Drei Wochen.
Es sind jetzt mittlerweile schon drei Wochen, die ich nicht mehr vor die Tür gegangen bin. Es fühlt sich manchmal noch länger an. Und gleichzeitig kürzer. Alles dehnt sich und zieht sich wieder zusammen. Die Zeit, die Räume meiner Wohnung, meine Gedanken, mein Verstand. Aber nichts davon bekommt je wieder seine ursprüngliche Form.
Wie ein Kaugummi, auf dem man zu lange herumgekaut hat. Der Geschmack ist schon längst verschwunden aber inzwischen hat es auch seine Struktur verloren. Diese spezielle Struktur, die einem dieses befriedigende Gefühl verschafft, wenn man darauf herum kaut.
Haben Sie schon mal so lange auf einem Kaugummi herum gekaut? Bestimmt haben Sie das. Sie waren auch mal ein Kind, das sich darüber gefreut hat, einen Kaugummi zu haben. Nur diesen einen. Keine ganze Packung, aus der man sich einfach einen neuen nehmen kann, wenn aus dem ersten der Geschmack verschwunden ist und man ihn einfach ausgespuckt hat. Ihn der Schwerkraft überlassen hat, die ihn mit abnehmender Bewegungsenergie nach dem Ausspucken unweigerlich nach unten zog, auf den Asphalt, wo er dann herum lag, bis jemand darauf trat. Ihn mit seiner Schuhsohle auf eine Reise unbestimmten Ziels nahm oder mit dem von der Sommersonne erwärmten Asphalt vereinte. Ihn zu einem weichen, weißen Fleck werden ließ, vielleicht mit dem Abdruck eines Schuhprofils darin. In den nächsten Stunden, Tagen, Wochen immer flacher werdend, härter, grauer. Am Ende nur noch ein weiterer grauer Fleck zwischen vielen anderen grauen Flecken auf schwarzem Asphalt. Nichts, dem irgendjemand Beachtung schenken würde.
(Täusche ich mich, oder gab es in unserer Kindheit mehr graue Kaugummiflecken am Boden? Ist das gedankenlose Ausspucken von Kaugummis irgendwie aus der Mode gekommen? Sind Kinder und Jugendliche heute nicht mehr so arg- und gedankenlos? Ich würde das gerne glauben. Wahrscheinlich schauen wir aber nur nicht mehr hin. Und ich glaube, das Nicht-mehr-Hinschauen reicht heute viel weiter als nur bis zu nicht mehr wahrgenommenen Kaugummis am Boden, die irgendjemand ausgespuckt hat.)
Aber dieser eine Kaugummi. Der, den man vielleicht von einem Freund oder einer Freundin geschenkt bekommen hatte. Den kaute man bis zum Ende. Und darüber hinaus. Weil es der einzige war den man hatte. Zuerst verschwand der Geschmack. Natürlich nicht plötzlich, sondern ganz allmählich. Nach der Geschmacksexplosion, die es im Mund gab, wenn man den frischen Kaugummi ankaute, um seine Struktur zu erweichen, ihn mit dem eigenen Speichel zu vermischen, von links nach rechts im Mund umherzuwälzen, bis er geschmeidig war, stabilisierte sich sein Geschmack parallel dazu auf ein bestimmtes Niveau. Angenehm, aber unaufdringlich. Etwas, das dem Mund beim Herumkauen Freude bereitete.
(Ich habe mal gelesen, dass die Hersteller daraus eine richtige Wissenschaft gemacht haben. Kaugummis werden nicht einfach produziert, sondern vorher regelrecht konstruiert. Die Dauer, bis der Kaugummi seinen Geschmack verliert und sich die angenehme Struktur verändert, ist heute genau aufeinander abgestimmt. Als ich ein Kind war, war das noch nicht so. Jedenfalls nicht in meiner Erinnerung. Zuerst verschwand der Geschmack. Natürlich nicht plötzlich, sondern ganz allmählich. Sagte ich das schon? Ich glaube ja. Ich erinnere mich nicht. Es fällt mir jetzt immer schwerer, mich zu erinnern. Meine Gedanken scheinen sich im Kreis zu drehen. In meinem Kopf umhergewälzt zu werden, von links nach rechts, durchgekaut wie ein Kaugummi, das längst seine angenehme Struktur verloren hat, das ich aber nicht ausspucken kann. Besonders dieser eine Gedanke. Der Gedanke an den Apfel. Dieser verdammte Apfel.)
