Charles Canary befasst sich erneut mit einer wiederkehrenden, alltäglichen Situation. Wahlweise Genuss oder Übel.

Meine Ex

Vieles resultiert dann doch aus eher zufälligen Begebenheiten. Es ist schwer zu sagen, welchen Verlauf mein Leben genommen hätte, wenn meine Ex-Friseuse nicht am 14.2.2018 bei diesem Lied mitgesummt hätte. Ausgerechnet von Helene Fischer. Es könnte daran gelegen haben, dass sie sich anlässlich des Valentinstags in einer gewissen grundamourösen Stimmung befand. Ich lümmelte vor ihr im Stuhl und genoss die gewohnt vorzügliche Behandlung. Es ist schwierig genug eine zufriedenstellende Dienstleistung in haarigen Angelegenheiten zu finden. Bei eben dort fühlte ich mich schon seit längerer Zeit bestens aufgehoben. Bis just an diesem Tag. Zu diesem Lied. Danach war nichts mehr so wie es vorher war. Unsere Kunde-Dienstleisterbeziehung wurde konsequenterweise beendet.

Hollywood

Einseitig natürlich. Das bedeutet, dass ich beschloss zukünftig mein Glück bei einer andere Coiffeuse zu versuchen. Nebenbei bemerkt ist das Ende einer solchen Liaison in einer Kleinstadt mit allerhand Unannehmlichkeiten verbunden. Zuallererst musste ich von da an meine Geschicklichkeit im „vorausschauenden Flanieren“ beweisen. Immer wenn ich sie am Horizont auf der gleichen Straßenseite auf dem Gehsteig auftauchen sah, galt es möglichst unauffällig und mit großzügigem Abstand die Seiten zu wechseln. Möglichst verbunden mit dem intensiven Studium der Inhalte der Schaufenster, um jeglichen Augenkontakt oder gar Schlimmeres zu verhindern. Für eventuelle Aufeinandertreffen in der Nahdistanz – zum Beispiel in der Schlange beim Bäcker oder beim Postkartensuchen im Buchladen – war ich allseits mit Sonnenbrille und Käppie ausgestattet, so dass die Methode „Hollywoodstar“ zum Einsatz kommen könnte. Und für den Fall, dass ein unvermeidbares Aufeinandertreffen inklusive obligatorischen Austausches von Höflichkeiten in einer Frage bezüglich eines nächsten Haarschneidetermins enden würde, hatte ich mir von einem befreundeten Arzt ein Attest aufgrund einer Helene-Fischer-Allergie ausstellen lassen.

Auf der Suche

Zugegebenermaßen gestaltete sich die Suche nach einer neuen Haarkünstlerin meines Vertrauens erwartungsgemäß schwierig. Ich hatte einen speziellen Fragebogen entwickelt, um grundsätzliche Dinge abzuklären mit dem Ziel mir einen weiteren Reinfall zu ersparen. Ein Ausschlusskriterium war Reaktion auf die Frage „Möchten Sie einen Kaffee oder was trinken“. Wenn mein humoriger Antwortkommentar „Nein danke. Das Popcorn bitte gerne salzig und nicht süß. Und den Cocktail ohne Schirmchen.“ nicht mit einem Lächeln honoriert wurde, endete das gemeinsame Abenteuer noch vor dem eigentlichen Beginn.

Annäherung

Schlussendlich entschied ich mich dann für ein Etablissement, in dem angabegemäß generell auf Radiogedudel verzichtet wurde. Somit war die größte Gefahr gebannt. Dachte ich. Doch dann entstand diese unvermeidliche, beunruhigende Stille zwischen mir und der jungen Dame, die sich gerade künstlerisch an meinen Haaren abmühte. Lesen kam nicht in Frage, da sich die sonstigen Anwesende lauthals unterhielten und sich nicht von unserer Gesprächsflaute beeindrucken ließen. Das Feigenblattthema Wetter verschaffte nur eine kurze Schweigepause. Doch dann ist es aus mir herausgeplatzt. Besser gesagt nicht es, sondern er. Der Witz. Mein aktueller Lieblingswitz. Zaghaft pirschte ich mich an die Pointe heran, um dann aber waghalsig und erwartungsfroh zu vollenden. Ein kurzer Augenblick des Zögerns. Des Besinnens. Doch dann entwischte ihr ein verhaltenes Kichern. Wie ein Hai der Blutspur folgend, legte ich noch ein paar meiner Klassikergags nach. Schon bald war das Eis endgültig gebrochen.

Euphorie

Der Aufmerksamkeitsjunkie in mir ging direkt in die Vollen. Ein Brüller nach dem anderen. Zuerst amüsierte sich nur meine Frisörin. Dann bespaßte ich sämtliche anwesende Personen. Es endete in einem Inferno der guten Laune. Ich verließ den Salon mit kollektiven Abklatschen und dem Versprechen bald wieder zu kommen. Mit neuen Witzen im Gepäck.

Nun – es läuft gut. Ich freue mich mittlerweile auf meine Termine für einen neuen Haarschnitt. Scheinbar nicht nur ich. Meine Friseuse hat mir verraten, dass sie eine Liste von Kunden hat, die sie kontaktiert, sobald ich einen neuen Termin mit ihr vereinbart habe. Somit hat sich eine gewisse Stammbesetzung etabliert. Es blieb nicht nur bei Witzen. Schon bald präsentierte ich humorvolle Anekdötchen oder parodierte berühmte Persönlichkeiten des kleinstädtischen Zeitgeschehens. Alle Beteiligten profitieren: mein Haarschnitt wird anhand einer Beteiligung an den üppigen zusätzlichen Trinkgeldgaben der anderen Kunden finanziert und ist eine exzellente Vorbereitung auf meinen nächsten Auftritt im Altenheim: https://bullauge-blog.de/2021/12/10/vom-himmel-hoch/

Beitragsbild: Danke an Nick Demou