Am Abend des 19. Februar 2020 ermordete ein deutscher Rassist neun Menschen in der Hanauer Innenstadt. Seine nichtsahnenden Opfer fand er in und vor zwei Shisha-Bars, einem Kiosk und einer Bar. Er suchte sie sich zwar zufällig, aber nach rassistischen Kriterien aus. Kaltblütig und planvoll löschte er innerhalb von zwölf Minuten neun Leben aus und traumatisierte viele weitere Menschen. Mindestens fünf erlitten Schusswunden, überlebten aber. Nach dem Terroranschlag erschoss er seine 72-jährige Mutter in der gemeinsamen Wohnung und im Anschluss sich selbst.

Die Ermordeten hatten Namen. Ihre Namen waren Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin.

Sie hatten ein Leben. Sie hatten eine Geschichte. Sie hatten Menschen in ihrem Leben, die sie liebten und von denen sie geliebt wurden. Sie hatten Kinder, hatten Brüder und Schwestern, Eltern und Freund*innen. An diesem Mittwochabend saßen sie in einer Shishabar, arbeiteten hinter einem Tresen oder warteten auf jemanden, um in einen schönen Abend zu starten. Innerhalb von zwölf Minuten wurden ihre Leben mit kalter Präzision ausgelöscht. Sie kommen nicht mehr wieder. Aber sie bleiben. Wer nicht bleibt, ist ihr Mörder. Er ist ein Niemand, an dessen deutschen Namen sich Menschen, wenn sie sich denn überhaupt daran erinnern, mit Abscheu und Ekel erinnern, bis sich irgendwann nur noch das Nichts erinnert.

Man werde sich nun allen, "die versuchen, in Deutschland zu spalten, mit aller Kraft und Entschlossenheit entgegen" stellen, sagte Angela Merkel nach der Tat. Außerdem würden "Wir Bürger nicht nach Herkunft oder Religion" unterscheiden. Als wäre "Spaltung" das Problem und nicht etwa der Wunsch nach Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. Als gäbe es all den strukturellen und institutionellen Rassismus nicht, der jeden Tag eine Unterscheidung nach (vermuteter) Herkunft oder (vermuteter) Religion macht, jenen Rassismus, der in rassistische Sondergesetze geflossen ist, die zum Beispiel Geflüchtete in isolierte Lager zwingen, ihnen vorschreiben, in welchen Landkreisen sie zu leben haben und von der allgemeinen Gesundheitsversorgung ausschließen. Oder an den europäischen Außengrenzen ersaufen, erfrieren und im Dreck leben lässt.

Bundesinnenminister Horst Seehofer ordnete nach dem Anschlag Trauerbeflaggung an und ließ die Öffentlichkeit wissen, dass Rechtsextremismus sehr gefährlich sei. Außerdem fordere er "nicht mehr Paragraphen, sondern dass wir die bestehenden Möglichkeiten verstärkt nutzen". Das restliche Jahr verbrachte er dann damit, weiterhin nichts gegen die grassierenden Neonazi-Netzwerke in den staatlichen Behörden zu unternehmen, Rassismus-Studien zu verhindern und die neue extrem rechte Bewegung der Coronaleugner machen zu lassen.

Auch Bundespräsident Steinmeier zeigte sich nach der Tat tief betroffen. Rücksichtnahme und Solidarität seien das „stärkste Mittel gegen den Hass“. Rücksichtnahme und Solidarität, das klingt wirklich schön. Sehr rücksichtsvoll und solidarisch wurde dem Vater des getöteten Ferhat Unvar am Tag nach der Ermordung seines Sohnes dann verwehrt, neben Bundespräsident Steinmeier, Ministerpräsident Bouffier und dem Bürgermeister von Hanau auf der Kundgebungs-Bühne zu stehen. Zu voll. Die Stimme der Betroffenen hat in der deutschen Dominanzkultur keinen Platz.

Bla. Bla. Bla.

