Beschäftigt man sich mit dem Marxismus, wird er gemeinhin in drei Bereiche unterteilt: die Ökonomie, die Geschichte und die Philosophie. Daraus leitet er seine Wissenschaftlichkeit ab, die sich jeglicher idealistische und auch ideologischer Vereinnahmung verweigert. Denn letztlich ist der Marxismus keine Ideologie, sondern sowohl eine Methode, die auf nahezu alle Bereiche angewandt werden kann, als auch eine in sich kohärente Wissenschaft, die anders als die bürgerlichen Wissenschaften die Dialektik anwendet, die bis heute nur ansatzweise, beispielsweise in der Physik, zu sehen ist. Doch auch die bürgerliche Interpretation der Physik tut es sich mit den Widersprüchen schwer, obgleich sie dort unentwegt und permanent vorhanden sind. Die von Friedrich Engels aufgestellte, vereinfachte, Formel der Dialektik, lässt sich auf zwei Hauptpunkte reduzieren: die Negation der Negation und die Bewegungsgesetze. Hört ein Ding auf sich selbst zu negieren und auf, sich zu bewegen, ist es schlechterdings nicht mehr. Angewandt auf das menschliche Leben bedeutet das beispielsweise: die permanente Bewegung, das heißt das Funktionieren der Organe, und die Negation der Negation, das heißt die Verneinung und Erneuerung von Zellen, sind Ausdruck dieser Methode. Und hört dieser Prozess auf, so ist der Mensch nicht mehr in der Lage, selbst zu sein, also tot.
Dieser Erkenntnisgewinn ist wichtig, um sich mit einer handlungstheoretischen Komponente zu beschäftigen, die dem Marxismus häufig angedichtet wird: der Determinismus. Der Determinismus ist ein Oberbegriff für unterschiedliche handlungstheorische Theoreme, die die Willens- und Entscheidungsfreiheit des Einzelnen betrifft: wie frei bin ich, mich für eine Handlung zu entscheiden? Der Determinismus geht davon aus, dass die Handlungen des Einzelnen stark oder schwach vorbestimmt sind, es also eine bedingte oder unbedingte Freiheit gibt, sich für Alternativen zu entscheiden. Vulgär wird der Determinismus auf den Marxismus so verstanden, als dass er eine mechanische Herangehensweise propagiere, wonach der Sozialismus und der Kommunismus unmittelbar aus dem Kapitalismus entspringen müsse, ohne eine Alternative haben zu können. Dieser Vorwurf ist schnell zu entkräften, denn keiner der bedeutenden Marxist*innen haben je diesen Standpunkt verteidigt, wonach der Sozialismus determiniert sei. Er ist eine Notwendigkeit, doch bei entsprechenden Kräfteverhältnissen kann auch der Rückfall, also der Sieg der Reaktion, das sozialistische Ziel verhindern bis hin negieren.
Doch man ist freilich nicht pessimistisch, denn gemäß dem historischen Materialismus ist der Sozialismus die logische Konsequenz, also der nächste Schritt zur Überwindung der Klassengesellschaft. Doch ist dieser Schritt stark oder schwach determiniert? Um eine Antwort auf diese Frage zu geben, müssen wir uns von den inneren Widersprüchen und Entwicklungen in der jetzigen Gesellschaft abwenden, das heißt: den Blick vom kleinen auf das Ganze wagen. Um der Frage nachzugehen, ob etwas determiniert ist oder nicht, ist es unabdingbar, sich mit dem Konzept vertraut zu machen, das diese Frage erst aufwerfen kann: die Zeit. Denn die Zeit als Ganzes ist verbunden mit allen Phänomene und Erscheinungsformen, die für uns beobachtbar sind - und darüber hinaus. Der dialektische Materialismus erlaubt es einem, ein Verständnis für dieses Konzept aufzubringen, das dem Kern sehr nahe kommt.
