Jana schreibt...
Wir wollen doch nur das Beste für unsere Kinder. Ein Satz, den ich eigentlich oft höre oder lese. Dennoch wurden zuletzt für 2019 knapp 55 500 Fälle von Kindeswohlgefährdung registriert.
Und eins ist sicher, es sind noch viel mehr Kinder und Jugendliche täglich gefährdert, indem sie verbaler und körperlicher Gewalt ausgesetzt sind. Und es ist noch etwas sicher: Die Fälle werden noch einmal durch unsere aktuelle Situation, die nun mehr als ein Jahr andauert, zugenommen haben.
Umso wichtiger ist es, dass wir aufmerksam sind und lernen zu reagieren und richtig zu handeln. Dieser Beitrag soll euch aufmerksam werden lassen und mögliche Handlungsoptionen geben, wenn ihr Gewalt an Kindern bemerkt; denn eins ist uns zu selten bewusst: Hinter jeder Zahl steckt ein Fall und hinter jedem Fall steckt ein Kind. Ein Kind, wie wir es selber einmal waren oder ein Kind, das genau die gleichen Bedürfnisse hat, wie unsere eigenen Kinder, die Kinder unserer Familie und unserer Freunde.
Beruflich habe ich die Erfahrung gemacht, dass pädagogische Fachkräfte und Fachkräfte, die mit Kindern arbeiten, regelmäßig nicht Bescheid wissen, wie im Fall von gemachten Beobachtungen oder Vermutungen im Rahmen von Kindeswohlgefährdungen rechtlich korrekt vorgegangen wird. Es ist immer gut und wichtig, im Team zu arbeiten. Es ist aber noch besser und wichtiger, die Beobachtungen an die richtige Stelle weiterzugeben.
Es sei nur am Rande erwähnt, dass wir uns strafbar machen (können), wenn wir nicht handeln.
Einleitend möchte ich euch etwas erzählen. Da gab es mal einen Vorfall, der mich bis heute immer wieder zum Nachdenken bringt. Ich möchte davon berichten und aufzeigen, welche Optionen es gibt, zu handeln.
Wir saßen in einem Ikea-Restaurant, unser ältester Sohn war zwei Jahre alt. Es war schön, wir waren auf dem Rückweg aus dem Urlaub und unser Sohn hatte sich total in einen Stofftierhund verliebt und schleppte ihn bereits seit einer halben Stunde mit sich umher, obwohl der Hund gefühlt genauso groß war wie er. Nebenbei spielte er mit anderen Kindern im Spielbereich des Restaurants. Wir aßen etwas und beobachteten unseren Sohn. Zucker, wie er da stand mit seinem Hund im Arm.
Und dann war da eine Mutter, die ihre zwei Kinder, beides Mädchen etwa 2 und 4 Jahre alt, rief, sie sollten kommen. Die beiden Kinder reagierten nicht. Ich konnte sie verstehen; so viele Kinder hier zum Spielen und dann der schöne Spielbereich. Es gab einfach jede Menge zu entdecken. Die Mutter rief ein zweites Mal. Nervensäge! Aber gut, man muss halt irgendwann diesen Ort verlassen. Wir hatten ja zum Glück keinen Zeitdruck und ich konzentrierte mich lieber wieder auf uns. Ganz ignorieren konnte ich sie dann aber doch nicht. Sie war zu groß und zu laut. Und dann, ich war mir nicht sicher, ob ich es wirklich richtig wahrgenommen hatte, weil diese Frau mich einfach störte und aufgrund ihres Auftretens schlichtweg unsymphatisch war, meinte ich, gesehen zu haben, dass sie ihrer älteren Tochter auf den Po schlug. Ich wurde aufmerksam und registrierte, dass die Kleine ihrer Mutter nun aus dem Restaurantbereich folgte. Trotzdem wirkte die Mutter – im Übrigen war noch eine ältere Frau dabei, ich vermutete die Oma – total genervt.
