„Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Samuel Beckett
Die Geschichte von Max Delbrück (1906-1981) kann man problemlos als eine Erfolgsgeschichte erzählen, wie sie in seiner Biographie zu finden ist.[1] Er gilt als Wegbereiter der Molekularbiologie, ist 1969 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet worden, und es gibt mindestens ein Institut, das seinen Namen trägt, das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin-Buch, das international als MDC Berlin bekannt ist. Delbrück ist in Fachkreisen früh durch das einflussreiche Buch „Was ist Leben?" berühmt geworden[2], das der Physiker Erwin Schrödinger am Ende des Zweiten Weltkriegs vorgelegt hat und dessen fünftes Kapitel eine „Besprechung und Prüfung von Delbrücks Modell" liefert, wie die Überschrift ankündigt. Schrödinger bezieht sich dabei konkret auf eine Arbeit, die Delbrück zusammen mit dem russischen Genetiker N.W. Timoféef-Ressovsky und dem deutschen Physiker K.G. Zimmer 1935 verfasst hat[3] und in der das interdisziplinär vorgehende internationale Trio erstmals den Vorschlag macht, Gene als „Atomverband" zu verstehen und dementsprechend Mutationen als „Umgruppierungen von Atomen" zu deuten, wie es bei Schrödinger heißt. Der große Physiker bringt in den 1940er Jahren seine viel gelesene Überzeugung zum Ausdruck, „dass die molekulare Erklärung der Erbsubstanz die einzig mögliche ist", und fügt dem unmissverständlich hinzu, „Wenn das Delbrücksche Bild versagen sollte, müssten wir alle weiteren Erklärungsversuche aufgeben."[4]
Campus Berlin-Buch. Modell eines menschlichen Herzens bei der Langen Nacht der Wissenschaften 2012 im Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin
Als Delbrück 1966 seinen 60sten Geburtstag feiern konnte, ehrten ihn seinen Kollegen mit der umfangreichen Festschrift „Phage and the Origins of Molecular Biology", die zu einem wichtigen Dokument der Geschichte der modernen Genetik geworden ist und deswegen zu Delbrücks 100stem Geburtstag in einer Centennial Edition neu aufgelegt wurde.[5] Der Name „Phage" im Titel kürzt das Wort Bakteriophage ab, mit dem Viren gemeint sind, die Bakterien angreifen, wobei Delbrücks große Leistung in den späten 1930er Jahren darin bestand, einen Weg zu finden, um die Konzentration von Phagen genau bestimmen zu können, was es erlaubte, die Virologie und die Molekulargenetik zu quantitativen Wissenschaften zu machen. Dabei hatte sich Delbrück in der frühen 1930er Jahren als Assistent von Lise Meitner noch Gedanken um die Frage gemacht, wie Licht von dem elektromagnetischen Feld eines Atomkerns abgelenkt wird, wobei seine Vorschläge aufgegriffen worden und in heutigen Physikbüchern zu finden sind, die sie als Delbrück-Streuung bezeichnen und berechnen.[6]
Keine Frage - die Geschichte von Max Delbrück kann man problemlos als eine Erfolgsgeschichte erzählen, aber wer dies unternimmt, übersieht, was ihm am Herzen lag und wichtig war. An seinen eigentlichen Zielen ist Delbrück nämlich gescheitert, wie auf den folgenden Seiten erzählt werden soll, wobei das eingangs zitierte Motto von Samuel Beckett nicht nur dazu dient, Delbrücks Vorgehensweise zu charakterisieren, sondern es auch erlaubt, den biographischen Hinweis zu geben, dass beide, der Dichter und der Wissenschaftler, im selben Jahr mit dem Nobelpreis geehrt worden sind. Allerdings ist Beckett nicht nach Stockholm gekommen, was Delbrück enttäuscht hat. Er hat sein Leben lang Becketts Werke gelesen und wollte den Dichter fragen, ob sein Molloy[7] in dem gleichnamigen Roman als ein Homo scientificus gedacht war. Delbrück hat Jahre später in Berlin versucht, Beckett diese Frage erneut zu stellen, und er ist dabei wieder gescheitert. Ob er besser gescheitert ist, wie es sich der Dichter vorstellen konnte, bleibt dabei offen.[8]
