Die Schule entstand zu Beginn der Industrialisierung für die industrialisierte Wirtschaft. Sie ist nicht für das Wohl der Kinder und Jugendlichen optimiert, sondern für ökonomische Erfolge. Die digitale Transformation muss die Schule nun ins neue Zeitalter überführen. Die Gelegenheit ist hervorragend, nicht nur die Ökonomie im Auge zu behalten, sondern vor allem auch die Menschen und die Umwelt. In diesem Artikel ist beschrieben, wie das gelingen kann.

Die Schule – das Bildungssystem für die industrialisierte Wirtschaft

Die Industrialisierung brachte vor allem etwas: Normierung.

Mechanische Maschinen hielten überall Einzug. Unermüdlich taten sie genau den einen Arbeitsschritt, für den sie gebaut worden waren. Allerdings wollten sie pausenlos gefüttert werden. Gefüttert mit Papier, das sie bedrucken, mit Blechen, die sie stanzen und mit Fäden, die sie zu Stoff verweben sollten. Für die Fütterung waren Menschen zuständig. Sie mussten Papier nachlegen, Bleche einschieben, Fäden platzieren.

Die Maschinen waren dumm. Sie wussten nicht, wann sie das Papier bedrucken, die Bleche stanzen und die Stoffe weben sollten. Menschen mussten das Wann beantworten, immer und immer wieder: Im richtigen Moment Knöpfe drücken, Pedalen treten, Hebel ziehen.

Dann war noch das Was. Damit Maschinen wussten, was sie tun sollten, mussten sie eingerichtet werden. Sie mussten z.B. wissen, was sie auf die Papiere drucken mussten. Dieses Einrichten der Maschine kostete verhältnismässig viel Zeit. Deshalb wurden die Maschine einmal eingerichtet und dann konnten beliebig viele Papiere mit dem selben Text bedruckt, beliebig viele Bleche an der selben Stelle gestanzt und beliebig viele Fäden auf die selbe Art verwoben werden.

Eine Einstellung, beliebig viele Durchläufe. Die Normierung war geboren.

So wurden Arbeitsprozesse normiert, Jobs normiert, Berufe normiert. Und nicht zuletzt: Menschen normiert. Für letzteres wurde die Schule entwickelt, wie wir sie heute – mit eher untergeordneten Änderungen – noch immer kennen.

So normiert die Schule

Schulen wurden nach dem Vorbild von Maschinen gestaltet: Der Prozess wurde einmal eingerichtet. Zum Schluss sollten mehr oder weniger identische Kopien rauskommen.

Was genau wurde kopiert?

Das Wissen (zumindest war das die Meinung). Die Vorlage war der Lehrplan, kombiniert mit einer Lektionentafel, einem Fächerkanon, der Zerstückelung des Tages in Lektionen, Jahrgangsklassen, Prüfungen, Noten und Bildungszertifikaten.

Normierte Wissensvermittlung funktioniert nicht

Nur: Das funktioniert nicht. Menschen sind keine trivialen Maschinen, die man einmal einstellen kann und dann liefern sie das gewünschte Ergebnis.

Jeder Mensch ist einzigartig. Jeder Mensch hat Veranlagungen und macht persönliche Erfahrungen. Kein Mensch sieht die Welt mit der selben Brille wie ein anderer. In keinem Kopf passiert das selbe, wie in einem anderen Kopf.

Heute wissen wir, dass wir Menschen nicht einfach mit Wissen abfüllen können. Wissen lernen läuft über den Kopf und das Herz, über das Gehirn und über emotionale Verankerung. Beides ist sehr individuell. Deshalb lernt kein Kind genau dasselbe wie seine Klassenkameradinnen und Klassenkameraden.

Mit einer Ausnahme.

Weiteres Ziel der Schule

Die Menschen, die das Schulsystem entwarfen und prägten dürften unterschiedliche Ziele gehabt haben. Ein zentrales Ziel war, junge Menschen auf ihren Arbeitsalltag vorzubereiten.

Das hiess, sie zu disziplinieren. Menschen wollen spielen, sie wollen das tun, was ihrem Innersten entspringt. Ihren Interessen nachgehen und damit wachsen.

Das lässt sich schwer vereinbaren mit einem Leben hinter einer Maschine oder in einer – ebenso normierten – Bürokratie.

Junge Menschen mussten lernen, dass Anforderungen von Dritten wichtiger waren als ihre eigenen Interessen.

Dieses Ziel wurde grösstenteils erreicht.

