Der Pride Month ist bunt und zeigt die Vielfalt von Mensch-, Dasein und Sexualität. Die Regenbogenfahne fungiert aufgrund ihrer Buntheit dabei als perfektes Symbol der Repräsentation aller Sexualitäten und Geschlechter. Auch wenn der Kampf der LGBTQ*-Bewegung nun schon so weit geführt wurde, dass ihm sogar ein ganzer Monat gewidmet wird, so sind immer noch viele Fragen für viele offen. Und das ist nicht schlimm! Denn einige Antworten diesbezüglich befinden sich am Ende des Regenbogens.

Quelle: people matters

Betrachtet man die verschiedenen Szenen eben jener Bewegung, so könnte man schnell meinen, die Regenbogenfahne ist nicht nur Repräsentation aufgrund der gemeinsamen Ähnlichkeit in ihrer Vielfalt, sondern weil sie eben auch die Buntheit der Auslebung der verschiedenen Sexualitäten und Geschlechter widerspiegelt.

Ob man dazu nun die Drag-Szene betrachtet, welche dadurch besticht, dass sie pompöse, extravagante, elegante und vor allem extrovertierte Kleider, Frisuren und Verhaltensweise zelebriert oder die diversen Christopher-Street-Days. Sie sind ebenfalls bunt – meist durch die Regenbogenfahnen –, sie sind offen, sie zelebrieren den freien Körper und sie sind dadurch auch sehr extrovertiert. Gleiches gilt für viele Gay-Bars oder Gay-Partys: Fetzige Musik, extravagante Outfits, viel Konfetti, Glitzer, Lametta und Glamour und Sekt. Zumindest ist dies das stereotypisierte, aber eher vorherrschende Bild. Und so ganz falsch ist es tatsächlich nicht. Zumindest soll es dabei helfen zu verstehen, warum die Auslebung von Homosexualität oft mit Extrovertiertheit und Extravaganz verbunden wird und warum dies vor allem für jene Menschen wichtig ist, die in ihrer Jugend nicht ihre Sexualität ausreichend ausleben können und konnten.

Sexuelle Auslebung bei Jugendlichen

Das beispielsweise homosexuelle Menschen in ihrer Jugend (zwischen 10-18 Jahren) Schwierigkeiten haben sich zu outen und ihre Sexualität so auszuleben wie es ihre heterosexuellen Mitpubertierenden tun, ist kein Geheimnis, sondern traurige Tatsache. Das lässt sich nicht nur darauf zurückzuführen, dass es statistisch einfach weniger Homosexuelle gibt und somit das "Angebot" nicht so groß ist wie bei Heterosexuellen, sondern auch darauf, dass die erste Auslebung von Homosexualität für viele Junge Menschen auch heute noch eine komplizierte Angelegenheit ist. Ob Angst vor Diskriminierung, Gewalt, Scham oder Ablehnung. Oft wird das Ausleben der eigenen Sexualität in der Jugend verdrängt und damit vernachlässigt. Eine Studie des VHD aus dem Jahr 2012 mit einer Untersuchungsgruppe von knapp 20.000 Personen kommt zu dem Ergebnis, dass  83 % der befragten heterosexuelle Männer den ersten Geschlechtsverkehr unter 18 Jahren hatte, während es bei homosexuellen Männern nur 56 % waren. Rund 44 % dieser Personengruppe hatten ihr erstes Mal mit 18 Jahren oder später. Zum Vergleich: Bei heterosexuellen Männern waren es nur rund 17 %.
Das Ausleben und Erfahren der eigenen Sexualität in der Jugend ist bei Homosexuellen (laut Studie zumindest männlichen, bei Frauen jedoch wahrscheinlich auch) anscheinend deutlich gehemmter als bei Heterosexuellen. Man könne hier zwar differenzieren zwischen sexuellen und romantischen Handlungen und dem tatsächlichen Geschlechtsverkehr, jedoch ist es nicht naheliegend, warum solche Handlungen bei Homo- und Heterosexuellen in den Jugendjahren statistisch gleich verteilt sein sollten, wenn der tatsächliche erste Geschlechtsverkehr bei Homosexuellen im Vergleich oftmals erst zum Ende der Jugendzeit vollzogen wird.
Viel wahrscheinlicher scheint es, dass romantische und sexuelle Handlungen bei Homosexuellen in der Jugend oftmals nicht in der Intensität auftreten, dass sie, wie bei Heterosexuellen, vergleichsweise früh zum Höhepunkt, also zum ersten Geschlechtsverkehr führen. Auch die schon erwähnten Ängste werden das Entstehen von romantischen und sexuellen Handlungen während der Jugendzeit sicherlich deutlich hemmen.