Der Atomverband
Der aus Berlin stammende Delbrück hat sein wissenschaftliches Leben in den 1920er Jahren als Student der Astronomie und Physik begonnen und in einer theoretisch-physikalischen Doktorarbeit 1929 den Versuch unternommen, die Bindung von Atomen zu verstehen und konkret die Stabilität von Lithiummolekülen zu erklären. Dabei kamen ihm die vielen Rechnereien, die damals noch ohne jede Computerhilfe mit der Hand auszuführen waren, bald „ziemlich stumpfsinnig" vor[9], und so begann er nach dem Abschluss der Dissertation sich umzusehen und nach anderen Formen und Möglichkeiten zu suchen, originell zur Wissenschaft beizutragen. Delbrück wurde fündig, als er Anfang der 1930er Jahre die Gelegenheit bekam, in Kopenhagen als Postdoc bei Niels Bohr zu arbeiten. 1932 hielt der große Däne einen Vortrag zur Eröffnung eines Kongresses für Lichttherapie, in dem er über „Licht und Leben" sprach und seine Ansicht verkündete, die Zeit sei gekommen, nach der Erneuerung der Physik und dem revolutionären Verstehen von Licht durch Albert Einstein und andere zu Beginn des 20. Jahrhunderts dasselbe für die Biologie zu unternehmen und beim wissenschaftlichen Arbeiten zu versuchen, auf „die Unmöglichkeit einer physikalischen Erklärung eigentlicher Lebensfunktionen" zu treffen und somit zu einer völlig neuen Deutung des Biologischen gezwungen zu werden. Bohr meinte, man müsse für das Leben etwas finden, das „analog zu der Unzulänglichkeit der mechanischen Analyse für das Verständnis der Stabilität der Atome sein dürfte"[10], und es ist nicht zu überlesen, dass im Mittelpunkt seines Vorschlags etwas steht, das nicht geht, etwas Unmögliches, etwas Unerklärliches, an dem man scheitern kann und das hinzunehmen ist und das Geheimnis des Lebens ausmacht.
Delbrücks Wirkungsstätte in Berlin: Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie (heute: Hahn-Meitner-Bau der FU Berlin, Thielallee 63)
Delbrück hatte damit ein großes Ziel vor Augen[11], und nach seiner Rückkehr nach Berlin nahm er Kontakt zu dem russischen Genetiker Nicolai Timoféef-Ressovsky auf, der sich in dem in Berlin-Buch angesiedelten Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung mit Fruchtfliegen (Drosophila) beschäftigte. Er analysierte Mutationen, die durch den Einsatz von Röntgenstrahlen zustande kamen und durch erhöhte Intensität vermehrt werden konnten. Delbrück verstand, dass die bis zu diesem historischen Zeitpunkt in den Zellkernen unzugänglich bleibenden Gene damit zu physikalischen Objekten wurden, für die er den Namen „Atomverband" vorschlug und deren Größe und Stabilität oder Veränderlichkeit (Mutationsrate) er durch die messbare Trefferquote der eingesetzten Strahlung von wechselnder Intensität zu berechnen hoffte. Wissenschaftshistorisch ist dabei von einer Targettheory oder Treffertheorie die Rede[12], der man inzwischen zugesteht, zum Verständnis der biologischen Wirkung von Strahlungen beitragen zu können, die Delbrück aber in den 1930er Jahren nicht geholfen hat, sein eigentliches Ziel zu erreichen, nämlich die Unzulänglichkeit einer mechanischen Analyse für das Verständnis der Stabilität der Gene zu erkennen, um Bohrs Worte aus der Rede über „Licht und Leben" aufzunehmen.
