Die postmoderne westliche Gesellschaft von heute wartet mit der Ansicht oder dem Versprechen auf, dass alle Menschen ebenso einzigartig wie gleich seien. Die Regenbogenfahne der Queer-Bewegung lässt sich in diesem Sinne nicht nur als Symbol für sexuelle Neigungen interpretieren, sondern für alles, was sich überhaupt an Menschen charakterisieren und unterscheiden lässt. Kritiker, Skeptiker, Pessimisten sehen darin eine "Atomisierung" der Gesellschaft, einen hypertrophierenden Individualismus, dessen Resultat schließlich darin bestehen wird, dass es überhaupt keine Gesellschaft mehr gibt: Wenn alle Farben letztlich gleichwertig sind, dann bedeute der als strahlend bunt präsentierte Regenbogen in Wahrheit nur eine strukturlose Folge von Graustufen. Kulturpessimisten leisten für gewöhnlich jedoch auch keine konstruktiven Beiträge zu der Frage, wie es sich stattdessen machen ließe. Das vielbeschworene Dilemma der Postmoderne besteht in diesem Sinne darin, dass die alten Werte pfutsch zu sein scheinen, ohne dass brauchbare neue Ideale den Geist beflügeln. Vergessen werden darf dabei aber nicht, dass auch "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit/Geschwisterlichkeit" noch Ideale bedeuten, die nicht einmal "links", sondern bürgerlich-humanistischen Ursprungs sind, ganz zu schweigen von "Demokratie", "Menschenrechten" etc. ...

"Vielfalt", "Diversität" ist überdies ein Ausdruck, den man gerade aus marxistischer Sicht mit der schrankenlosen "Warenvielfalt" des Kapitalismus assoziieren könnte, einer hübschen kleinen Ablenkung von dem Einheitsbrei und der Langeweile einer durch-ökonomisierten Welt, jener Simulation von Freiheit als Qual der Wahl. Für jede Regenbogenfarbe gäbe es dann auch gleich die passende Ritter Sport-Tafel mit dazu. Insofern scheint sich auch der - orthodoxe, ökonomisch orientierte - Marxismus erstmal bei den Kritikern, nicht den Befürwortern des Regenbogens einzureihen. Nichtsdestotrotz steht der Ausdruck "queer" zweifelsohne für das Brechen mit geltenden Normen und wäre, wenn auch nicht am linken Rand, so doch zumindest links der Mitte zu verorten.

Ein weiterer Wert ist der der "Identität", dessen Hypertrophie heute unter dem Kampfbegriff "Identitätspolitik" angeprangert wird. Beachtet werden muss dabei, dass Identitäten sowohl links als auch rechts der Mitte Thema sind, findet sich auf der rechten Seite doch etwa die Identitäre Bewegung. Der Unterschied zwischen links und rechts besteht heute darin, dass "Identität" auf der linken Seite vom Individuum her, auf der rechten dagegen vom Kollektiv her verstanden wird. Dieses Kollektiv ist im Extremfall das "Volk", welches dabei weder nur als biologische noch als nur kulturelle Einheit auftritt, sondern eine derartige Differenzierung nicht kennt.

Es ist aufschlussreich, die berechtigte Kritik, welche am kollektiven Identitätsbegriff geäußert wird, auch auf den individuellen anzuwenden. An der Idee des "Volkes" - wie auch der jeder "Sippe", "Blutsverwandtschaft" oder ähnlichem - lässt sich "Essentialismus" diagnostizieren: Über "das Volk" wird direkt oder indirekt gesprochen, als ob es sich um eine eigenständige Wesensheit mit festem, ewigem, unveränderlichem Wesenskern handle. Unter dieser Voraussetzung ist es nur folgerichtig, Angst vor "Überfremdung" oder gar "Verunreinigung" durch nicht-zugehörige Eindringlinge zu haben. Diese Berufung auf das Volk ist geradezu geschichtsvergessen.