Heißt es das Kaugummi oder der Kaugummi? Ich bin mir nicht sicher. Wie mit so vielem, seit einiger Zeit. Ich könnte es im Internet nachschlagen, aber ich habe Angst vor dem, was dann passieren könnte. Das verstehen Sie sicher, oder?
Aber zurück zu dem Kaugummi.
Irgendwann war der Geschmack dann verschwunden. Aber der (das?) Kaugummi hatte noch immer eine angenehme, seidige Struktur. Etwas, worauf man vortrefflich weiter herumkauen konnte. Und genau das tat man auch. Weil auch ein geschmackloser Kaugummi immer noch viel Freude bereiten konnte. Wenn man keinen zweiten in der Tasche hatte. Aber nach einer Weile war auch das nicht mehr da. Dann war das Kaugummi nur noch ein zäher Klumpen, den durchzukauen viel mehr Arbeit war, als das es Vergnügen bereitet hätte. Der sich nicht mehr in seine Form zurückzog, so dass man ihn wieder und wieder durchkauen konnte. Der einem die Kiefer schmerzen ließ. Also spuckte man ihn aus, unter großem Bedauern vielleicht, weil man nur diesen einen hatte. Aber letztlich war es eine Erleichterung. Man konnte seine Kiefer entspannen und auch, wenn man vielleicht Lust auf die Geschmacksexplosion eines neuen Kaugummis gehabt hätte, war man irgendwie froh, dieses Ding los zu sein. Es leicht angeekelt und etwas trotzig im hohen Bogen ausgespuckt zu haben, es der Schwerkraft überlassen zu haben, die es mit abnehmender Bewegungsenergie nach dem Ausspucken unweigerlich nach unten zog, auf den Asphalt, wo es dann herum lag, bis jemand darauf trat. Es zu einem weichen, weißen Fleck werden ließ, vielleicht mit dem Abdruck eines Schuhprofils darin. In den nächsten Tagen, Wochen, Monaten immer flacher werdend, härter, grauer. Am Ende nur noch ein weiterer grauer Fleck zwischen vielen anderen grauen Flecken auf schwarzem Asphalt.
(Dieser Gedanke kommt mir bekannt vor. Wie sehr viele meiner Gedanken in letzter Zeit. Wie ein längst ausgelutschter Kaugummi, den ich nicht ausspucken kann. Können Sie sich die Qual vorstellen, einen solchen Kaugummi nicht ausspucken zu können? Immer weiter darauf herumkauen zu müssen, mit schmerzendem Unterkiefer? Stunde um Stunde, Tag um Tag?)
Drei Monate.
Es sind jetzt mittlerweile schon fast drei Monate, die ich nicht mehr vor die Tür gegangen bin. Ich weiß, vorhin schrieb ich drei Wochen, aber ich habe eben nachgesehen, weil mir der Gedanke keine Ruhe ließ. Es sind tatsächlich schon drei Monate. Die Zeit dehnt sich und zieht sich wieder zusammen. Aber sie bekommt nie wieder ihre ursprüngliche Form. Ich weiß jetzt, dass es fast drei Monate sind, aber wie lange wird es dauern, bis ich es wieder vergessen habe? Bis diese Zahl wieder verschwunden ist, eingearbeitet und untergekaut unter den zähen sich ewig wiederholenden Gedanken. Diesen sich ewig wiederholenden Gedanken. Vor allem dem an den Apfel. Dieser verdammte grüne Apfel.
Anfangs bin ich einfach nur nicht mehr vor die Tür gegangen, aus Angst vor den Folgen. Das verstehen Sie sicher. Sicher verstehen Sie das. Jeder würde das verstehen, nachdem, was passiert ist. Sie auch.