Der Beginn der Zeit ist unmittelbar mit dem Beginn von allen verbunden. Es gibt vor und nach der Zeit nichts. Das ist für das grundsätzliche Verständnis wichtig, um auch der metaphysischen Frage nachzugehen, was denn außerhalb des Universums sei: das beobachtbare und nicht-beobachtbare Universum ist alles, was ist. Es gibt nichts außerhalb davon. Die Zeit gibt dabei nicht nur die Richtung vor, sondern sie ist permanent und mit allen physikalischen Gesetzen verbunden, die sich auch in der materialistischen Geschichts- und Weltauffassung wiederfindet. Auch die Materie, die materiellen Bedingungen, können gar nicht existieren ohne die Zeit. Alles ist gebunden an den Verlauf der Zeit und ihrer streng gesetzten Rahmenbedingung, die keinen entgegengesetzten Verlauf zulässt.
Das ist ein elementarer Punkt, der sich auch mit der Dialektik verträgt. Es mag auf den ersten Blick sehr mechanisch anmuten, wenn wir davon ausgehen, dass die Zeit in nur eine Richtung gehen kann, und nicht in die gegensätzliche. Wenn wir beispielsweise die Umdrehung der Erde beobachten, wäre es für uns nicht widersprüchlich, würde sie sich in die entgegengesetzte Achse drehen. Dadurch würden keine physikalischen Grundgesetze verletzt. Und so lange keine physikalischen Grundgesetze verletzt werden, ist jede Möglichkeit vorstellbar. So regnet es auf unserem Planeten Wasser, derweil es auf anderen Planeten Diamanten „regnet“. Diese für uns kontraintuitiven Phänomene sind allerdings möglich, da eben die Physik nicht angegriffen wird. Doch weshalb kann die Zeit dennoch nur in eine Richtung gehen? Dafür gibt es nur einen einzigen Grund, der den Verlauf der Zeit so bestimmt und festmacht, wie sie eben ist: der zweite Hauptsatz der Thermodynamik: „Es gibt keine Zustandsänderung, deren einziges Ergebnis die Übertragung von Wärme von einem Körper niederer auf einen Körper höherer Temperatur ist.“
Das heißt: Wärme kann nie von einem kalten Gebiet in ein warmes Gebiet fließen: sie fließt immer von einem warmen Gebiet in ein kaltes. Würde das in die andere gesetzte Richtung gehen, würde ein kalter Körper immer kälter und ein warmer Körper immer wärmer werden. Das heißt: Zeit kann nur in eine Richtung gehen, um vergangenes, gerade geschehenes und noch zu geschehenes klar zu auseinanderzuhalten. Doch Zeit ist freilich nicht fix, sondern noch an andere Gesetze gebunden, so die Gravitation. Hernach gibt es unterschiedlich, periodische Zeitabschnitte, die ein allgemeines Zeitgefühl und -vergehen nicht zulässt. Die Zeit spielt auch in unserer Welt und unserem gesellschaftlichen Verständnis eine Rolle: die Oktoberrevolution ist vergangen, sie wird so, wie sie geschah, nicht wieder sein. Was natürlich nicht heißt, dass das noch zukünftige eine (hoffentlich) zweite Oktoberrevolution ermöglichen wird. Würde die Zeit in eine andere Richtung gehen, würden wir heute über die Oktoberrevolution diskutieren, obgleich sie noch gar nicht eingetroffen ist.