Der Mensch und die Umwelt blieben auf der Strecke

Junge Menschen lernten also, dass Anforderungen Dritter wichtiger sind als ihre eigenen. Das war wichtig, denn im Berufsalltag war genau das gefragt: Anforderungen von anderen erfüllen. Ein Leben lang ein Pedal drücken, einen Hebel ziehen oder Akten wälzen.

Alleine: Der Mensch blieb auf der Strecke. Aus drei Gründen.

1. Junge Menschen entfernten sich von sich selbst

Mit jeder Anforderung, die Kinder zu erfüllen hatten, entfernten sie sich mehr von sich und ihren individuellen Interessen. Das Ergebnis: Heute wissen die meisten Erwachsenen nicht mehr, was sie gerne tun. Sie kennen ihre Leidenschaften nicht und wissen nicht, wer sie sind.

Wie Maschinen erfüllen sie ihre Pflicht. Wie Hamster drehen sie im Hamsterrad.

Natürlich nicht alle, aber sehr, sehr viele.

Ergebnis: Gemäss der Sterbebegleiterin Bronnie Ware bereuen Sterbende eine Sache am häufigsten: Nicht ihr Leben gelebt zu haben.

2. Junge Menschen werden vom Spielen abgehalten

In jeder Minute, in denen Kinder und Jugendliche Anforderungen erfüllen mussten, konnten sie nicht spielen.

Na und? Das Leben ist ja kein Ponyhof, es gilt Leistung zu erbringen, entgegnen an dieser Stelle viele Menschen. Dieser Glaubenssatz ist eine typische Auswirkung der Leistungsprogrammierung in Schulen und im Elternhaus.

Denn Spielen ist keine überflüssige Sache. Spielen ist genau das, was psychisch gesunde Mensch tun.

Spielen hat verschiedenste Vorteile. Spielen heisst unter anderem, Herausforderungen meistern, die dem Innersten der Spielenden entsprungen sind. Das ist nichts anderes als Lernen. Spielen heisst weiter, sich ständig einer neuen Situation anzupassen. Das ist nichts anderes als Resilienzstärkung. Spielen heisst aber vor allem, die eigenen Veranlagungen und Interessen zu leben. Und das ist zentral für die das psychische Wohlbefinden, wie wir gleich im nächsten Punkt sehen werden.

3. Junge Menschen können ihre psychischen Grundbedürfnisse nicht stillen

Genauso wie Menschen physische Grundbedürfnisse haben wie Durst und Hunger stillen, haben sie auch psychische Grundbedürfnisse. Gemäss den US-amerikanischen Psychologen Edward Deci und Richard Ryan drei an der Zahl:

  1. Menschen wollen das Gefühl haben, kompetent zu sein. Sie wollen auf ihre Umgebung einwirken können.
  2. Menschen wollen das Gefühl haben, autonom handeln zu können. Erst dieses Gefühl macht ein Individuum aus.
  3. Menschen wollen so geliebt werden, wie sie sind.

Wer ständig Anforderungen von Dritten erfüllen muss, kann keines dieser Grundbedürfnisse ausleben. Was bleibt ist eine innere Leere.

Die Umwelt bleibt auf der Strecke

Niemand verspürt gerne eine innere Leere. Doch wie lässt sie sich füllen?

Viele Menschen versuchen es mit Konsum. Das neueste iPhone bringt Freude – zumindest für einige Tage. Die Freude ist nicht nachhaltig, es braucht immer noch mehr Dinge, die wir uns gönnen. Gadgets, Kleider, Urlaub, Kino. Unsere Wünsche sind ganz auf das Aussen gerichtet.

Das ist gut für die Wirtschaft. Und schlecht für die Umwelt.

5 konkrete Schritte, wie sich das Bildungssystem wandeln müsste

Die digitale Transformation befreit uns genau von diesen Routinejobs, die den Menschen in den Konsum trieben. Routinen, sich wiederholende Abläufe, lassen sich Algorithmen beibringen.

Den Menschen bleiben jene Tätigkeiten, die Algorithmen (noch) nicht übernehmen können. Zum Glück entstehen immer mehr dieser Tätigkeiten. Tätigkeiten, mit denen kreativ komplexe Probleme im Team gelöst werden sollen. Menschliche Tätigkeiten.

So reagiert die Schule auf die digitale Transformation

Die Schule reagiert auf die digitale Transformation. Aber wie?