Als Bohr auf die Unmöglichkeit eines klassischen Verstehens der Stabilität von Atomen hinwies, hatte er das in Fachkreisen berühmte Experiment von Ernest Rutherford im Sinn, bei dem der Neuseeländer 1911 Alpha-Strahlen auf extrem dünne Goldfolien gelenkt hatte und bemerken musste, dass ein Teil der eingesetzten Alpha-Teilchen direkt auf ihn zurückkam.[13] Rutherford zog daraus den Schluss, dass die Atome in der Goldfolie - und nicht nur sie - einen Kern haben mussten, und wenn er im Anschluss an diese grundlegende Einsicht auch sofort das Bild entwarf, das er als das Saturn-Modell eines Atoms vorstellte, so wusste er doch, dass diese Konstruktion mit den Gesetzen der klassischen Physik unvereinbar war. Ein Atomkern musste nämlich von den Elektronen umkreist werden, die Physiker seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kannten, und wenn negativ geladene Teilchen beschleunigt werden - sonst können sie sich nicht im Kreis bewegen -, dann geben sie nach den Gesetzen der Physik Energie ab, und das liefert genau den Grund für die „Unzulänglichkeit der mechanischen Analyse für das Verständnis der Stabilität der Atome", wie Bohr es Anfang der 1930er Jahre genannt hat. Er selbst hatte 1911 mit Rutherford zusammengearbeitet und durch die Einführung von Quantenbedingungen das Saturn-Modell retten können, und Delbrück hoffte, mit seiner Treffertheorie etwas Vergleichbares erreichen zu können, was ihm verwehrt geblieben ist. Bohrs Atommodell von 1913 sorgte nicht nur für den Anfangserfolg der Quantentheorie, sondern machte auch die Grenzen der klassisch-physikalischen Denkweise deutlich. Genau solch eine Situation wollte Delbrück in der Biologie finden, wobei er sich zunächst um Fragen der Vererbung kümmerte.
Die Hinwendung zu den Phagen
Um es deutlich zu sagen: Delbrücks Ehrgeiz bestand darin, in der Biologie eine Versuchsanordnung zu finden und auf eine experimentell bedingte Situation zu treffen, die der Erfahrung entspricht, die Rutherford 1911 mit seinen Streuversuchen machen konnte und die einen Forscher dazu zwingt, die herkömmlichen Theorien - das klassische Paradigma - aufzugeben und durch eine völlig neuartige Erklärung zu ersetzen. Als er bei seinem ersten Schritt in die Biologie und der Zusammenarbeit mit Timoféef-Ressovsky und Zimmer das Erwünschte nicht erreichen konnte, half ihm ab 1937 ein Stipendium der Rockefeller Stiftung, in den USA einen nächsten Versuch zu unternehmen, wobei noch ein weiterer Rat von Bohr in Delbrücks Hinterkopf auf seine Chance zur Umsetzung wartete. In der Erinnerung von Delbrück hatte Bohr nämlich noch empfohlen, es in der Biologie (Genetik) zu machen wie in der Physik, also mit dem einfachsten System zu beginnen und sich von dort aus nach oben vor zu arbeiten. Bohr meinte, die Physiker hätten das Glück gehabt, das Licht des Wasserstoffs untersuchen zu können, und Delbrück hoffte nun für sein Vorhaben, das „Wasserstoffatom" der Biologie finden zu können. Als er 1937 am California Institute of Technology in Pasadena ankam - diese Universität hatte die Rockefeller Stiftung empfohlen, weil hier viel mit Drosophila gearbeitet wurde und man nirgendwo in den USA besser Genetik lernen konnte -, fand er zu seinem Entzücken einen Biochemiker namens Emory Ellis, der sich nicht mit Fliegen, sondern mit Viren und Bakterien beschäftigte, was Erforscher der Vererbung allein deshalb kalt ließ, weil man damals noch meinte, Bakterien kämen ohne Gene aus. In den nächsten Jahren konnte Delbrück - in Zusammenarbeit unter anderem mit dem italienischen Biophysiker Salvadore Luria - nicht nur zeigen, dass auch die Mikroorganismen ihr eigenes Erbmaterial haben, sondern auch, dass sich bakterielle Gene so zufällig verändern, wie es das evolutionäre Denken seit Charles Darwin forderte.