Ich habe aber natürlich noch weiterhin gearbeitet. Heutzutage ist das im Homeoffice ja kein Problem. Auch alles andere ließ sich gut aufrecht erhalten, ohne meine Wohnung zu verlassen. Freunde, die ich hätte treffen können, habe ich ohnehin keine, mein ganzes soziales Leben findet inzwischen online statt. Oder fand. Lebensmittel konnte ich mir liefern lassen, auch das ist ja heute kein Problem mehr. Seit der Pandemie war ich ohnehin nicht mehr ausgegangen und letztlich habe ich eine Menge Geld gespart. So viele Streaming-Dienste konnte ich gar nicht abonnieren, dass ich damit die Kosten für Kino- und Kulturabende hätte überschreiten können, die ich früher einmal hatte. So habe ich mich einigermaßen sicher gefühlt. Wenn ich meine Wohnung nicht verließ, brauchte ich auch nichts zu fürchten, oder? Ja. Was man nicht tut, kann auch keine Konsequenzen haben, richtig? Nein.
Inzwischen denke ich darüber anders.
Und alles nur wegen dieses Apfels.
Ich hatte eingekauft. An einem Mittwoch. Nichts spektakuläres, nur der übliche Wocheneinkauf. Ich erledige ihn immer gern Mittwochs, an Freitagen oder, noch schlimmer, samstags, erledigen alle ihren Einkauf. Dann ist mir zu viel los. Und da ich mir meine Arbeitszeit im Homeoffice frei einteilen kann, so lange ich nur meine Projekte im vorgegebenen Zeitrahmen abgeschlossen einreiche, erledige ich meinen Wocheneinkauf gerne Mittwoch Vormittag. Früher jedenfalls. Vor der Sache mit dem Apfel.
Mein Supermarkt ist gut zu erreichen und ein Auto habe ich ohnehin nicht, also ging ich wie immer zu Fuß. Ein Rucksack und zwei Stoffbeutel, darin bekomme ich immer bequem mit, was ich so für die Woche brauche. Ich erledigte meine Einkauf und machte mich auf den Weg zurück. Rucksack auf dem Rücken, in jeder Hand einen vollen Stoffbeutel. Nur hatte ich mich dieses Mal etwas mit dem Gewicht verschätzt. Einige schwere Sachen mehr eingekauft, als ich es üblicherweise tat.
Deshalb machte ich auf der Hälfe des Weges eine kleine Pause.
Mein Weg vom Supermarkt zu meiner Wohnung führt mich an zwei Spielplätzen vorbei. Sie sind wirklich schön gelegen, weit ab von jeder für Autos freigegebenen Strasse, umstanden von Bäumen. Es gibt einige Spielgeräte und ein paar Bänke, auf der Eltern Platz nehmen konnten, um ihre Sprösslinge im Auge zu behalten, während diese sich austobten.
Der erste Spielplatz und seine Bänke waren gut belegt, zudem hatten sich die Henkel der schweren Stoffbeutel noch nicht so tief in meine Hände gegraben, als das ich das Bedürfnis nach einer Pause gehabt hätte. Aber ein paar hundert Meter weiter sah das schon anders aus, weshalb ich auf Höhe des zweiten Spielplatzes beschloss, kurz auszuruhen, den Rucksack und die Stoffbeutel absetzte und mich auf einer der Bänke niederließ. Auf einer der Bänke saß eine Frau und um sie herum vergnügte sich ein Kind von vielleicht zwei Jahren im Sand. In dem Alter ist es oft schwierig zu sagen, ob Junge oder Mädchen, die Zeiten farblicher Geschlechtermarkierungen durch Rosa und Blau sind ja längst passé, von Ausnahmen abgesehen. Und irgendwie war das auch nicht wichtig. Es war einfach ein zauberhafter kleiner Mensch, der sich an der großen, weiten Welt sattspielte. In diesem Alter ist noch alles groß und weit. Alles ist irgendwie neu und aufregend und möchte entdeckt werden. Ich liebe es, Kinder dabei zu beobachten, wie sie ganz für sich mit der Welt beschäftigt sind.
Die Mutter war die meiste Zeit in ihr Smartphone vertieft, warf aber immerhin alle paar Minuten einen prüfenden Blick zu ihrem Kind. Schließlich gab es auf diesem Spielplatz auch nicht viele Gefahren, die man hätte im Blick behalten müssen. Alles war friedlich.
Und dieser Frieden war es, der mich dazu veranlasste, meine kurze Verschnaufpause etwas auszudehnen. Mich etwas länger als nur zwei, drei Minuten an diesem kleinen Menschenkind zu ergötzen, dass die Welt um sich herum erkundete und genoss.
(Es heißt das Kaugummi, da bin ich inzwischen fast ganz sicher. Oder? Der? Ich weiß es nicht.)