Ich beobachtete die vier nun und just in dem Moment schlug die Mutter der Kleinen erneut auf den Po. Ich war erschrocken. Ich hatte es dieses Mal gesehen, aber mein Mann nicht. Ich erzählte es ihm und ich schaute mich gleichzeitig im Restaurant um. Irgendjemand musste das doch auch wahrgenommen haben? Waren alle in ihrer Astrid-Lindgren-Schweden-Traumwelt unterwegs, in der ich gerade auch noch war oder störte sich tatsächlich niemand daran, dass ein Kind, eben noch spielend zwischen vielen anderen Kindern, einfach geschlagen wurde? Diese Situation war so surreal, so verwirrend und passierte so schnell. Die Kinder gehorchten, die Oma schwieg, die Mutter schien sichtlich zufrieden und ganz ruhig. Ich fragte mich, ob ich das irgendwie überinterpretierte, stellte diese Frage laut und wir entschieden uns, aufzustehen, die Familie zu beobachten. Wir wussten nicht, ob und wie wir einschreiten sollten.
In der Theorie hatte ich mal gelernt, dass Opfer immer angesprochen werden sollen. Aber waren diese beiden Mädchen Opfer? Sie waren doch so niedlich gekleidet, die Oma sah nett aus, die Mutter gefiel mir nicht, aber das war doch mein persönliches Empfinden und vielleicht hatte sie ja einen Grund so gereizt zu sein? Meine Gedanken kreisten, während wir die Rolltreppe runterfuhren, um der Familie zu folgen, um uns im Klaren zu werden, ob und wie wir handeln können. Die Familie war aus unserem Sichtfeld verschwunden, wir fanden sie nicht wieder.
An diesen Moment muss ich oft denken, wenn ich den Hund im Bett unseres Sohnes wahrnehme. Keiner hat reagiert und wir haben an der Situation gezweifelt, warum ist das so?
An dieser Stelle muss gesagt werden, wir haben versagt. Egal, was die Mutter veranlasst hat, so zu reagieren, ein Schlag, und auch, wenn es „nur ein Klaps auf den Po“ war, darf nicht toleriert werden. Die Frau, in dem Fall die Mutter, hat körperliche Gewalt gegen ein Kind gerichtet und das ist strafbar.
Auch wenn ich immer wieder lese und höre, dass die Ohrfeige und der Klaps auf den Po oder auf die Hände doch niemanden schaden – ganz im Gegenteil war ja früher eh alles besser und die Kinder heutzutage sind alle falsch erzogen, weil sie keinen Respekt haben – wünschte ich mir, dass genau diese Erwachsenen es schaffen, in sich reinzuhorchen, in ihr kindliches Ich, um herauszufinden, ob sie wirklich mit dieser Meinung d'accord gehen. Aber genau das ist einer der Gründe, warum wir nicht handeln. Wir schützen uns selbst mit diesen Aussagen, um mit uns im Reinen zu bleiben und das ist auch gut und wichtig so. Aber es ist noch besser und wichtiger, uns zu hinterfragen. Für uns, unser seelisches Wohlbefinden und das der Kinder.
Und wenn wir uns einmal damit auseinander gesetzt haben und bemerken, dass es falsch ist – ja verdammt! – Gewalt anzuwenden, können wir handlungsfähig werden.
Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten und sie sind natürlich immer situativ abzuwägen.
Die nun folgenden Darstellungen entsprechen meiner Erfahrung als Mama und als Erziehungswissenschaftlerin. Das heißt, ich habe den Versuch gestartet, theoretisches Wissen praxisnah zu gestalten.
Es ist egal, in welcher Rolle ihr euch gerade befindet. Es kann sein, dass ihr in ein pädagogisches Setting eingebunden oder als Privatperson unterwegs seid, Gewalt an Kindern kann plötzlich ganz nah sein und dann müssen wir handeln.