Um diese nobelpreiswürdigen Leistungen soll es hier nicht gehen, sondern darum, dass Delbrück meinte, in den Versuchen von Ellis, der mit seinen Untersuchungen zu den Bakteriophagen oder Phagen ursprünglich medizinische Absichten verfolgte und Infektionen und sogar das Auftreten von Krebs in den experimentellen Griff bekommen wollte, das ersehnte Wasserstoffatom der Biologie gefunden zu haben. Was konnte das sich entwickelnde Leben einem Forscher Einfacheres bieten als einen Phagen, der nichts anderes tat, als sich zu vervielfältigen und dessen Vermehrung Delbrück bald quantifizieren konnte, wobei ihm seine statistischen Kenntnisse aus der Physik zu Hilfe kamen. Delbrücks quantitative Analyse des Wachstums von Phagen trat seit den 1940er Jahren die Revolution der Molekularbiologie los, die 1953 ihren Höhepunkt begehen konnte, als die berühmte und elegante Struktur des Erbmaterials vorgestellt wurde, die Doppelhelix aus DNA[14] Doch als alle Welt feierte, zog sich Delbrück aus der Erforschung der Vererbung zurück und wandte sich einem völlig anderen Bereich der Biologie zu, nämlich der Sinnesphysiologie und der biochemischen Analyse von Wahrnehmung, wie jetzt zu erläutern ist. Mit der DNA kam es ihm so vor, als ob die Vererbung durch Chemie erklärt werden konnte, und Physiker wie Schrödinger und Delbrück versuchten möglichst ohne diese Disziplin auszukommen, was nicht gelingen konnte. Bei allem Respekt, den man Schrödingers „Was ist Leben?" zollt, sollte nicht übersehen werden, dass der Nobelpreisträge Max Perutz zum Beispiel scharfe Kritik an dem physikalischen Ansatz und den Bezug auf Delbrück übt, weil das Leben nicht ohne die Chemie verstanden werden kann, die ihre eigene Ebene zwischen der Physik und der Biologie einnimmt.[15] Für Perutz sind Delbrück und Schrödinger bei der Antwort auf die Frage „Was ist Leben?" gescheitert, weil sie die Chemie ignoriert haben. Als die Doppelhelix aus DNA deren Rolle überdeutlich machte, hat Delbrück das Feld der Genetik verlassen. Er musste etwas Neues versuchen.
Der Rückzug aus der Genetik
Wer nach tieferen Gründen für Delbrücks plötzlichen Rückzug aus der Molekulargenetik Schritt sucht, wird auf eine dialektisch anmutende Form des Scheiterns treffen. Sie ergibt sich aus dem Hinweis, dass Delbrücks Forschungsziel bei der Erkundung der Gene nicht darin lag, einen überschaubaren (biochemischen) Mechanismus für die Vererbung von Zellen zu finden. Er wollte eher das Gegenteil und hoffte darauf, beim Eindringen in den Zellkern die Erfahrung wiederholen zu können, die Physiker wie Rutherford in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg beim Auffinden von Atomkernen machen konnten. Deren Existenz konnten physikalische Experimente zwar nachweisen, aber ihr Vorhandensein ließ sich nicht mit der ansonsten triumphal wirkenden Physik des 19. Jahrhunderts vereinbaren.[16]
Rutherfords Versuche ließen unübersehbar das Scheitern der klassischen Physik erkennen, und Delbrück wollte Vergleichbares erreichen und wie der Neuseeländer mit wohl bedachten und klar zu deutenden Experimenten eine Grenze für das klassische Denken - diesmal nicht für die Atome, sondern für die Zellen - ausfindig machen. 1953 gewann Delbrück im Angesicht der Doppelhelix den Eindruck, die Fragen der Vererbung ließen sich von nun an in einem mechanischen Rahmen mit biochemischen Modellen klären, und das wollte er anderen überlassen. Ihm selbst erschien es langweilig. Also ließ Delbrück 1953 die Gene links liegen und zog auf das Feld der Sinneswahrnehmung in der Hoffnung um, hier sein konzeptionelles Glück im experimentellen Unglück finden zu können.[17] Als Objekt wählte Delbrück einen kleinen Pilz mit Namen Phycomyces[18], und indem dessen Nennung jetzt vor allem Stirnrunzeln hervorruft, zeigt sich unmittelbar, dass dieses Projekt gescheitert ist. Delbrück hat das selbst so gesehen und am Ende seines Lebens eingestanden, er sei „sick at heart at the unsolved state of the problem"[19], wobei er konkret die von ihm jahrzehntelang untersuchte scheinbar einfache Frage im Auge hatte, auf welches Signal aus der Umwelt der Pilz reagiert, wenn er in der Nähe eines Hindernisses aufwächst und es ihm gelingt, ihm auszuweichen. „Avoidance response" - Vermeidungsreaktion oder Ausweichverhalten - so nennen die Physiologen diese Fähigkeit von Organismen, an Gegenständen vorbei zu kommen oder um sie herum zu wachsen, und die schlichte Frage, an deren Antwort Delbrück bis zuletzt gescheitert ist, lautete: Mit Hilfe welcher Signale nimmt Phycomyces wahr oder bemerkt der Pilz, dass er auf eine Wand zuwächst und ihr besser ausweichen sollte, wenn er ins Offene will, um dort Platz für sich und seine Sporen zu finden, mit denen sich die Nachfahren bilden können?