Doch diese Tendenz zur Verdinglichung ist eben nicht spezifisch für das Volk oder Kollektiv, sondern liegt im identitären Denken selbst: Identität bedeutet schließlich so viel wie "Sich-selbst-Gleichheit", mathematisch ausgedrückt "a = a", die Schlange, die von ihrem eigenen Schwanz zehrt. Identität steht für die reine Innenwelt, für die es keinen Unterschied macht, ob sie in einer Umwelt oder im luftleeren Raum existiert. Die Identität gilt als gott- oder naturgegebene Instanz und verweist von sich aus auf den Imperativ, alles Fremdartige oder Relativierende auszuschließen. Wie "das Volk" für die Rechten frei von fremden Eindringlingen bleiben soll, so soll "das Individuum" für Linksliberale frei von gesellschaftlich aufgeprägten Normen und anderweitig normativen Umwelteinflüssen bleiben.

Doch ebenso wie jedes Volk oder anderweitige Kollektiv erst durch eine kontingente Geschichte geworden ist, was es ist, so hat auch jedes Individuum eine Geschichte, die es prägt und formt. Das Individuum ist nicht weniger "sozial konstruiert" als das Kollektiv.

Über sexuelle Identitäten wird heute gesprochen, als ob sie vom Himmel fallen würden und auf keinerlei Weise durch individuelle biologische, psychologische oder soziale Faktoren bedingt sein können oder dürfen. Die Annahme liegt nahe, dass es sich bei der unzerstörbaren individuellen Identität, welche in den Diskursen vorausgesetzt wird, um ein Erbe der christlichen Vorstellung von der unsterblichen, körperlosen, den Körper lediglich bewohnenden Seele handle. Demgegenüber geht zum Beispiel der Buddhismus davon aus, dass ein übernatürliches Ich nicht wirklich existiert und versteht das Anhaften an ihm als Ausdruck spiritueller Unreife. Aber auch Karl Marx schrieb einmal: "Es ist zu vermeiden, die 'Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren" (zit. n. Link).

Problematisieren lässt sich schließlich das Ideal der "Toleranz". Toleranz wird unter ihren Befürwortern als die Fähigkeit verstanden, zu leben und leben zu lassen. Intoleranz gilt als Charakterschwäche, weil man es nötig hat, die eigenen Maßstäbe auf andere Menschen zu projizieren. Ich meine allerdings, dass Toleranz eigentlich immer etwas Unangenehmes zum Gegenstand hat: "Tolerant" bin ich zum Beispiel gegenüber Schmerzen, gegenüber Gestank oder schlechter Musik. Toleranz ist die Fähigkeit, störende Reize zu erdulden, sie mit stoischer Gemütsruhe an sich abprallen zu lassen. Toleranz ist vielleicht ein Synonym für "Duldsamkeit". Tolerant bin ich dann, wenn ich die Migrationshintergründigen in der Parallelwelt ihres Ghettos in Ruhe lasse, aber eine Interaktion wird eher nicht gefordert.

Genug gemeckert. Was wäre die Alternative?

Die Alternative muss eigentlich jedem ins Auge springen, der sich nur minimal mit der Philosophie befasst, welcher die Queer-Bewegung sicher nicht entstammt, der sie aber in ihrem Grundimpuls am nächsten ist. Dies ist der oft verschriene Poststrukturalismus. Diesem entstammt wiederum, was manchmal als Alteritätsphilosophie bezeichnet wird.

Alterität bedeutet "Andersheit" oder "Andersartigkeit". Sie bildet das logische Gegenstück zur "Identität". Die Alteritätsphilosophie geht davon aus, dass jede Identität sich nur in Abgrenzung zu einem Anderen konstituieren kann: Es gibt kein Innen ohne ein Außen, kein Selbst ohne Anderes, keine Inklusion ohne Exklusion, keine Homosexualität ohne Heterosexualität, kein eigenes Volk ohne andere Völker, kein Yin ohne Yang etc.

Die Alteritätsphilosophie befasst sich mit den Verhältnissen und Beziehungen, in denen Identitäten und Innenseiten zu ihrem jeweils "Anderen" stehen, von welchem sie notwendig abgegrenzt werden müssen. Oft tritt dabei der Ausdruck der "Differenz" auf. Versuchen die Identitäten, das Andere und die Differenz auszutilgen, sich zu entkoppeln, werden diese sie hinterrücks beherrschen und "heimsuchen". Das Taijitu, das "Yin-Yang"-Symbol - welches mit Variationen einst auch auf dem europäischen Kontinent kursierte -, repräsentiert diesen Zusammenhang hervorragend als das Weiße, welches im Schwarzen verborgen ist und als das Schwarze, welches im Weißen verborgen liegt.