Zunächst geht es darum (1) aufmerksam zu sein und zu registrieren, dass da etwas nicht stimmt. Und dann ist es wichtig, (2) zu beobachten. Manchmal habt ihr die Zeit dafür und manchmal müsst ihr schnell handeln, so wie in meinem Fall. Trotzdem ist es wichtig, sich die Zeit zu nehmen, (3) bewusst zu machen, in welcher Rolle ihr euch befindet und wie ihr in dieser Rolle der Person, die einem Kind Gewalt antut, gegenübertretet. Und dies sollte immer und zu jedem Zeitpunkt freundlich sein. Denn dann können wir davon ausgehen, dass die uns gegenüberstehende Person dies wahrnimmt, auf uns besser eingehen kann und eher reagiert, als wenn wir mit ebengleicher aggressiven Haltung auf die Person zugehen. Im Idealfall können wir (4) mit ruhiger, aber bestimmter Stimme und Tonfall der Person gegenübertreten. Eine erste Frage könnte sein: „Kann ich Ihnen helfen!“. Es wird für Irritation sorgen. Am besten bemerkt der Gegenüber, dass er/sie gerade falsch gehandelt hat. Diesen Moment könnt ihr nutzen, weitere Fragen zu stellen oder darauf aufmerksam zu machen, dass ihr die Situation gerade als unangenehm empfandet. Möglicherweise reicht das schon.
Es kann natürlich auch passieren, dass ihr eine Situation nur aus der Ferne beobachtet, euch nicht traut oder es falsch wäre, einzuschreiten, weil die Person aggressiv ist oder ihr Angst habt, einfach weil dem so ist. Dennoch ist es dann wichtig, (5) andere Personen auf die Situation aufmerksam zu machen und/oder die Polizei anzurufen.
Es gibt aber noch eine weitere Möglichkeit und zwar dann, wenn die Sitation weniger eindeutig ist und sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Dann gibt es unterschiedliche Handlungsoptionen. Es ist egal, ob es dich als Privatperson betrifft oder als Fachkraft. Ich empfehle in diesem Fall grundsätzlich nicht die Polizei als ersten Ansprechpartner. Es wäre nicht falsch, diese zu informieren, aber sie hat – wenn die Situation nicht akut ist – keinen Grund zu handeln und wird darauf verweisen. Zudem ist die Polizei breit aufgestellt und nicht immer allwissend.
Es ist immer sinnvoll, sich mit anderen im Team zu besprechen. Dennoch benötigt es immer noch weitere Schritte. Ich empfehle das Jugendamt vor Ort anzurufen. Es ist wichtig zu betonen, dass es um gemachte Beobachtungen geht und eine Beratung erwünscht ist. Die Beratung kann anonym erfolgen. Ganz wichtig, es gibt Fachkräfte, sogenannte ISEFs (insofern erfahrene Fachkräfte), die vom jeweiligen Jugendamt gestellt werden und/oder in Beratungsstellen tätig sind. Das Jugendamt kann entsprechend vermitteln. Eine ISEF muss auch immer dann hinzugezogen werden, wenn eine mögliche Gefährdung eines Kindes vorliegt. Das heißt, erstens beraten ISEFs und zweitens geben sie eine Einschätzung ab, ob eine Gefährdung für ein Kind vorliegt. Es ist also wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, ob ihr euch mit einer ISEF beratet oder ob es konkret um eine Einschätzung hinsichtlich einer möglichen Kindeswohlgefährdung geht.
Abschließend kann ich anhand meiner Erfahrungen nur den Appell an alle Leser*innen richten, einzuschreiten, wenn ihr physische wie auch psychische Gewalt an Kindern erlebt. Nicht, weil ihr euch ansonsten auch strafbar machen könnt, sondern vielmehr, um den Kleinsten unter uns zu helfen. Doch auch ihr seid dabei nicht allein, sondern könnt euch an Experten wenden, die das passende Know-How für jeden Fall haben.
Quellen: Statistisches Bundesamt, Kinderschutz-Netz, Bundesamt für Justiz
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