Anpassungen
Als Delbrück den Pilz wählte, entschied er sich gegen das damals vorherrschende Untersuchungsobjekt der Sinnesphysiologie, nämlich das Auge. Zwar hoffte er, dass die klassische Denkweise auch hier irgendwann scheitern müsse, deren theoretische Grundlage in der Idee einer (linearen) Signalumwandlungskette bestand - Delbrück konnte sich nicht vorstellen, dass der Weg vom physikalischen Signal, das ins Auge gelangt, bis zum bewussten Sehen lückenlos durch mechanische Umwandlungen zu beschreiben sein könnte -, aber ihm schien, dass ein Einzeller wie Phycomyces eher die Stelle aufspüren ließ, an der ein neues Denken nötig wurde, wie es die Existenz von Quanten in der Physik mit sich gebracht hat. Delbrück lockte vor allem die Fähigkeit zur Adaptation, mit der Organe und Organismen sich den jeweiligen Bedingungen in ihrem Umfeld anzupassen vermögen. Delbrück begeisterte dabei eine Besonderheit von Phycomyces, deren Analyse ihm die Chance zu bieten schien, Bohrs Ideen zu „Licht und Leben" umzusetzen.
Die auffälligste Reaktion des Pilzes besteht darin, auf eine Lichtquelle zuzuwachsen. Man spricht vom Phototropismus, und wenn die Strahlen aus einer Richtung kommen, wächst Phycomyces permanent dorthin. Was biologisch sinnvoll ist, wirkt rätselhaft, wenn man den Pilz von zwei gegenüberliegenden Seiten anleuchtet. Er wächst zunächst schneller - man spricht von einer Lichtwachstumsreaktion -, um sich bald der Helligkeit anzupassen und zur alten Rate zurückzufinden. Die Frage lautet, wie die tropische Reaktion diese Adaptation umgeht und permanent auf die Lichtquelle zuwachsen kann, die in der Natur eine Lichtung wäre und anzeigt, wo günstiger Lebensraum zu finden ist. Die Antwort ergibt sich daraus, dass Phycomyces nicht gradlinig in die Höhe wächst, sich vielmehr im Kreis dreht und dabei dem Licht immer einen anderen - noch nicht angepassten - Teil seiner Zellwand zuwendet und so dauerhaft ins Offene streben kann. Delbrück faszinierte diese Fähigkeit eines Pilzes, der noch weitere Überraschungen für den bereit hielt, der sich im Detail auf ihn einließ, aber trotz jahrzehntelangen Bemühens ist Phycomyces nicht der Phage der Sinnesphysiologie geworden, wo wie es der Phage zum Wasserstoffatom der Vererbung geschafft hat.
Beim Nachdenken über die Frage, wie Delbrück an einem so kleinen Pilz mit einer einfachen Frage scheitern konnte, fällt mir ein Gespräch mit Barbara McClintock (1902-1992) ein. Die große alte Dame der Genetik meinte, „he fools him", Phycomyces hält den Professor zum Narren. Man braucht „a feeling for the organism", wenn man Leben verstehen will, und darf aus den Organismen keine Objekte einer Begierde machen, die sich berechnen lassen.[20]
Die Idee der Verschränkung
Heute kann man ruhig sagen, dass Delbrücks Versuche, die Anfänge der Wahrnehmung mit Hilfe von Phycomyces zu verstehen, insgesamt gescheitert und vergessen sind. Kann man daraus lernen? Delbrück hat sich unter anderem für den Pilz entschieden, weil das ganze Leben, das sich da vor einem aufrichtet, reagiert und wächst, aus einer Zelle besteht. Auf den ersten Blick leuchtet die Idee ein, mit einer solchen Vorgabe müsse sich leichter erfassen lassen, wie Licht seine Wirkung im Leben erzielt, als etwa durch Untersuchungen im Auge, wo unterschiedlichste Zellen koordiniert miteinander und mit wechselnden Molekülformen agieren müssen, um die Signale der auf der Netzhaut empfangenen physikalischen Strahlen erst in biochemische Reaktionen und dann in nervöse Signale umzuwandeln. In dem Pilz läuft alles in einem scheinbar überschaubaren zellulären Raum ab, und in ihm sollte man doch die einzelnen Komponenten der vermuteten Signalumwandlungskette durch biochemische Analysen ausfindig machen und Einblick in die sinnlichen Reaktionen gewinnen können, wie nicht nur Delbrück meinte und probierte (wobei anzumerken ist, dass ihn die ungeliebte Chemie hier erst recht einholte und in den theoretisch-physikalisch gedachten Weg stellte).