Beim Einkaufen hatte mich, völlig unerwartet, die Lust auf einen Apfel übermannt. Ich hatte ihn buchstäblich vor Augen, dass mir das Wasser im Mund zusammen lief. Sie wissen schon, einer dieser knallgrünen, perfekten Äpfel, die geradezu danach verlangen, seine Zähne hineinzugraben. Fest, aber trotzdem saftig. Süß aber dabei leicht säuerlich. Meine Lust darauf überkam mich so plötzlich und heftig, dass ich tatsächlich meinen Wagen stehen ließ und noch einmal den ganzen Weg durch den Markt zurück in die Obst- und Gemüseabteilung lief, um mir den Apfel meiner Träume auszusuchen. Nachdem ich das perfekte Exemplar gefunden hatte, suchte ich nach einer Papiertüte, in die ich ihn stecken konnte.
(Ich weiß, eine Tüte für einen einzelnen Apfel zu nehmen klingt nach Verschwendung, aber ich mag es nicht, wenn die Person an der Kasse mein Obst anfasst. Da bin ich eigen. Ich wünschte heute, es wäre nicht so.)
Zu meinem großen Ärger waren alle Papiertüten in der Abteilung leer, so dass ich auf eine Plastiktüte zurückgreifen musste. Ich mochte diese Dinger noch nie. Und die Tatsache, dass sie heute, wo noch vorhanden, als biologisch abbaubar ausgewiesen werden, tut dem keinen Abbruch. Es bleibt Verschwendung. Die Papiertüten ebenso, im Übrigen. Deshalb habe ich eigentlich immer wiederverwendbare Beutel dabei, wenn ich Obst und Gemüse auf meinem Einkaufszettel stehen habe. Nur hatte ich das an diesem Mittwoch nicht, als mich mein Verlangen nach einem Apfel übermannte. Also griff ich auf eine dieser Plastiktüten zurück. Eine dieser verdammten Tüten.
Und aus eben dieser Tüte, die in einem meiner Stoffbeutel oben auf lag, damit der Apfel keine Druckstellen bekam, holte ich meinen Apfel und aß ihn direkt dort auf dieser Bank, im leichten Wind, zwischen den tanzenden Flecken der warmen Junisonne sitzend, die das Blätterdach der umstehenden Bäume hindurchließ, und erfreute mich an der Lebensfreude dieses kleinen Menschen. Wie er umherlief, dieses oder jenes in Augenschein nahm, seine kleinen Hände in den Sand grub, Dinge aufhob, Blätter und kleine Äste, die der Wind von ihren Bäumen getrennt hatte und die nun am Boden lagen.
Nachdem ich meinen Apfel gegessen hatte, schulterte ich wieder meinen Rucksack, nahm meine beiden Stoffbeutel, warf einen letzten Blick auf das kleine Menschlein in seiner Lebensfreude und machte mich auf das letzte Stück Weg nach Hause.
Nachdem ich etwa 20 Meter gelaufen war, blies mir eine kleine Böe entgegen, erfasste die noch immer auf meinem Stoffbeutel oben aufliegende nun leere Tüte und wirbelte sie hinter mir davon. Nicht weit. Sie lag vielleicht fünf oder sechs Meter hinter mir auf dem asphaltierten Gehweg, als ich mich danach umdrehte.
(Ich kann mich partout nicht daran erinnern, graue Flecken ausgespuckter Kaugummis auf dem Asphalt gesehen zu haben. Ist das gedankenlose Ausspucken von Kaugummis heute aus der Mode gekommen? Sind Menschen heute nicht mehr so arg- und gedankenlos? Ich würde das gerne glauben. Wahrscheinlich schauen wir aber nur nicht mehr so genau hin.)
Ich wollte sie noch aufheben, das können Sie mir glauben. Das müssen Sie. Bitte. Ich werfe meinen Müll nie auf die Strasse. Manchmal hebe ich sogar den Müll anderer Leute auf, wenn er meinen Weg kreuzt und sich ein Mülleimer in der Nähe befindet. Aber als ich ein paar Schritte auf die Tüte zumachte, mit meinem schweren Rucksack und meinen schweren Stoffbeuteln in den Händen, kam der nächste Windstoß. Er erfasste die leere Tüte, wirbelte sie hoch und wehte sie noch ein Stück weiter in die Richtung, aus der ich gekommen war. Richtung der Bank, auf der ich meinen Apfel gegessen hatte und dieses Würmchen von einem Mensch bei seinem Spiel beobachtete. Meinen perfekten, grünen Apfel.