Der Gründer der Medientheorie, der Kanadier Marshall McLuhan warnte uns schon in den 1960er Jahren:

"Wir sollten uns davor hüten, die Formen alter Technologien zu nutzen, um mit neuen zurechtzukommen – das bringt nichts."

Genau das tut die Schule.

Ganz nach der Macht der Gewohnheit sucht sie Lösungen im Altbewährten.

Ah, es gibt ein neues Werkzeug – der Computer! Dann sollten wir welche in die Schulen stellen.

Ah, es gibt neue Wissensgebiete – Informatik und Medienbildung! Dann braucht es Fächer dafür.

Das Prinzip: Mehr vom Alten.

Neue Lösungen sind gefragt

Die Schule ist kein Einzelfall. Es ist verständlich, dass Probleme zuerst auf die altbewährte Art gelöst werden, dem Prinzip "mehr vom Alten".

Beispielsweise die Betreiber von Enzyklopädien haben genauso reagiert: Mehr vom Alten. Sie haben dieselben Inhalte zuerst auf Disketten, CDs und DVDs  gebrannt und dann ins Internet gestellt. Der Redaktionsprozess blieb mehr oder weniger der selbe.

Als die Wikipedia auftauchte, wurde sie lange belächelt und nicht ernst genommen. Heute gibt es nebst der Wikipedia so gut wie keine allgemeine Enzyklopädie mehr. Die Wikipedia hat etwas neues gebracht: Den Redaktionsprozess. Alle Interessierten konnten ihr Wissen beitragen. Dadurch gewann sie unheimlich an Tempo und liess alle herkömmlichen Enzyklopädien alt aussehen. Wer wollte sich im Jahr 2005 eine Enzyklopädie kaufen, in der steht, dass Bill Clinton aktueller Präsident der USA sei?

5 Schritte zu einem neuen Bildungssystem

Das Bildungssystem sollte aktuell zwei Anforderungen genügen:

  1. Es sollte in die digital geprägte Welt passen und junge Menschen auf ihr Zukunft vorbereiten.
  2. Es sollte die psychischen Bedürfnisse des Menschen berücksichtigen.

Tatsächlich lassen sich beide Anforderungen prima kombinieren. Hier ist der Masterplan in fünf Schritten:

  • Schritt 1: Da nicht mehr auf Routinetätigkeiten vorbereitet werden muss, muss das Bildungssystem nicht mehr normieren. Alle normierende Elemente wie Lehrplan, Fächer, Prüfungen, Noten, Jahrgangsklassen können ersatzlos gestrichen werden.
  • Schritt 2: Das Bildungssystem kann sich am Spiel orientieren. Wer spielt, widmet sich selbstgewählten Herausforderungen. Herausforderungen, die perfekt zum jeweiligen Entwicklungsstand passen und die Menschen sich so optimal entwickeln lässt. Zurück zur Natur heisst die Devise - denn Spielen ist der natürliche Zustand des Menschen.
  • Schritt 3: Vernetzen. Genauso wie Menschen aus aller Welt gemeinsam die grösste und aktuellste Enzyklopädie entwickelt haben, die je existiert hat, können Menschen das Netz nutzen, um gemeinsam mit anderen und von anderen zu lernen. Lernen voneinander geschieht längst in sozialen Netzwerken. Wie wärs zusätzlich mit einer Plattform, über die Lernende sich für gemeinsame Projekte vernetzen und geeignete Infrastruktur (z.B. Räume) suchen können? In frühen Jahren könnten sich Kinder vermehrt lokal treffen, um gemeinsam an Projekten zu arbeiten, später wird dies immer seltener der Fall.
  • Schritt 4: Wichtig sind ausserdem breite Anreize. Nur wer mit Büchern in Kontakt kommt, wird das Bedürfnis verspüren, lesen und schreiben lernen zu wollen. Je breiter die Anreize, desto besser können junge Menschen entlang ihrer Interessen ihr Potenzial entfalten.
  • Schritt 5: Kontrolle. Es braucht ein System, das sicherstellt, dass alle Kinder tatsächlich spielen (also lernen) dürfen. Gemäss der UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder jetzt schon ein Recht auf Spielen. Spielen wird dort aber durch die Leistungspflicht in der Schule auf die Freizeit beschränkt.

Fazit

Die Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse und wirtschaftlicher Interessen kann im 21. Jahrhundert Hand in Hand gehen. Sobald wir die Lösung im Neuen suchen und nicht das Alte verstärken, haben wir eine echte Chance, die Welt in eine Richtung zu lenken, die für die Menschen und für die Umwelt eine angenehmere sein wird.