Doch die Hoffnung auf eine Hilfe durch das einzellige Dasein hat sich inzwischen als Fehlschluss erwiesen, und tatsächlich bedeutet diese Existenzweise des Pilzes, dass er sein Innenleben nicht allein den dort versammelten Molekülen und ihren messbaren Reaktionen verdankt, sondern eine ganzheitliche Qualität entfalten muss, die inzwischen als „Verschränkung" bezeichnet wird, wobei das ursprünglich von Schrödinger in die Physik eingeführte Konzept „Entanglement" in der Biologie ausdrücken will, dass Pilze ein „Verwobenes Leben" führen, wie ein Buchtitel es ausdrückt.[21]
Phycomyces führt ein verwobenes Leben. Der Pilz beginnt sein Leben als eine Spore, die auskeimt und mit Fäden einen Teppich ausbildet, der Myzel heißt und in dem sich alle möglichen Netzwerke bilden, die flexibel agieren, Informationen austauschen und sich unaufhörlich umgestalten. Dieser quirligen Verwobenheit oder Verschränkung des Lebens fügt das einfallende Licht eine weitere Komponente hinzu, die sich nicht ohne weiteres mit dem Ansatz der traditionellen Molekularbiologie fassen lässt und im zellulären Gewimmel untergeht, ohne dass die einsetzenden Reaktionen einzeln identifiziert werden zu können. In jeder Zelle steckt ein Stück der Geschichte des Lebens, das sich seit Milliarden von Jahren entwickelt, und man kann nur scheitern, wenn man bloß mit ihm spielen will und als Antwort auf eine Frage die Angabe einer bestimmten Molekülkonstellation erwartet, wie es als selbstverständlich galt, als alle Welt im molekularen Paradigma dachte. Delbrück ist an Phycomyces zum einen gescheitert, weil er sich von der vernünftig wirkenden Idee der einen Zelle hat blenden lassen und dem Objekt seiner Begierde mit zu wenig Gefühl begegnet ist, wie Barbara McClintock meinte, die Organismen nie als reine Reiz-Reaktions-Schemen angesehen und ihnen dafür eine eigene Raffinesse bescheinigt hat. Delbrück ist an Phycomyces merkwürdigerweise zum zweiten gescheitert, weil der das, was Niels Bohr mit der „Lektion der Atome" meinte, nicht weit genug bedacht und auf das Ganze bezogen hat, mit dem hier der Pilz und seine Umwelt gemeint sind. „Licht und Leben" sind verschränkt, und nicht anders zu haben.
Die Idee der Komplementarität
Abschließend soll noch einmal auf Bohrs Einfluss auf Delbrück eingegangen werden, um die Idee der Komplementarität anführen zu können, mit der Bohr 1928 auf die Tatsache reagierte, dass die Physik das Licht sowohl als Teilchen als auch als Welle zu verstehen hatte. Komplementarität meint konkret, dass eine Messung, die Licht als Welle betrachtet, nicht zugleich auch seinen partikulären Charakter untersuchen kann. Es geht um sich gegenseitig ausschließende Zugänge zur Natur, und als Delbrück 1962 in Köln half, an der dortigen Universität ein Institut für Genetik einzurichten, lud er Bohr ein, sein altes Thema „Licht und Leben - noch einmal" zu betrachten, was konkret bedeutete, dies vor dem Hintergrund der Molekularbiologie zu unternehmen, die inzwischen ihre Triumphe feierte.[22] Delbrück hoffte nämlich, bei allen Erfolgen immer nur „gegen eine neue Art von Komplementarität anzurennen", und in seinem Einladungsschreiben versicherte er Bohr, dass die Idee der Komplementarität „in all diesen Jahren das einzige Motiv für meine Arbeit war".[23]
Ihr Scheitern steckt auch hinter dem 1953 vollzogenen Wechsel von der Genetik zur Physiologie, denn in Delbrücks Sicht hat „die Entdeckung der Doppelhelix in der Biologie erreicht, wonach man sich in der Physik so gesehnt hatte. Nämlich die Auflösung aller Wunder in Form von klassisch mechanischen Modellen"[24]
Wenn man will, kann man sagen, dass Delbrücks eigentliches Ziel darin bestand, der Biologie die philosophische Höhe oder Tiefe zu geben, die die Physik dank der Komplementarität erreicht hatte. Er war davon überzeugt, dass die Annahmen, die zu einer kausalen Ordnung der biologischen Phänomene gehören, teilweise in Widerspruch zu den Gesetzen der Physik stehen, und zwar deshalb, „weil die Experimente am lebenden Wesen mit Sicherheit komplementär sind zu solchen, die die physikalischen und chemischen Vorgänge mit atomarer Genauigkeit festlegen".[25]
Delbrück hätte gerne mit seinen Kollegen darüber gestritten. Aber sie waren anders beschäftigt. Auch so kann man scheitern. Er hat es immerhin versucht. Immer wieder, bis zuletzt.
