Da ich mich in letzter Zeit damit beschäftig habe, dass manche Menschen an Glauben über Institutionen, Menschen, Ereignisse und unsere Umwelt festhalten, obwohl diese rational und logisch nicht haltbar sind, stellt sich bei mir immer wieder die Frage, warum Menschen von solchen Glauben nicht mehr abrücken, selbst wenn es offensichtlich wird, dass sie falsch liegen.
Es ist natürlich nicht möglich, in einem individuellen Fall oder bei einer individuellen Verschwörungstheorie genau zu wissen, welche Mechanismen jeweils zutreffen. In der der psychologischen Forschung gibt es jedoch verschiedene allgemeine Erkenntnisse, die erklären können, warum Menschen — völlig unabhängig von jeglichen Diagnosen — an Überzeugungen ungewöhnlich hartnäckig festhalten. Dazu gehören vor allem kognitive Verzerrungen, also typische Denkfehler, die jeder Mensch in unterschiedlichem Ausmaß zeigt. Ein klassisches Beispiel ist der Confirmation Bias – die Tendenz, Informationen zu bevorzugen, die das eigene Weltbild stützen (Hart et al, 2016, Hart et al., 2009; Lord et al., 1979; Nickerson, 1998; Stroud, 2007; Wason, 1960; Wason, 1968). Häufig findet man auch den sogenannten „Jumping-to-conclusions“-Bias, also das schnelle Ziehen weitreichender Schlüsse aus sehr wenig oder unvollständiger Information (Freeman et al., Clinical Psychology Review, 2006). Solche Verzerrungen sind nicht pathologisch — sie gehören zum normalen menschlichen Denken und sind auch sozial wichtig. Wir alle neigen dazu, diese Fehler zu machen. Die Methoden der Wissenschaft sind daher so aufgebaut, dass eine Voreingenommenheit möglichst eliminiert wird.
"Confirmation Bias"-basierte Glauben sind besonders stark bei Prozessen, bei denen ein Thema für den Gläubigen emotional besetzt ist. Häufig sieht man bei Mordfällen, die ja für die Angehörigen meist mit extremen Emotionen verbunden sind, dass sich auf einen Täter festgelegt wird (oder ein überführter Täter vehement als unschuldig angesehen wird). Entlastende (bzw. belastende) Beweise können diese Meinung dann mitunter nicht mehr ändern. Stattdessen wird nach Fehlern in der Beweiskette gesucht oder „wegrationalisiert“, was in der eigenen Vorstellung nicht sein darf. Es kommt auch immer wieder vor, so eine Anwältin, die mit solchen Fällen öfters zu tun hat, dass einzelnen Menschen vehement nachgestellt wird, weil jemand eine Vorstellung über sie hat, die nicht zutrifft. Meist, so erklärte sie, führen gerichtliche Entscheidungen ihrer Erfahrung nach aber dazu, dass irgendwann aufgegeben wird.
Oft wird in so einem Fall auch die Rationalisierung hinten angestellt: Die Forschung zur moralischen Psychologie zeigt, dass Menschen bei solchen Themen eher emotional-intuitiv reagieren als sie es sowieso schon tun, und erst im zweiten Schritt versuchen, diese Intuitionen rational zu rechtfertigen (Haidt, The Emotional Dog and Its Rational Tail, 2001). Das heißt, die Schlussfolgerung kommt zuerst und wird hinterher rationalisiert. Ich entscheide mich also erst, dass mein Nachbar, den ich sowieso schon nicht leiden kann, mir mit voller Absicht sein Laub über den Zaun wirft, und rationalisiere hinterher, dass es die letzten Tage auch gar nicht windig genug war, dass das Laub hätte herüberwehen können. Dabei ignoriere ich, wie nah die Äste des herbstlichen Laubbaums an meinem Zaun sind und dass das Laub nur dort zu finden ist, wo diese Äste sind.
Youtube hat zahlreiche Videos, darüber, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir Verschwörungtheorien folgen: Unser Gehirn, das sehr gut darin ist, Muster zu erkennen, schüttet Dopamin aus, wenn wir glauben, etwas entdeckt zu haben. Menschen, die genetisch hohe Dopaminlevel haben, neigen tatsächlich auch eher zu Verschwörungstheorien. Die Informationsvielfalt im Internet macht es uns zusätzlich leichter, irgendetwas zu finden, von dem wir glauben, dass es unsere Theorien bestätigt.
