Von der deutschen Öffentlichkeit und den Medien völlig unbeachtet spielt sich in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (genauer: dem Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe, kurz: RMICT) ein hollywoodreifer Showdown im Prozess gegen den „Eismann“ Milosevics ab.
Der „Eismann“ heißt Jovica Stanisic und ist 70 Jahre alt. Im Leben vor seiner Haft in Den Haag war er erst Geheimdienstchef in Jugoslawien und dann in Serbien. Er ist der einzige Ex-Jugoslawe der zweimal in Den Haag einsitzt. Nach Freispruch in allen Punkten wurde er am 30. Mai 2013 aus der Haft entlassen, nur um 2017 nach Wiederaufnahme des Verfahrens erneut inhaftiert zu werden.
Seine Mitgefangenen Ratko Mladic, Radovan Karadzic und der mit ihm angeklagte Simatovic stehen unter Verdacht an schwersten Menschheitsverbrechen beteiligt gewesen zu sein. Stichwort Srebrenica. Nicht so Jovica Stanisic. Dennoch:
Ratko Mladic soll sich während der ersten Haft von Jovica Stanisic auf dessen Wochenendgrundstück im Naturschutzgebiet Deliblatska Pescara versteckt gehalten haben, so flüsterten und raunten es sich die Einwohner in der Umgebung damals zu.
Ein Geheimdienstchef als Held in einem hollywoodreifen Film? Reichen diese wenigen Details? Verbindungen sollte ein Geheimdienstchef haben. Diese Verbindungen sollten belastbar sein. In einem Spielfilm braucht's aber auch Gefahr, Intrige und ein bisschen Action.
Sein Wochenendhaus wurde streng bewacht, kein lokaler Bauer oder Jäger durfte näher als 1 Kilometer zu Stanisics „Vikendic“. Das war noch zur Amtszeit Slobodan Milosevics.
Nun, die flüsternden Nachbarn aus der Umgebung des Wochenenddomizils des Jovica Stanisic wollen beobachtet haben, wie dessen Sohn täglich den Weg von Belgrad mit dem SUV zurücklegte, um sich dann etwa eine Stunde im Ferienhäuschen aufzuhalten, bevor er sich auf den Rückweg nach Belgrad machte. All das vor der Verhaftung Ratko Mladics. Der Zeitaufwand für den Sohn des ehemaligen Geheimdienstchefs beträgt mindestens 3 Stunden. Tagsüber. Darauf folgt die Frage: Hatte er sonst nichts zu tun? Beruflich? Auch: Was war denn nur so wichtig im Wochenendhaus des geheimen Vaters? Oder wer?
Derlei Spekulationen gehören allerdings in den 2 Akt des Filmdramas und bleiben unaufgeklärt.
Als Jovica Stanisics Welt noch in Ordnung war, ließ er sich vom Innenministerium eine Brunnenbohrung bezahlen. 180 Meter tiefer befindet sich reinstes Trinkwasser unterhalb des sandigen Naturschutzgebiets. Korruption?
Der Sichtkontakt zwischen dem Refugium in den ehemaligen Weingärten im Naturreservat und dem Regierungsbunker Serbiens im Berg Avala macht Morsezeichen theoretisch möglich. Auch ungestörter Funkverkehr zwischen beiden Orten wäre zumindest kurzzeitig gegeben. Möglich, dass Stanisic diesen Ort für sich und seine Freunde aus dem Geheimdienst nach diesen Kriterien ausgewählt hatte. Immerhin bewohnen die unterhalb der Stanisic'schen Grundstücke liegenden „Vikendice“ nahezu ausschließlich prominente Vertreter Serbiens im Bosnienkrieg der 1990er Jahre.
Aussagen privater Eigentümer im Rest der alten Weingärten zufolge seien die Vertreter des Geheimdienstes „die Pest“ und daran interessiert, das gesamte Gebiet unter ihre Kontrolle zu bringen.
Das alles dient lediglich der Beschreibung Stanisics.
Wirklich interessant ist das Schlußplädoyer seines Rechtsanwalts Wayne Jordash vom 12. bis 14. April 2021. Denn dieses Schlussplädoyer löst ganze Schockwellen in Serbien aus.
Dazu ist wichtig zu verstehen, wie die Uhren im Balkan-Staat ticken. Serbien ließ es zu, dass 2015 der Filmemacher Emir Kusturica in Belgrad eine Statue für den Mann aufstellen ließ, der den Ersten Weltkrieg auslöste. Bis heute gilt Gavrilo Princip, der Mörder des österreichischen Kronprinzen Franz Ferdinand als Held, der es „den Besatzern gezeigt“ habe.
Je nach Quelle wurde Stanisic am selben Tag an dem der serbische Ministerpräsident Zoran Djindjic ermordet wurde, verhaftet. Im Rahmen der Aktion „Sablja“ am 12. März 2003. Ein Verschwörungstheoretiker wird hier einen Zusammenhang hinein dichten. Ob hier ein Zusammenhang besteht, wird wohl kaum aufzuklären sein, denn die Mörder Djindjics wurden bis heute nicht zweifelsfrei ermittelt. Sie sollen – ein Konjunktiv mehr – aus den Kreisen des alten Geheimdienstes stammen.
Jovica Stanisic war bis 1998 Geheimdienstchef Serbiens. Dann wurde er aus dem Amt entlassen. Ihm wird eine Eigenschaftslosigkeit nachgesagt, die für serbische Politiker ungewöhnlich scheint. So soll er zu keinem Fanatismus neigen, nicht nationalistisch und schon gar nicht ideologisch erkennbar sein. Dafür gilt er als der beste Spion oder Agent des gesamten Ex-Jugoslawiens.