Die Identitätspolitik von heute - und von meiner kritischen Position aus nutze ich diesen Kampfbegriff jetzt ebenfalls - besteht aus dieser Sicht vor allem in dem symbolischen Versuch, das komplexe Beziehungsgefüge abzuschaffen, in welchem die beteiligten Identitäten notwendig zueinander stehen. Der Vorwurf der Atomisierung, der Zerteilung in lauter zusammenhanglose Einzelteile, erscheint insofern nicht ganz unberechtigt. Der sich als anti-autoritär präsentierende Ansatz erfährt dann vielleicht eine Heimsuchung von Autorität in eigenen Tendenzen zur Bevormundung und Moralisierung, die pauschale Buntheit des Regenbogens erfährt eine Heimsuchung durch grauen Einheitsbrei, und wie angedeutet ist die Identität vielleicht selbst das größte soziale Konstrukt von allen.

Das Andere ist dabei stets auch das, was das Selbst in Frage stellt, es stört und aus der Komfortzone holt. Das Gebot der Alteritätsphilosophie besteht deswegen auch nicht darin, das Andere und Fremde möglichst unbewegt mit steinerner Miene zu ertragen, sondern sich ihm zu öffnen und aus der Interaktion Neues hervorgehen zu lassen. Ebenso lädt diese Haltung dazu ein, das spontane oder unerwünschte Sichtbarwerden des Anderen als ein Ereignis der Heimsuchung zu interpretieren. Betrachten wir einmal verschiedene kritische Begebenheiten aus dem "Identitäts-Paradigma" und aus dem "Alteritäts-Paradigma".

Immigration im Identitäts-Paradigma: Wie gesagt fordert das Identitäts-Paradigma vor allem, die Migranten in ihren Parallelwelten leben oder gar in Ruhe zu lassen. Mit ihnen zu sprechen, auf sie zuzugehen oder ähnliches ist nicht erforderlich und wäre vielleicht auch problematisch, weil es suggeriert, sie würden nicht hervorragend in ihrer Blase zurechtkommen. Gar ihre Sprache zu lernen wäre ein verwerflicher Akt kultureller Aneignung. Nur Rassisten lernen Fremdsprachen.

Immigration im Alteritäts-Paradigma: "Überfremdung" erhält hier einen neuen Sinn. Wir werden tatsächlich von Fremden überschwemmt, aber dies ist als Ereignis der Heimsuchung zu interpretieren: Europa wird quasi von Nicht-Europa heimgesucht. Warum ist das so? Könnte es vielleicht mit der Beziehung zu tun haben, in welcher Europa immer schon zu Nicht-Europa stand, jene Beziehung, durch welche sich Europa erst konstituiert? Wie gestaltete sich die Beziehung von Europa zur Außenwelt in der Vergangenheit, inwiefern können solche Menschenfluten als Resultat dieser Vergangenheit, etwa des westlichen Imperialismus gewertet werden? Was hat es zu bedeuten, dass die räumliche Trennung verschiedener Ethnien, Nationalitäten oder Religionen scheinbar nicht mehr in alter Form aufrechterhalten werden kann? Aus marxistischer Sicht ließe sich weiter fragen, inwiefern dies zum Beispiel mit ökonomischen Verhältnissen zwischen Europa und dem Rest der Welt zusammenhängen könnte. Der westliche Nationalismus verfolgt jedenfalls das absurde Bestreben, sich vom Rest der Welt abzuschotten, ohne etwas an seinen wirtschaftlichen Abhängigkeiten ändern zu wollen. Auf mehr kultureller Ebene können wir natürlich fragen, was wir von den Anderen lernen können, inwiefern sie uns vielleicht einen Spiegel vorhalten etc. An mir selbst und anderen Deutschen habe ich schon öfter die Erfahrung gemacht, wie eingeschränkt Temperament und Lebhaftigkeit unseres Volkes manchmal tatsächlich sind, und dass die berüchtigten preußischen Tugenden durchaus real sind.

Sexuelle Orientierung im Identitäts-Paradigma: Sexualität ist Privatsache, Geschlechtlichkeit ist daher aus der Öffentlichkeit zu verbannen beziehungsweise wir brauchen die totale Gleichstellung, die Abschaffung jeglicher Heteronormativität zugunsten des alles und nichts bedeutenden Regenbogens mit seinen strikt parallelen Linien exakt gleicher Breite. Niemand hat sich bei irgendwem in irgendetwas einzumischen.