Ich ging der Tüte noch ein paar sehr unentschlossene Schritte hinterher. Aber da kam schon der nächste Windstoß. Und meine Einkäufe waren sehr schwer, das verstehen Sie doch sicher, nicht wahr? Als ich dann stehen blieb und der Tüte nur noch mit meinem Blick Richtung der Bank folgte, auf der ich gesessen hatte, sah ich einen Mülleimer neben der Bank. Ich frage mich bis heute, wieso ich ihn nicht bemerkt hatte, als ich daneben saß. Dann hätte ich die Tüte sicher gleich hineingeworfen. Ja, das hätte ich sicher getan. Aber ich habe den Mülleimer einfach nicht bemerkt, obwohl er direkt neben mir war. Wahrscheinlich schauen wir heute allgemein nicht mehr so genau hin.
Ich weiß noch, wie ich kurz überlegte, meine Beutel abzustellen und der Tüte nachzujagen, dann aber, fast schon etwas belustigt, dachte: »Vielleicht weht es die Tüte ja in den Mülleimer. Dann erledigt sich das Problem von allein.«
Und dann machte ich mich auf den Nachhauseweg. Meine Einkäufe waren wie gesagt sehr schwer, dafür haben Sie doch sicher Verständnis. Und immerhin sind diese neuen Tüten ja biologisch abbaubar. Außerdem gibt es ja auch noch die Stadtreinigung, die täglich den Müll in diesem Teil des Wohngebiets aufsammelt. Und es war ja auch nur eine dieser kleinen Obst-Tüten, nicht wahr?
Also drehte ich mich um und ging nach Hause, um meine Einkäufe zu versorgen und mich wieder an meine Arbeit zu machen, anstatt der Tüte nachzujagen. Dieser verdammten Tüte.
Haben Sie als Kind auch manchmal einen neuen Kaugummi genommen und ihn zu dem bereits durchgekauten in den Mund gesteckt, statt den alten auszuspucken? Vielleicht, um den Geschmack aufzufrischen oder um größere Blasen machen zu können? Ich erinnere mich, das oft getan zu haben. Natürlich ging das nur, wenn man eine ganze Packung Kaugummi hatte. Haben Sie auch mal mehr als nur zwei im Mund gehabt? Vielleicht drei? Oder sogar vier? Um so eine richtig große Blase zu machen?
Irgendwann hat man den ganzen Mund voller Kaugummi, alles ist nur noch ein zäher Klumpen aus Kaugummi, Zunge und Innenseiten der Wangen, jede Kaubewegung tut weh, der Mund füllt sich zusätzlich mit immer mehr Speichel und irgendwann hat man das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. An eine Kaugummiblase ist nicht mehr zu denken und man will den Klumpen nur noch ausspucken, um nicht daran zu ersticken. Aber was, wenn man den Kaugummiklumpen nicht ausspucken kann? Wenn man immer weiter und weiter und weiter kauen muss, selbst dann, wenn man schon längst keine Luft mehr bekommt? Was, wenn es kein Kaugummi ist, auf dem man unablässig herum kauen muss, sondern ein Gedanke? Ein Gedanke, den man weder ausspucken noch herunterschlucken kann? Was dann? Einfach weiter kauen?
Ein Mädchen.
Der kleine Mensch, den ich an diesem Tag auf dem Spielplatz bei seinem Spiel beobachtete, war ein Mädchen. Sie war tatsächlich gerade erst zwei. Wie sie hieß habe ich nie erfahren. Das stand nicht in der Meldung unserer Stadtteilzeitung, die am Samstag nach meinem Einkauf im Briefkasten lag. Dort stand nur, dass es am Mittwoch Vormittag auf dem Spielplatz in der Kaiserstrasse zu einem tragischen Unglück kam. Die Kleine hatte, in den tragischen wenigen Minuten, die es dafür nur gebraucht hat, von ihrer Mutter unbeobachtet, mit einer Plastiktüte gespielt, die dort offenbar herumgelegen hatte und ist irgendwie daran erstickt.
