im Visier, von hinten unterläuft mich Materazzi. Eine hinterlistige Attacke, ich kann den Ball nicht genau treffen. Noch 16 Minuten. Dann Elfmeterschießen. Gegen Buffon; das wird schwer, sehr schwer.
Die Entscheidung muss vorher fallen, sie muss. Wieder passt mir Willy den Ball in den Lauf. Etwas zu weit, ein Italiener kommt schneller an den Ball. Materazzi hält mich wieder von hinten fest, ich schüttele ihn ab, wie eine lästige Fliege. Jetzt kommt er auf meine Höhe, er ist wirklich einen Kopf größer als ich. Er hat keinen Respekt, dieser Materazzi: „Tua madre è una puttana!“ geifert er mir ins Ohr. Schnell gehe ich weiter, Richtung eigener Hälfte, schnell weg.
„Tua madre è una puttana!“ die Worte sind im Herzen gelandet. Mein Stolz ist getroffen. Blitzschnell drehe ich um, mit zwei, drei schnellen Schritten habe ich ihn gestellt, und strecke ihn mit einem Kopfstoß nieder.
Endgültig und für immer.
Vorbei.
Ein dummes Wort!
Jetzt stehe ich in Paris vor dem berühmten Museum und enthülle - gemeinsam mit meinem Gegenspieler - eine monumentale Plastik für die Öffentlichkeit.
Ein Kunstwerk - auf meinen Zorn reduziert.