In den meisten Lebensbereichen können wir uns mit unserer Durchschnittlichkeit gut arrangieren. Es lohnt sich, diese entspannte Haltung auch auf die wichtigen Bereiche unseres Lebens auszuweiten.
Dem Nobelpreisträger Herbert A. Simon verdankt die englische Sprache die wunderbare Wortschöpfung satisficing als Kombination aus satisfy (zufriedenstellen, befriedigen) und suffice (ausreichen). [1]
Damit ist gemeint, sich in einer Situation, in der die optimale Lösung nicht ohne Weiteres erkennbar ist, mit einer hinreichend guten zufrieden zu geben.
Simons satisficing-Konzept entstammt ursprünglich dem Kontext von Behördenarbeit und Führungstätigkeit. Als Gegenpol zu Optimierungsstrategien ist es aber auch darüber hinaus eine wertvolle Idee. Denn in unserem Alltag sind nur sehr selten alle relevanten Variablen für eine Entscheidung bekannt.
In den allermeisten Fällen – zum Beispiel im Straßenverkehr, in einer normalen Unterhaltung, beim Abschluss kleinerer Verträge oder bei Routine-Abläufen im Job – haben wir damit kein Problem: Wir entscheiden oder handeln drauflos. Wenn dabei Fehler passieren oder ein unerwartetes Ergebnis eintritt, lernen wir daraus für die Zukunft.
Aber jeder von uns hat Bereiche seines Lebens, in denen man selbst oder jemand anderes weit mehr von einem erwartet als „gut genug“ oder „so gut es eben gerade ging“ – und das womöglich zu Unrecht.
Auf zwei dieser Bereiche - zwei der wichtigsten Beziehungen unseres Lebens - möchte ich etwas genauer eingehen.
Partnerschaft / Freundschaft
Die wenigsten Menschen dürften sich damit zufrieden geben, lediglich ein „ausreichend guter“ Lebenspartner oder Freund zu sein. Sagt man seiner besseren Hälfte, dass er oder sie die Partnerschaft „hinreichend gut“ führt, stehen einem womöglich ein paar frostige Tage bevor.
Aber ist denn tatsächlich mehr zu erwarten?
Jedem von uns ist klar, dass es perfekte Partner nur im Fernsehen gibt – wenn überhaupt. Auch wenn wir in Hochzeit-Gelübden und Valentinstags-Karten etwas anderes andeuten: Niemand von uns ist auch nur in der Nähe von Perfektion unterwegs.
Es bleibt also nur sowieso nur so gut wie möglich. Und da es schlicht Realität ist, ist daran auch nichts beschämend, eine hinreichend zufriedenstellende Beziehung oder Freundschaft anzustreben.
Sich mit weniger als Perfektion zufrieden zu geben, hält ja niemanden davon ab, im Laufe der gemeinsamen Jahre zusammen und aneinander zu wachsen. Im Gegenteil:
Die wirklich besonderen, einmaligen Wunder einer tiefen, innigen Liebesbeziehung oder Freundschaft warten nur auf diejenigen, die sich einer solchen Bindung über lange Zeit hingeben und widmen.
Dafür muss man sich aber zunächst mit einer nicht-perfekten Partnerschaft oder Freundschaft zufrieden geben können.
Elternschaft
Mindestens genauso schwer fällt das Eingeständnis, lediglich ein „ausreichend gutes“ Elternteil zu sein.
Ein Kind großzuziehen und auf ein eigenständiges Leben in dieser komplexen Welt vorzubereiten, ist womöglich die gewaltigste Verantwortung, die man jemals auf sich nehmen wird. Es fühlt sich wie Arbeitsverweigerung an, dabei nicht ständig nach Perfektion zu streben, sondern dem good-enough parenting-Ansatz zu folgen, den der Psychoanalytiker Donald Winnicott bekannt gemacht hat. [2] [3]
Und doch ist auf den zweiten Blick auch hier jedem klar, dass mehr als „so gut wie es den Umständen entsprechend ging“ von niemandem erwartet werden kann – und dass diese Umstände sehr unterschiedlich ausfallen können.
Dazu kommt bei Kindern der Gesichtspunkt, dass übermäßige Fürsorge womöglich kontraproduktiv ist. Teil der elterlichen Aufgabenbeschreibung ist schließlich auch, dem Nachwuchs Frustrationstoleranz und Resilienz, Umgang mit Konflikten und Niederlagen sowie die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zum Verzeihen näherzubringen. Wie soll das in einer Umgebung funktionieren, in der es keine Konflikte, keine Fehler und keine Frustration gibt?
Ein Umfeld der Geborgenheit und Sicherheit gewährleisten; Entfaltung und Selbsterfahrung ermöglichen; einen Rückzugsort voller Liebe und Nachsicht bereitstellen – diese Dinge sind auch ohne übermäßige Mühen möglich.
Damit ist man als Elternteil gerade mal „gut genug“ – und genau das, was das Kind braucht.
[1] Ich habe mich an einer deutschen Umsetzung versucht, habe aber bei „zufriedenreichend“ aufgegeben.
[2] Und ich schreibe das hier mindestens so sehr als Erinnerung an mich selbst wie als Ermunterung für Leser.
[3]
Quelle: „Home Is Where We Start From“
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