So etwas passiert, glaube ich. Aber wie passiert so etwas? Hat sie sie über den Kopf gezogen? Sich dann darin verheddert? Wenn ich so darüber nachdenke, sind diese Obsttüten zwar sehr dünn, aber überaus reißfest, nicht wahr? Jedenfalls ganz sicher, wenn man erst zwei ist. Oder hat sie die Tüte in den Mund gesteckt und dann irgendwie eingeatmet? Diese Obsttüten sind zwar überaus reißfest, aber dabei sehr dünn. Sowas ist möglich, schätze ich. Die Mutter hat von all dem nichts mitbekommen, weil sie telefonierte. Nicht lange, denke ich. Als ich die beiden beobachtet hatte, schien sie eigentlich sehr aufmerksam für ihre Tochter, selbst, wenn sie sich ihrem Smartphone widmete. Aber wenn man nur so eine kleine Lunge hat erstickt es sich vielleicht viel schneller. Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht.
Der knappen Meldung war noch zu entnehmen, dass der eilig von der Mutter herbeigerufene Notarzt nur noch ihren Tod feststellen konnte. Außerdem enthielt sie noch einmal den Hinweis, bitte nicht nur auf Spielplätzen sondern im gesamten Stadtgebiet die überall aufgestellten Abfallbehälter zu nutzen.
Ich erinnere mich, kurz nach meiner Heimkehr eine Sirene gehört zu haben. Ich habe dem aber keine besondere Beachtung geschenkt. In unserem Stadtteil wohnen knapp 12.000 Menschen. Eine Notarztsirene ist nichts besonderes.
Ich habe lange versucht, mir einzureden, dass es nicht meine Tüte gewesen sein muss. Viele Leute sind unachtsam mit ihrem Müll, nicht wahr? Aber ich weiß, dass es so war. Ich erinner mich zu gut daran, wie sauber der Spielplatz an diesem vormittag gewesen ist. Dort lag nichts herum, was nicht aus den umstehenden Bäumen gefallen wäre.
Es war meine Tüte. Das weiß ich. Die Tüte, die nur dort war, weil ich Lust auf einen Apfel hatte. Weil ich nicht wollte, dass die Kassiererin meinen Apfel mit den Händen berührt. Weil ich zu schwer eingekauft hatte, sodass ich eine Pause einlegen musste. Weil ich meinen Apfel dort auf dieser Bank aß, während ich dieses kleine Mädchen, das nun nie erwachsen werden würde, in seinem Spiel beobachtete. Weil ich die Tüte nicht direkt in dem Mülleimer neben mir entsorgte. Zu bequem war, ihr nachzulaufen und sie aufzusammeln, als der Wind sie mitnahm. Diese verdammte Tüte.
In den ersten Tagen und Wochen konnte ich diese Gedanken noch gut im Zaum halten. Ich erledigte weiter meine Arbeit und ging meinem Alltag nach. Allerdings ohne meine Wohnung zu verlassen. Meine Einkäufe bestellte ich mir nach diesem Tag nach Hause. Anfangs begründete ich das vor mir selbst damit, dass es einfach viel bequemer sei, als sie selbst zu schleppen. Ich konnte mir nicht eingestehen, dass ich Angst davor hatte, wieder vor die Tür zu gehen. Angst davor, dass erneut etwas, das ich tat oder nicht tat, Konsequenzen haben könnte. Dieses Mal, ohne dass ich etwas davon erfuhr. Wie oft hatten meine Handlungen oder Nicht-Handlungen wohl schon Konsequenzen gehabt, ohne dass ich jemals davon erfahren hatte? Dieser Gedanke lässt mich seit dem nicht los. Wie viele Leben habe ich schon beeinflusst, dadurch, dass ich existierte und handelte? Vielleicht nicht immer so direkt, aber über eine Kette von Ereignissen, die durch irgendeine meiner Alltagshandlungen ausgelöst wurde? Irgendein unbedachtes Wort, das ich an jemanden richtete. Ein falscher Blick, vielleicht völlig bedeutungslos, aber zur falschen Zeit der falschen Person zugeworfen, der etwas in dieser Person auslöste, einen Gedankengang, der wiederum zu einem Wortwechsel mit einer anderen Person führte, wieder etwas bei dieser auslöst und in letzter Konsequenz vielleicht ein Leben zerstörte. Eine unbedacht formulierte Äußerung in den sozialen Medien, von jemandem, dem sie gar nicht galt, falsch interpretiert, was ihn dazu brachte, seinen Account zu löschen, ihn oder sie in tiefe Depression stürzte und letzten Endes in den Selbstmord trieb. War das wirklich so abwegig? Bin ich der Schmetterling, der mit jedem Flügelschlag einen Sturm am anderen Ende der Welt auslöst? Nach einer Weile fiel es mir immer schwerer, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ich muss ständig an diese Tüte denken. Diese verdammte Tüte. Und dieses kleine Mädchen, das dort um seine Mutter herum spielte. Und Opfer meiner Handlungen wurde. Ich musste mir dann irgendwann Urlaub nehmen. Es ist mir schon lange nicht mehr möglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
Ich habe auch mit allem anderen aufgehört. Wenn man nur intensiv genug darüber nachdenkt, wird einem schnell klar, dass man eigentlich überhaupt nichts tun kann, ohne dass es Auswirkungen hat. Dieser Gedanke macht mir Angst.