Fischer E.P., Das Atom der Biologen, München 1988 ↩︎
Schrödinger, E., Was ist Leben? (mit einer Einführung von Fischer, E.P.), München 1987 ↩︎
Timoféef-Ressovsky, N.W., Zimmer, K.G. und Delbrück, M., Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur, Nachr. Ges. Wiss. Göttingen (1935), Math.-Phys. Kl. Fachgruppe 6, Nr. 13, 190 - 245 ↩︎
Ref. 2, S. 106 ↩︎
Cairns, J., Stent, G.S. und Watson, J.D. (Hrsg.), Phage and the Origins of Molecular Biology, New York 1966, Centennial Edition New York 2007 ↩︎
Rohrlich, F. und Gluckstern, R.L., Forward Scattering of Light by a Coulomb Field, Phys. Rev. Band 86, S. 1-9 (1952) ↩︎
Beckett, S., Molloy, erschienen 1951, verschiedene Ausgaben (Suhrkamp Verlag) ↩︎
Fischer, E.P., Davon glaube ich kein Wort, Stuttgart 2020 ↩︎
Ref. 1, S. 45 ↩︎
Bohr, N., Atomphysik und menschliche Erkenntnis I, Braunschweig 1964, S. 10 ↩︎
Den Eindruck von Bohrs Rede auf Delbrück findet man ausführlich geschildert in Fischer, E.P., Das Licht, das Leben und die Liebe, Stuttgart 2021 ↩︎
Pontecorvo, G., Trends in Genetic Analysis, New York 1958 ↩︎
Rutherford, E., The Scattering of α and ß Particles by Matter and the Structure of the Atom, Philosophical Magazine 6 (21), S. 669-688 (1911) ↩︎
Ausführlich in Fischer, E.P., Das Atom der Biologen, München 1985. ↩︎
Kilmister, C.W., Schrödinger – Centenary celebration of a polymath, Cambridge 1987 ↩︎
Fischer, E.P. Die andere Bildung – Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte, Berlin 2001 ↩︎
Delbrück, M., Anfänge der Wahrnehmung, in von Ditfurth, H. (Hrsg.), Mannheimer Forum 1972 ↩︎
Cerdá-Olmedo, E. und Lipson, E.D. (Hrsg.), Phycomyces, New York 1987 ↩︎
Geschrieben in einem Brief an den Autor im Februar 1981 ↩︎
Evelyn Fox Keller, Barbara McClintock – Die Entdeckerin der springenden Gene, Basel 1995 ↩︎
Merlin Sheldrake, Verwobenes Leben – Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen, Berlin 2020; das Buch heißt im Original „Entangled Life“ und greift damit auf die im Text genannte Idee der Verschränkung zurück, die aus de Physik stammt und hier zum Ausdruck bringt, dass die physikalische Realität ein Ganzes ist, das gar keine Teile kennt. Auch das Leben ist ein Ganzes, in dem gerade die Pilze keine abtrennbaren Teile ausmachen. ↩︎
Bohr, N., Licht und Leben – noch einmal, Naturwiss. 50, 725 (1963) ↩︎
Ref. 1. S. 72 ↩︎
Ref. 1. S. 73 ↩︎
Ref. 1. S. 74 ↩︎
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