Bundeskanzler Olaf Scholz kündigt in einer Fragestunde im Bundestag an, Sexarbeit eindämmen zu wollen. In Deutschland, dem angeblichen "Bordell Europas", gebe es viel zu viel sexuelle Ausbeutung. Stimmt das?

Wenn man nicht weiter weiß, hilft zunächst ein Blick auf die Fakten. Doch hier gibt es leider ein Problem, denn: Niemand weiß, wie viele Sexarbeiter/innen in Deutschland arbeiten. Auf der einen Seite gibt es die offiziellen Zahlen der tatsächlich registrierten Sexarbeiter/innen: Ende 2022 waren das 28.280. Auf der anderen Seite steht die Dunkelziffer, die je nach Schätzung höher oder niedriger ausfällt. Die meisten Schätzungen gehen von 200.000, 250.000, 400.000 oder einer Million Prostituierten aus.

Eine aktuelle Studie von Erobella kommt jedoch zu überraschenden Ergebnissen, die weit von den allgemein angenommenen Zahlen abweichen. Laut dieser Studie wird es im Jahr 2023 etwa 88.800 Sexarbeiter:innen in Deutschland geben.

Doch zunächst ein Blick zurück: Historisch betrachtet tauchte die Zahl von 200.000 erstmals 1985 auf einer kirchlichen Tagung auf und wurde in der Folge von verschiedenen Quellen und Organisationen aufgegriffen und variiert. Eine Schätzung der WELT aus dem Jahr 2013, die wiederum auf einer Hochrechnung von Daten aus Augsburg basiert, kommt auf rund 200.000 Prostituierte in Deutschland, wobei diese Zahl nur für wenige Großstädte repräsentativ ist.

Die Studienmacher von Erobella sind für ihre Analyse dagegen wie folgt vorgegangen:

Wir haben die tatsächliche Zahl der registrierten Sexarbeiter/innen in den 20 größten deutschen Städten ermittelt.
Für 14 dieser Top-20-Städte konnten wir verlässliche Schätzungen für die tatsächliche Zahl der Sexarbeiter finden.
Wenn die Jahre der registrierten und der geschätzten Zahlen nicht übereinstimmten, haben wir die registrierten Zahlen aus demselben Jahr (+/- 2 Jahre) wie die geschätzten Zahlen verwendet, um sicherzustellen, dass die Daten übereinstimmen.
Für diese 14 Städte mit zuverlässigen Daten zu den registrierten und geschätzten Zahlen wurde dann das Gesamtdelta zwischen registrierten und geschätzten Zahlen berechnet: Es betrug 214 % (d.h. auf jede registrierte Sexarbeiterin kamen 2,14 nicht registrierte Sexarbeiterinnen).
Im Jahr 2022 gab es 28.280 registrierte Sexarbeiter/innen in Deutschland.
Wir können also einen Koeffizienten von 3,14 verwenden, um sowohl die registrierten als auch die geschätzten nicht registrierten Sexarbeiter/innen zu berücksichtigen.
Daraus ergibt sich eine tatsächliche Anzahl von Sexarbeitenden in Deutschland von 88.800.

Das Ergebnis von 88.800 deckt sich erstaunlich gut mit einer Analyse der Organisation Doña Carmen aus dem Jahr 2020. Hier wurde berechnet, dass es in Deutschland rund 90.000 Sexarbeitende geben muss.

In jedem Fall werfen die Ergebnisse dieser Studien Fragen auf, insbesondere im Hinblick auf die politischen Strategien und die öffentliche Wahrnehmung der Sexarbeit in Deutschland. So könnte die verbreitete Bezeichnung Deutschlands als “Bordell Europas” auf ungenauen und nicht evidenzbasierten Annahmen beruhen​​. Ob und inwiefern die Einführung des Nordischen Modells dann überhaupt noch eine Grundlage hat, darf in Frage gestellt werden.