Jovica Stanisic gilt deshalb als perfekt vernetzt. Nicht nur in Serbien oder Ex-Jugoslawien, sondern weltweit.
In Serbien gelten die Angeklagten vor dem „Haski Tribunal“ als Opfer einer Siegerjustiz des Westens. Nicht bei allen, aber einer Mehrheit der Serben ist jeder Angeklagte damit auch ein Nationalheld. Etwa der Nationaist Seselj, der sein Buch „Moja Borba“ („mein Kampf“) betitelte, kehrte nach Verbüßung seiner Haft in Den Haag in den Schoß seiner alten Partei zurück und betätigt sich erneut politisch. Kein Problem in Serbien.
Serbien ist in sich heute wie ehedem tief gespalten. Der NATO würde ein stolzer Serbe niemals beitreten, weil „die haben Bomben auf uns abgeworfen.“ Der EU wollen lediglich die Parteien und Regierungspolitiker beitreten, große Teile des Volkes würden sich lieber mit Russland und oder China verbünden.
Im Zweiten Weltkrieg gab es in Serbien 2-3 unterschiedliche Tschetnik-Verbände (Ljotic mit seiner Zbor-Bewegung gilt als so weit rechts außen, dass er mit den „normalen Königstreuen“ nicht zusammen finden konnte), die Kollaborationsregierung von Hitlers Gnaden und dann eben die kommunistischen Partisanen, die in kürzester Zeit tatsächliche Massen hinter sich bringen konnten. Das sind allein schon fünf unterschiedliche, militärisch agierende politische Richtungen und Bewegungen. Hinzu kommen die religiösen und ethnischen Minderheiten und damit auch Trennlinien. Das Echo aus diesen Verwerfungen hallt bis heute in Serbien nach. Das zu beachten dürfte unter politisch Verantwortung tragenden zu diplomatischem High End gehören.
In einem derartigen Land konnte Jovica Stanisic lange als bedauernswerter Held durchgehen. Gut, im Westen war schon lange bekannt, dass er den USA den Hinweis auf den Aufenthaltsort des international gesuchten Topterroristen „Carlos“ Ramirez Illich Sanchez gegeben hatte.
So hätte es ja einen Deal geben können, der die Freiheit des ehemaligen Geheimdienstchefs garantiert hätte. Aber wer agiert in der internationalen Diplomatie von Geheimdiensten bitte derart plump?
Sein Anwalt, Wayne Jordash ließ also von Montag, den 12. bis Mittwoch, den 14. April im Schlussplädoyer eine Art Atombombe platzen: Jovica Stanisic wird in der Folge mit seinem Freispruch rechnen dürfen. Gleichzeitig wird er davon ausgehen müssen, sich in Serbien niemals und nirgends irgendjemandem gegenüber offen entgegentreten zu können. Warum?
Die Schlagzeile des TV-Senders B92 macht es klar und wird zu Rachegelüsten in Serbien führen:
„The main CIA man in Serbia was Iceman who betrayed Milosevic“. Also, der Eismann war der wichtigste, bedeutendste oder höchstrangige CIA-Mann in Serbien und der hat Milosevic betrogen.
Was hat Stanisic getan?
Er wird lange mit seinem Verteidiger Wayne Jordash beratschlagt haben, ob sie die Verbindung zur CIA offenbaren oder nicht. Aleae jactae sunt. Jovica Stanisic ließ sich unter anderem von CIA-Zeugen bestätigen, dass er eigentständig 1991 den Kontakt zur CIA gesucht habe. 1996 soll Stanisic zur CIA-Zentrale in Langley, USA gereist sein und dort einen sehr warmen und freundlichen Emfpang genossen haben. Nun, in der Zwischenzeit hatte er den Aufenthaltsort von „Carlos, dem Schakal“ preisgegeben und im Nachgang auch Massengräber in Bosnien gezeigt, die mutmaßlich von Serbischen Soldaten angelegt und auf grausamen Weise gefüllt worden waren. Und das alles reicht serbischen Journalisten 2021 beim früher einmal seriösen Medium B92 (heute unter der Kontrolle des Präsidenten Aleksandar Vucic) aus, Jovica Stanisic den „Betrug“ an Slobodan Milosevic zu unterstellen? Auch in sämtlichen anderen serbischen Publikationen hat Stanisic seit dem Schlussplädoyer seines Verteidigers, dem Menschenrechtsanwalt Wayne Jordash aus Großbritannien, lassen sich derlei Verunglimpfungen finden.
Insofern könnte in Serbien auch Dankbarkeit für die Vermeidung noch üblerer Folgen der Sturheit Milosevics – so Joschka Fischer in seinen Erinnerungen – mit dem Namen Jovica Stanisic gerade wegen dessen Kontakten mit der CIA aufkommen.
Im Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof ging es immer um die Frage nach der Schuld im Bosnienkrieg. Jovica Stanisic scheint keine Mordaktion beauftragt zu haben und diesbezüglich tatsächlich unschuldig zu sein. Ein schwacher Trost für einen 70-Jährigen, der sich auch als Diplomat ohne Regierungsauftrag verstanden haben dürfte.
Mit einiger Spannung darf also das Urteil im Falle des Jovica Stanisic in Den Haag erwartet werden. Ein filmreifer Showdown wird sich in Den Haag sicher ereignen.
Und im Dritten Akt? Wird Stanisic in seine Heimat ausreisen? Den Rest seines Lebens hinter holländischen Gittern verbringen? Oder wird Stanisic mit seiner Familie in die USA auswandern? Hat der Angeklagte nicht ein bisschen Ruhe im Alter und den romantischen Blick bei Sonnenuntergang auf den Berg Avala verdient?
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