Die Auslebung der Sexualität, das Erforschen der eigenen Bedürfnisse und die Erfahrung, einem Menschen auf intime Weise unendlich nahe zu kommen sind reichhaltige Erfahrungen in der Entwicklung sexuell aktiver Menschen. Sie sind für den Umgang mit der eigenen Sexualität und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit sogar von zentraler Bedeutung.
Welche Auswirkungen kann es nun auf Menschen haben, wenn sie diese Erfahrungen nicht in ihrer Jugend, also wie ihre meisten anderen Mitmenschen nicht zur Zeit der Pubertät, oder kurz danach, und nicht in einer solchen Intensität erleben oder aufgrund von Ängsten nicht erleben können?

Eine Studie der CDC fand 2015 unter anderem heraus, dass rund 43 % der homosexuellen und bisexuellen  High-School Schülerinnen und Schüler in den USA einen Selbstmordversuch ernsthaft in Erwägung gezogen haben, während es bei heterosexuellen Schülern und Schülerinnen nur 15 % waren. Bei sexuell Unentschlossenen waren es noch 32 %.
Besonders der hohe Prozentsatz der sexuell Unentschlossen lässt darauf schließen, dass der Umgang mit der eigenen Sexualität während der Jugend zu massiven Problemen führen kann.  
Die Hemmung der sexuellen Auslebung ist dabei ein Indikator für diese Problematik. Denn das Bestehen eines Problems mit dem Umgang der eigenen Sexualität führt auch meist zu einer Hemmung der Auslebung eben dieser. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass allein die gehemmte sexuelle Auslebung aufgrund von Homosexualität und Unsicherheit bei Jugendlichen zu deutlich erhöhter psychischer Belastung führt, sondern nur, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit verstärkende Faktoren sind. Im Endeffekt heißt es nämlich nur, dass der Umgang mit Sexualitäten außerhalb des heterosexuellen Spektrums für betroffene Jugendliche ein hohes Leid verursacht. Insofern diese sozialen Repressionen ausgesetzt sind, was bei Homosexualität immer noch der Fall ist.

Kultivierung der Homosexualität

Die erhöhte Suizidgefahr bei Homosexuellen in der Jugend ist wahrlich die dunkelste Seite der gehemmten sexuellen Auslebung. Aber es gibt auch eine bunte Seite. Der Regenbogen in all seinen Farben, Extravaganz in der LGBTQ*-Szene, all diese Merkmale unter anderem homosexueller Zugehörigkeiten haben eines gemeinsam: Sie sind zumeist sehr extrovertiert, nicht nur in ihrem objektiven Erscheinen, sondern auch in der Explizierung der eigenen Sexualität. Die Sexualität wird in den Vordergrund gestellt und zelebriert. Das mag in Anbetracht der gehemmten sexuellen Auslebung in der Jugend widersprüchlich erscheinen, ist aber eher die Konsequenz dieser Hemmung. Man könnte es als Kompensation verstehen. Nicht, um mangelnde sexuelle Erfahrungen in der Jugend zu kompensieren, sondern, um die mangelnde sexuelle Auslebung während der Jugend in all ihren Facetten zu kompensieren. Nun stellt sich die berechtigte Frage, inwieweit Regenbogenfahnen, Drag-Queens und Elton John etwas mit sexueller Auslebung zu tun haben. Aus "heteronormativer" Sicht lässt sich dies nicht beantworten. Denn anders als Homosexualität, hat Heterosexualität keine historisch assoziierbare Kultur. Weder durchlief oder durchläuft sie eine explizierte Kultivierung aufgrund ihrer Sexualität, wodurch sich so etwas wie eine repräsentative Szene hätte bilden können, noch musste sie die Auslebung ihrer Sexualität im Untergrund vollziehen.