Insbesondere, wenn ein Glaube als moralisch extrem wichtig erlebt wird, kann es passieren, dass gegenteilige Fakten kaum noch psychologisch durchdringen, selbst wenn sie von Gerichten begutachtet und eingeschätzt werden. Anhänger von PeTA sehen sich beispielsweise auf einem moralischen Kreuzzug gegen Tierquälerei und halten PeTA für die einzige Gruppe, die sich wirklich intensiv dafür einsetzt. Sie ignorieren dabei, dass PeTA jährlich gesunde Tiere, die noch ein langes, glückliches Leben hätten haben können, zu tausenden euthanasiert - teils (so zeigen Klagen) sogar, kurz nachdem sie den Besitzern durch PeTA zu Unrecht entwendet wurden.
PeTA rationalisiert dies damit, dass die Haltung von Tieren an sich ein Fehler sei und man nur kranke und alte Tiere tötete. Dies stimmt zwar nicht, was auch statistisch im Vergleich zu Tierheimen belegt werden kann, aber es wird von den Anhängern sehr gerne geglaubt, um an den ethischen Glauben an PeTA festzuhalten. PeTA rationalisiert also post-hoc, dass sie moralisch handeln würden. Interessanterweise, ist es ausgesprochen menschlich, das eigene Handeln im Nachhinein als ethisch akzeptabel zu rationalisieren, selbst wenn es dies objektiv nicht war (Mulder and Dijk, 2020). Dies kommt bei allen Menschen vor, wenn auch häufiger bei denen, deren moralischer Kompasss nach gesellschaftlichem Verständnis schon grundsätzlich weniger stark ausgeprägt ist.
Eine weitere Erklärungsebene für das Festhalten an einen widerlegten Glauben betrifft das Selbstbild. Es gibt das Konzept der sogenannten Identity Fusion, also der Verschmelzung zwischen einer Überzeugung und der eigenen Identität (Swann et al., Self and Identity, 2012). Auch das ist kein Krankheitsbild, sondern ein sozialpsychologisches Modell. Es beschreibt, warum einzelne Personen Überzeugungen selbst dann nicht mehr aufgeben können, wenn sie faktisch widerlegt sind: Das Abrücken würde sich wie ein persönliches Scheitern oder wie ein Verrat an sich selbst anfühlen. Es bringt eine fundamentale Stütze des eigenen Persönlichkeitsbild ins wanken, und das ist emotional schwer auszuhalten. Man kann dies vielleicht als Derivat der Sunk-Cost-Fallacy einordnen, das man insbesondere bei religiösen Sekten beobachten kann, die schon viel Zeit, Geld und Arbeit in ihre Gemeinschaft investiert haben, sodass die Realisierung, dass dies alles für nichts war, auch emotional sehr teuer erscheint. Es wurde in so einem Fall also nicht nur Arbeit, Zeit und Geld investiert, sondern dazu noch ein erheblicher Teil der eigenen Persönlichkeit und des Selbstbilds darauf aufgebaut.
Daneben spielen soziale Dynamiken eine große Rolle, insbesondere auf Social Media. Forschungen zu Echokammern, kollektiven Fehldeutungen und Verschwörungsüberzeugungen zeigen, dass kleine Gruppen sich gegenseitig bestärken und radikalisieren können (siehe z.B. Douglas and Sutton., Annual Review of Psychology, 2019). In solchen Konstellationen wird selbst ein Gerichtsurteil nicht mehr als objektive Klärung gesehen, sondern kann als weiterer Ansporn gewertet werden, seine Sichtweise noch vehementer zu vertreten. Auch hier handelt es sich nicht um Diagnosen, sondern um nachvollziehbare gruppenpsychologische Mechanismen.
Menschliches denken und Handeln ist komplex - Emotionen, Investitionen, Sozialverbindungen und Selbstbildnis spielen in jeder Person und in jedem Kontext individuell zusammen. Am besten ist man selbst davor gefeit, indem man sich die unterschiedlichen Mechanismen bewusst macht und seine eigene Einstellung - besonders zu emotionalen Themen - regelmäßig hinterfragt und neu evaluiert. Das erfordert Intelligenz, eine Akzeptanz der eigenen Fehlbarkeit (was in unserer Sozialgesellschaft oft negativ bewertet wird) und die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu einem Thema mindestens kurzzeitig zu ignorieren.
Im idealfall fängt man heute damit an. Was hat mich in letzter Zeit aufgeregt und welche Meinung habe ich dabei gebildet? Ist diese wirklich objektiv?
Das muss man nicht in jeder Situation tun. Manchmal darf man auch einfach emotional sein. Dann ist der Autofahrer, der mich nassgespritzt hat, halt definitiv mit voller Absicht durch die Pfütze gefahren, weil er ein fieses Arschloch ist!!! So nämlich!
Alle genannten Konzepte sind theoretische Modelle, die lediglich zeigen, auf welchen Wegen Menschen im Allgemeinen Überzeugungen aufrechterhalten können, die von außen betrachtet schwer nachvollziehbar erscheinen. Sie sagen nichts darüber aus, ob sie in einem konkreten Fall tatsächlich zutreffen.
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