Nicht ist passiert in diesem Jahr seit Hanau. Nichts. Spart euch eure Betroffenheitsrituale, steckt euch eure leeren Floskeln, eure Worthülsen sonstwohin. Sie sind nichts wert, wenn ihnen keine Taten folgen. Und wie immer folgten auch nach Hanau keinerlei Taten. Im Gegenteil. Extrem rechte Zellen innerhalb und außerhalb staatlicher Institutionen bereiten sich weiter auf den „Tag X“ vor, weiterhin sind knapp 500 per Haftbefehl gesuchte Neonazis auf freiem Fuß und die neuen Nazis in den Parlamenten können machen, was sie wollen, hetzen wie wollen, mit Worten Morde vorbereiten, wie sie wollen, ohne dass irgendwelche Konservativen damit aufhören würden, von schwarz-braunen Bündnissen mit ihnen zu träumen. Stattdessen lässt Seehofer QAnon-Antisemiten und Reichskriegsflaggenträger ein Jahr laufen und zwischendurch die Reichstagstreppen „erobern“, stattdessen sitzen ein Jahr deutsche Herrenmenschen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und verteidigen heiter und in bester Laune ihr „Recht“, rassistische Begriffe zu benutzen. Begriffe, die Menschen im Alter ihrer Großeltern in den Arm geritzt wurden, bevor man sie, ebenfalls mit kalter Präzision, systematisch ermordete. Man ist sich einig, dass diese Zentralräte zu viel Langeweile haben. Drei der Ermordeten von Hanau waren übrigens Rom*nja.

Alles hängt mit allem zusammen. Wenn das SEK in Hanau Überlebende und Angehörige mit gezogenen Waffen auf den Boden drückt, mit ihnen „Gefährderansprachen“ macht, wenn Angeschossene von der Polizei als Schutzschild benutzt werden, wenn Betroffene bei der Leitstelle der Polizei vergeblich anrufen, bis sie selbst tödlich getroffen werden, wenn Fluchttüren verschlossen sind, wenn der Täter legal eine Waffe besitzen darf, obwohl er keine besitzen dürfte, wenn die Behörden nicht von selbst gegen den Vater des Terroristen ermitteln, obwohl der ganz offensichtlich erheblich zur Radikalisierung beigetragen hat und die Tat gutheißt, dann hängt das auch mit dem Agieren und Nicht-Agieren von Horst Seehofer, seinen Vorgängern, seinen Kollegen in den Ländern und den anderen Amtsstuben zusammen. Es hängt mit ihrer politischen Ideologie zusammen. Es hängt mit ihren eigenen Ressentiments zusammen, wahlweise die deutschen Grenzen „bis zur letzten Patrone“ gegen „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ zu „verteidigen“ oder dem Antifaschismus den Kampf anzusagen, der über 75 Jahre nach dem Sieg der antifaschistischen Anti-Hitler-Koalition mal eben kollektiv als „linksextrem“ gelabelt wird.

Rechte Einstellungen, menschenfeindliche Ressentiments, Dimensionen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit prägen und durchziehen das Handeln der handelnden Akteur*innen. Das ist insbesondere mit Blick auf die Geschichte der Innenpolitik und Geheimdienste seit Gründung der Bundesrepublik keine neue Information. Das größte Problem dabei ist, dass sie diese Zusammenhänge, auf die sie die antifaschistische Zivilgesellschaft seit unzähligen Jahrzehnten hinweist, nicht anerkennen und wahrhaben wollen. An Rostock-Lichtenhagen war niemand schuld, an Hoyerswerda war niemand schuld außer den Betroffenen, die Deutschland dann abschob, an Hanau ist auch niemand Schuld außer dem Täter.

Deutsche Zustände sind jene Zustände, in denen niemand für irgendetwas die Verantwortung übernimmt. Wenn es eine Eigenschaft gibt, die die deutsche Dominanzgesellschaft in Perfektion internalisiert und kultiviert hat, dann ist es die Eigenschaft des Nichtschuldseinwollens.

"Erinnern heißt verändern" proklamiert die "Initiative 19. Februar Hanau" der Überlebenden und Angehörigen des Terroranschlags. Das ist der Auftrag. Wir müssen die ganze Scheiße hier verändern. Alle zusammen. Wenn du noch auf einen Tag wartest, an dem du damit beginnen möchtest: Heute ist der richtige.