Jedes Jahr am Vorabend von Silvester treffen sich das bald zu Ende gehende und das künftige Jahr bei zwei, drei Drinks – traditionell Bloody Mary - zu einer Art Übergabe der Geschäfte.
In früheren Zeiten waren diese Treffen richtige langwierige und anstrengende Arbeitstermine: das vergehende Jahr legte die wichtigen Akten vor, erläuterte dies und jenes und gab dem Neuen viele Tipps, wie mit diesem und jenem Problem oder Besonderheiten umzugehen sei.
Aber in Zeiten des Internet liegen die relevanten Dokumente in der Cloud, Unklarheiten haben sich die künftigen Jahre schon selbst ergooglt und können diese auch jederzeit im Netz nachschlagen. Außerdem ist die Ausbildung der Künftigen in den letzten Jahrzehnten differenzierter und tiefgründiger geworden, eine detailgenaue Einweisung und Übergabe braucht es schon lange nicht mehr.
Dennoch wurde diese Tradition beibehalten, als teambildende, kollegiale Maßnahme sozusagen: um die Leistung des Vergehenden zu würdigen, ihm/ihr* Respekt zu erweisen. Und um dem Künftigen ein bisschen die Angst zu nehmen und das Lampenfieber zu dämpfen.
Geblieben sind der Ort des Treffens – beim alten Jahr, es kann ja noch nicht weg – und, dass das Künftige die Ingredienzen für die Drinks besorgt und mitbringt.
„Wozu denn eine Gurke?“, fragt 2020 erstaunt, als das Künftige am Küchentisch seinen Jutebeutel beginnt auszupacken. „Wir wollen doch nicht essen? Und falls Du Hunger hast, dann könnten wir im Restaurant um die Ecke was bestellen. Die liefern nämlich neuerdings. Zum Selberkochen hab ich heut keine Muße. Und bloß weil ich paar Pfunde zugelegt habe, werd ich nicht jetzt auf meine alten Tage noch Salat essen.“
„Ich hab keinen Hunger, hab vorhin erst gegessen. Die Gurke ist für die Drinks. Bloody Mary wird heuer nix. Im Supermarkt gab‘s keinen Bleichsellerie. Dort waren die Gemüsekisten wie leergefegt. Wahrscheinlich bestellen die Märkte im Lockdown weniger frisches Gemüse, sind ja auch weniger Menschen zum Einkaufen da als sonst.“
„Ach verflixt,“, entfährt es dem Vergehenden resigniert. „Das werden sie auch wieder mir anhängen.“
„Wer wird Dir was anhängen?“
„Dass die Märkte leer sind. Die Leute. Für die bin ich an allem Schuld, was während meines annos geschehen ist. Natürlich bloß an allem Schlechten. Das Gute habe sie immer selber vollbracht, diese Menschen. Ach, lassen wir das. Was trinken wir denn heute, wenn‘s keine Bloody Mary gibt?“
„Gin Tonic.“
„Gin Tonic? Mit Gurke?“
„Ja, das trinkt man jetzt so. Schmeckt auch, schön frisch. Außerdem gab’s auch keine Zitronen mehr.“
Später sitzen sie in 2020s Wohnstube in den Ohrensesseln am Bollerofen, genießen ihre Drinks - Gin Tonic mit Gurke (man muss die Gurkenscheiben - 2-3 pro Drink - schälen, zu den Eiswürfeln ins Glas geben und Gin und Tonic darüberlaufen lassen, dann wird’s am besten) - und das Zukünftige denkt insgeheim, dass das eine gute neue Tradition sein könnte, Bloody Mary hat es noch nie so richtig gemocht - und reden.
Hauptsächlich redet 2020.
Darüber, wie es am 01.01. anfing. Wie leicht alles schien und sich die Zeit ganz einfach laufen ließ. Und darüber, wie plötzlich, ganz kurz nach dem Beginn, die Stimmen immer mehr wurden, die „2020 kann weg.“ und „Was für ein Jahr!“ (negativ gemeint, nicht bewundernd oder dankbar) sagten oder twitterten. Und dass es irgendwann im Frühsommer gerne in Kurzarbeit gegangen wäre, das aber nicht möglich war. Dann eben Homeoffice, hatte es sich gedacht, aber das machte es auch nicht besser.
Es wurde immer schlimmer: während seiner Amtszeit wurden Waffen an Schurken verkauft, keiner kümmerte sich so richtig um die großen Aufgaben der Zeit (und wenn, dann nur halbherzig oder falsch), ein Präsident eines wichtigen Landes schien immer mehr auszuflippen, im Mittelmehr ließen sie weiterhin Menschen ertrinken, auf den Inseln dort hielten sie sie in widrigsten Verhältnissen fest, Nazis und Rassist*innen saßen seit ein paar Jahren schon in Parlamenten und Regierungen (vieles davon hatte 2020 schon von seiner Vorgängerin berichtet bekommen, aber gedacht, das könne in seinem anno gelöst oder eine Lösung zumindest begonnen werden). Und das mit der Pandemie haben sie auch nicht hinbekommen.
„Und jetzt, seit der Dezember begonnen hat, geben sie es mir nochmal so richtig: ‚2020 setzt noch einen drauf.‘ oder ‚2020 gibt nochmal alles.‘ kommentieren sie, wenn nahe Angehörige sich an diesem Virus infizieren oder erkranken oder gar damit sterben. Ich hab es so satt. Mir graut davor, wie sie mich in Erinnerung behalten werden, obwohl sie es selbst verbockt haben. Also: viele, nicht alle. Aber die Erinnerung wird das immer alles mit mir verbinden.“
2020 leert sein Glas in einem Zug und geht in die Küche, um neues Eis zu holen. 2021 bleibt bedrückt zurück, legt im Bollerofen noch zwei Kohlen nach.
Als zwei neue Gin Tonic eingeschenkt sind, 2020 wieder im Sessel sitzt und nachdenklich in sein Glas starrt, bricht 2021 das gemeinschaftliche Schweigen: „Es sind so große Aufgaben, ich hab Schiss, dass ich das alles gar nicht packe.“
„Ja, große Aufgaben, aber nicht Deine.“
„Nicht meine?“
„Nein, das sind der Menschen Aufgaben.“
„Und was ist dann meine?“
„Du gibst ihnen bloß die Zeit, sie anzupacken. Ich wünsche, sie geben Dir eine Chance.“
„Und wie krieg ich das hin?“
„Das kriegst nicht Du hin, das müssen die Menschen hinbekommen.“