Sexuelle Orientierung im Alteritäts-Paradigma: Homosexualität existiert nicht einfach parallel und ohne gegenseitige Beeinflussung zur Heterosexualität, sondern stellt durch ihr bloßes Erscheinen oder Sichtbarwerden die heteronormative Matrix in Frage. Was sagt das über die gängigen Auffassungen von Körperlichkeit, Lust und Erotik aus? Was geschieht jetzt mit ihnen? Inwiefern hat das, was jetzt sichtbar wird, schon die Vergangenheit bestimmt? Andererseits formiert sich auch Homosexualität nicht einfach im luftleeren Raum, sondern übernimmt von der Heteronormativität oftmals bestimmte Ideale einer Zweierbeziehung, nicht selten das der "Treue", mithin sogar das der "Ehe". Bei transsexuellen Beziehungen wird es nicht anders sein. Selbst Polyamorie hält noch an einer bestimmten Vorstellung davon fest, was "Liebe" ist, sie pflegt eine Unterscheidung "freundschaftlicher" und "geschlechtlicher" Beziehungen zu Mitmenschen, auch hier bleibt Intimität verbunden mit überlieferten Ritualen wie "küssen" oder "streicheln" etc. Dürfte die Idee der geschlechtlichen Liebe selbst nicht schon heteronormativ geprägt sein?

Vegane Ernährung im Identitäts-Paradigma: Solange ich als Veganer niemandem den Veganismus aufzwinge, haben die Anderen mich mit ihren dummen Fragen und Vorurteilen bitte ebenso in Ruhe zu lassen. Ich kann es nicht mehr hören.

Vegane Ernährung im Alteritäts-Paradigma: Ebenso wie Homosexualität die Heteronormativität stellt auch vegane Ernährung die Essgewohnheiten der Nicht-Veganer in Frage, und sie tut dies durch ihr bl0ßes Erscheinen. Als Veganer begibt man sich in eine implizite Oppositionshaltung, der man sich zumindest bewusst sein sollte. Gerade, wenn man aus ethischen Erwägungen heraus Veganer wird - sei es aufgrund von Tierleid oder aufgrund des "ökologischen Fußabdrucks" - impliziert das auch die Meinung, es besser zu machen als Andere. Mit entsprechenden Reaktionen ist zu rechnen.

Diese überspitzt formulierten Beispiele will ich nicht mehr weiter kommentieren und überlasse es Ihnen, sich ein abschließendes Urteil zu bilden. Alteritätsdenken versteht sich stets aus einem sozialen Kontext heraus und damit als politisch; Identität suggeriert eine innere Abgeschlossenheit und politische Neutralität, wo keine ist. Es bleibt die offene Frage, warum der ursprüngliche Impuls der Alterität, für welchen der Ausdruck "queer" selbst bereits steht, wieder durch jenen der Identität ersetzt wurde. Ich mutmaße, dass dies mit der Sprach- und Symbol-Obsession sowie dem akademischen Duktus zu tun hat, der für den Poststrukturalismus leider typisch ist. Das wäre allerdings anderswo zu besprechen...

Ein alternativer Ansatz besteht ansonsten darin, Menschen - sich selbst und Andere - niemals auf einzelne Identitäten zu reduzieren, sondern immer anzunehmen, dass jeder Mensch viele Identitäten besitzt und es zutiefst kontextabhängig ist, um welche es in einer gegebenen Situation überhaupt geht. Alles andere stünde ja auch zu der Annahme in Widerspruch, dass jeder einzigartig ist.

PS: Zumindest eine meiner Identitäten ist die des weißen Mannes, aber ich befasse mich (selbst-)kritisch mit entsprechenden Privilegien und möglichen Vorurteilen aufgrund der Lage, in welche mich mein Körper in dieser Welt verfrachtet hat. Mittlerweile bin ich an dem Punkt angelangt, dass ich es wage, gewisse blinde Flecken und problematische Tendenzen von Feminismus und Queer-Bewegung zu thematisieren. Nicht zuletzt ist man als weißer Mann quasi per Definition der Angeklagte, aus Prinzip ein ständiger Täter, nie Opfer, Zeuge oder Anwalt, und sollte neben seinem Recht, zu schweigen zumindest auch ein Recht auf Verteidigung erhalten.

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