Drei Monate. Es sind jetzt mittlerweile schon drei Monate, die ich nicht mehr vor die Tür gegangen bin. Es fühlt sich manchmal noch länger an. Und gleichzeitig kürzer. Meinen Job habe ich inzwischen gekündigt. Der Gedanke, dass eines meiner abgeschlossenen Projekte irgendwo auf irgendjemanden Einfluss haben könnte ist zu beängstigend für mich. Ich nutze auch keine sozialen Medien mehr. Ich glaube nicht, dass man mich dort vermissen wird. Und selbst wenn. Ich habe zu große Angst, dort etwas Falsches zu schreiben und damit jemanden zu töten. Natürlich könnte ich auch etwas damit auslösen, nicht mehr dort aktiv zu sein, aber irgendeine Entscheidung muss man ja treffen, richtig?
Ich habe auch damit aufgehört, mir Lebensmittel nach Hause liefern zu lassen. Irgendwann wurde mir klar, dass es durchaus möglich ist, dass der Fahrer, der wegen der von mir abgesetzten Bestellung unterwegs ist, jemanden überfährt. Ich kann das nicht verantworten. Und ich brauche genau genommen ja auch nichts mehr zu essen.
Eigentlich mache ich jetzt überhaupt nichts mehr. Ich sitze die meiste Zeit einfach da und denke nach. Meistens über die Tüte. Diese verdammte Tüte.
Ich schiebe den Gedanken von einer Seite auf die andere, wie einen Kaugummi, den ich nicht ausspucken kann. Wenn ich nur nachdenke, kann ich damit doch eigentlich niemandem weh tun, oder?
Vor einiger Zeit sind meine letzten Lebensmittel zur Neige gegangen. Aber wie ich schon sagte, ich werde mir keine neuen bestellen. Und vor die Tür gehen erst recht nicht. Beides ist viel zu riskant. Ich könnte jemanden umbringen, ohne es auch nur zu merken. Das letzte, was ich noch im Haus hatte, war eine Packung Kaugummi. Der Geschmack ist schon lange raus, wie sie sich sicher denken können. Und nach Tagen des Herumkauens ist die Struktur auch längst zum Teufel. Aber ich kann den Kaugummi einfach nicht ausspucken. Auch wenn ich schon längst das Gefühl habe, bald daran zu ersticken. Aber zu kauen ist das letzte was ich noch machen kann, wenn ich diese Aufzeichnungen beendet habe. Ich musste all das einfach einmal aufschreiben. Vielleicht hatte ich gehofft, den Gedanken an die Tüte damit endlich loszuwerden. Die verdammte Tüte. Aber ich merke schon jetzt, dass diese Hoffnung vergebens war. Wenn ich hier fertig bin, bleibt mir also nur noch hier zu sitzen, zu kauen und an die Tüte zu denken. Damit bringe ich sicher niemanden in Gefahr. Diese Aufzeichnungen werde ich gleich, wenn ich sie beendet habe, vernichten. Ich darf nicht riskieren, dass sie irgendjemand liest. Ich kann doch schließlich unmöglich mit Sicherheit wissen, was sie bei jemandem auslösen könnten.
Grüner Apfel.
Der Kaugummi schmeckte anfangs nach grünem Apfel.
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