Doch die Zeit ist nicht nur streng an eine Richtung gebunden, sie ist auch fatalistisch. Das bedeutet, dass ihr Verlauf unter allen Umständen vorbestimmt ist, selbst wenn man versucht, sich der Bestimmung zu entziehen. Denn es gibt im Universum ein einzigartiges Objekt, welches die Zeit nicht nur von allen Gesetzen entzieht, sondern sie sowohl bejaht als auch verneint: die schwarzen Löcher. Im inneren eines Schwarzen Loches herrscht eine gewaltige Gravitation, die selbst Licht verschluckt und alles auf einen einzigen Punkt reduziert - die Singularität. Wenn der sogenannte Ereignishorizont überschritten wird, kann selbst, wie erwähnt, auch Licht nicht mehr entfliehen. Doch auch die Zeit verhält sich anders. Um das zu verdeutlichen, stellen wir uns einen Astronauten vor, der auf ein Schwarzes Loch zugeht. Wir beobachten das aus sicherer Ferne. Je eher sich der Astronaut dem Ereignishorizont nähert, desto langsamer bewegt er sich für uns. Hat er den Ereignishorizont überschritten, bewegt er sich immer langsamer. Wir sehen nie, dass er den Ereignishorizont überschreitet. Für den Astronauten spielt sich etwas anderes ab: hat er den Ereignishorizont überschritten und schaut aus dem Schwarzen Loch heraus, wird er sowohl den Anfang als auch das Ende des Universums sehen, beziehungsweise den kompletten Verlauf der Zeit in einer unendlichen Geschwindigkeit. Das macht die Zeit zwingend fatalistisch, da sowohl der Anfang als auch das Ende notwendigerweise erkennbar ist. Nennen wir das einen „physikalistischen Fatalismus“.
Was bedeutet das nun? Können wir uns nun einfach entspannt zurücklehnen und warten, bis der Kommunismus kommt? Freilich nicht. Denn die Erkenntnis, dass die Zeit fatalistisch ist, ändert nichts an der faktischen Entscheidungsfreiheit des Einzelnen im Handeln. Jede freie Entscheidung ist ein Resultat von Abwägungen und Erfahrungswerten, besonders auch im gesellschaftlichen Kontext. Denn der historische Materialismus respektive die Geschichte der Menschheit ist nicht streng deterministisch: ihr Verlauf ist nicht vorbestimmt. Nun mag man die berechtigte Frage aufwerfen, wie das mit dem „physikalistischen Fatalismus“ in Einklang zu bringen ist.
Wir können beim gesellschaftlich-historischen Determinismus von einem kompatibilistischen Determinismus sprechen, das heißt einen Determinismus, der Entscheidungsfreiheit ausdrücklich erlaubt. Allerdings ist der Marxismus und die Geschichte der Menschheit auch nicht kompatibilistisch-deterministisch. Denn was geschieht, welche Entscheidung gefällt wird, ob die Revolution siegt, oder die schwärzeste Reaktion, ist immer genau dann fatalistisch, wenn es eintrifft. Denn die Willensfreiheit gibt es weiterhin; in dem eng gesetzten Rahmen der periodischen Zeit liegt es an der Menschheit, zu bestimmen, was mit ihr geschieht. Dass das „physikalistisch fatalistisch“ ist, ist dabei sekundär, denn die Erkenntnis, etwas kann vorbestimmt sein, ohne zu wissen, wie diese Vorbestimmung ausschaut, lässt letztlich nur alkoholisierte Philosoph*innen in eine existenzielle Krise zwingen, doch nicht die arbeitende Klasse, die nach wie vor unterdrückt bleibt und ist. Ob sich die Arbeiter*innenklasse befreit oder nicht, liegt an der Arbeiter*innenklasse selbst: wenn sie sich endlich befreit, ist das genauso fatalistisch, wie, wenn sie sich nicht befreit. Dieser Gedankengang ist nur auf den ersten Blick schreiend widersprüchlich, weil wir ein vereinfachtes Konzept vom Verlauf der Dinge haben. Für uns ist nur die Gegenwart und die Vergangenheit zugänglich: denn Licht, das durch das Universum reist, übermittelt immer nur die Information, die bereits geschah, nie die, die noch sein wird. Beobachten uns nicht-erdische Lebewesen, würden sie bereits geschehenes sehen und es als aktuelles halten, doch sie können niemals etwas sehen, was bei uns noch nicht eintraf. So bleibt übrig: egal, ob man sich für A oder B entscheidet, ob für Revolution oder Reaktion: entscheidet man sich für A, wäre A ohnehin eingetroffen. Doch entscheidet man sich für B, wäre B ohnehin eingetroffen. Es ist die Freiheit im Fatalismus: man hat die Geschicke der Befreiung der Menschheit selbst in der Hand, die Zeit bestätigt nur das, was ohnehin sein wird.
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