Anders schaut es bei unter anderem der Homosexualität aus. Die Bewegung hat sich ein Symbol (den Regenbogen) und einen Namen (LGBTQ*-, Queer-, Schwulen- und Lesben-Szene) gegeben, welche sich aus ihrem politischen und gesellschaftlichen Kampf um Gleichberechtigung begründen. Dieser Kampf ist es auch, der die Homosexualität kultivierte. Durch den Kampf um Gleichberechtigung entstand auch die Sichtbarkeit und damit die Möglichkeit, seine Sexualität ungestraft auszuleben, ja sie sogar nun mit dem Rest der Gesellschaft öffentlich zu zelebrieren. Es lässt sich auch als kulturelle Öffnung verstehen: Die diversen Subszenen der Homosexualität bildeten sich unter Ausschluss und Furcht vor der Öffentlichkeit. Dadurch war es unter anderem der Homosexualität gar nicht möglich, sich wie Heterosexualität auszudrücken. Sie war somit introvertiert nach außen hin, in sich jedoch extrovertiert. Die Auslebung der Sexualität fand also zu großen Teilen nur im geschlossenen Kreis statt, war dadurch aber auch wieder beschränkt. Diese Extrovertiertheit verstärkte sich unter der Repression der Öffentlichkeit, brach in einem Kampf der Gleichberechtigung aus und entwickelte sich mithin zu einer Extravaganz, wie wir sie heutzutage oftmals wahrnehmen.

Für homosexuelle Jugendliche heutzutage bedeutet dies nun, dass sie mit der Wahrnehmung und Akzeptanz ihrer Sexualität in eine Kultur der sexuellen Auslebung "hineingeboren" werden, welche ihnen Ausdrucksmöglichkeiten, Beratung und Zughörigkeit vermittelt, welche sie selbst in ihrer Jugend nur erschwert zu erreichen und zu bekommen vermögen. Wiederum ist und war diese Kultur für ältere Generation die Möglichkeit, die Hemmung ihrer sexuellen Auslebung, gebildet in den Jugendjahren, zu überwinden und sich einer bereits bestehenden, kultivierten sexuellen Auslebung anzuschließen, welche sie ja selbst zuvor meist nie erlernten und selbst erfuhren.

Die LGBTQ*-Szene ist also nicht nur extrovertiert nach außen aufgrund ihrer politischen und gesellschaftlichen Historie, sondern sie muss es auch sein, um all jenen Menschen einen Schimmer der Extrovertiertheit und damit eine Idee des Ausdruckes zu geben, welche ihre Sexualität, wenn überhaupt nur introvertiert ausleben können und konnten. Gehemmte sexuelle Auslebung wird hier also in extrovertierte sexuelle Auslebung umgewandelt. Dies hilft vor allem betroffenen Jugendlichen in ihrer Entwicklung sich frei ausleben zu können.


*Der Begriff "LGBTQ" erfuhr in der Geschichte seiner Bewegung viele Ergänzungen. Anfangs erst LGB, dann LGBT bis zu – jedoch weniger genutzt – LGBTQIA+ (-intersexuell und asexuell plus weitere). Meistens, sowie auch hier, sind mit LGBT und LGBTQ alle Sexualität und Geschlechter gemeint, auch wenn sie nicht explizit im Begriff genannt werden.

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