Stefan aus Hannover feiert gerade einen Artikel "aus Nature", der belegen soll, dass Lockdowns nichts bringen. Sagt der Artikel das und ist damit die Diskussion über den Sinn von Lockdowns beendet?

Okay, schauen wir uns das halt an...

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Erstmal, hier der Artikel (Salvaris, Pumi, Dalzochio & Kunst, Scientific Reports 2021)

Stay-at-home policy is a case of exception fallacy: an internet-based ecological study
A recent mathematical model has suggested that staying at home did not play a dominant role in reducing COVID-19 transmission. The second wave of cases in Europe, in regions that were considered as COVID-19 controlled, may raise some concerns. Our objective was to assess the association between stay…

und Moment... Hat Herr Homburg schon im dritten Wort seines Posts Mist gebaut?

Wirklich?

Ja...

Das ist nicht aus der Zeitschrift Nature (Impact factor 42,778, so prestigeträchtig wie es nur geht), sondern aus dem viel weniger renommierten Open Access Journal der Nature Publishing Group (IF 4,011). Das macht das Paper nicht schlecht, aber weist schonmal drauf hin, dass es eben nicht so hochkarätig ist, wie Herr H. aus H. es uns verkaufen möchte und/oder dass er nicht so genau hinschaut.

Was macht das Paper nun? Naja, es vergleicht Mobilitätsdaten von Google mit den Todesfällen durch Covid-19 und vergleicht dann, ob im Vergleich verschiedener Regionen der Anteil der zu Hause verbrachten Zeit und der Todesfälle über die Zeit korrelieren.

Kann man machen. Wie repräsentativ von Google erhobene Daten für die ganze Bevölkerung sind, und wie gut die zu Hause verbrachte Zeit als Mass für die Umsetzung von Lockdowns ist, sind aber sicher kritische Fragen. Genau genommen geht es also eigentlich um das zu Hause bleiben von Google-Geräten und Covid-Todesfälle, nicht direkt um Lockdowns. Im Paper wird auch nur von "stay at home" gesprochen, Veranstaltungsverbote, Masken, Test usw. fließen nicht ein.

Die Mathematik ist im Prinzip relativ simpel, ich will da hier nicht wirklich drauf eingehen.

Was ich aber kritisch sehe, ist dass die Veränderung von Unterschieden im zu Hause bleiben einer Region direkt mit der Veränderung des Unterschieds in den Todesfällen verglichen wird, wobei die Höhe von Ausgangswerten und die zeitliche Verzögerung der Wirkung von Massnahmen meines Erachtens zu kurz kommt, da Schwankungen bei niedrigen Zahlen und solche bei hohen meines Erachtens eigentlich nicht vergleichbar sind.

Das heisst nicht, dass die Methodik völlig ungeeignet ist, aber ich fürchte, dass sie anfällig ist, Effekte zu übersehen und dabei gerade solche, die für die Beurteilung von Lockdowns eigentlich wichtig wären.

Aber schauen wir mal auf die Datengrundlage, da fließen nämlich in die Analyse 87 Regionen ein und bei denen bekomm ich dann doch ziemlich Bauchweh.
Das sind nämlich 51 Länder, drei Großstädte (Berlin, Tokyo, New York), 27 Brasilianische Bundesstaaten und 6 Brasilianische Hauptstädte. Brasilien allein macht also etwa ein Drittel der Daten aus und da hab' ich dann wirklich Bauchweh, wenn Brasilien, mit einer coronaverharmlosenden Regierung und dementsprechend fraglichen Datenlage so massiv in die Auswertung einfließt und das auch eigentlich gar nicht im Paper thematisiert wird.

Last but not least wäre zu erwähnen, dass die ausgewerteten Daten nur bis zum 21. August 2020 gingen, also alles sich nur auf die erste Covid-Welle in Europa und die Sommerwelle in manchen Ländern bezieht.

Die Ergebnisse: Kurz gesagt, finden die Autoren so gut wie keine signifikanten Korrelationen zwischen Todesfällen und zu Hause bleiben.

Auffällig ist auch, dass ein großer Teil von Einleitung und Diskussion sich damit auseinandersetzt, dass dieses Ergebnis auffällig von den Schlussfolgerungen zahlreicher anderer Paper abweicht. Auch das erzeugt doch etwas Bauchweh.

Schauen wir nochmal auf die Autoren, dann sind es wenig überraschend Brasilianer (Was erstmal nichts negatives heissen muss!). Die Fachrichtungen sind Gynäkologie (2x), Mathematik, Computerwissenschaften und Data Science.
Uff...

Also fassen wir zusammen: Brasilianische Wissenschaftler ohne erkennbaren epidemiologischen Hintergrund haben ein mathematisches Modell entwicklet um auf Basis von Google-Mobilitätsdaten abzuschätzen, in wie weit zu Hause bleiben mit den Todesfallzahlen in verschiedenen Regionen (mit starkem Bias zugunsten Brasiliens) zusammenhängt und kommen zu einem Ergebnis, das der Mehrheit der interventionsbewertenden Arbeiten stark widerspricht.

Das ist interessant, definitiv. Ich kann das Modell nicht wirklich im Vergleich zu den in den anderen Arbeiten angewandten Modellen bewerten.

Aber eins ist doch ziemlich sicher:
Eine definitive Widerlegung aller anderen Arbeiten zur Wirksamkeit von Lockdowns ist es nicht. Im besten Fall ein Hinweis, dass wir nicht auf unserer Bude sitzen müssen, um Corona zu kontrollieren. Das wäre ja nicht unerfreulich, aber viel weniger überraschend, als das, was Stefan H. aus H. daraus macht.
Ganz nett sind übrigens auch ein paar der in der Diskussion genannten "limitations", ich zitiere: "for instance, if a user´s cell phone is switched off while at home, the observation will be absent from the database" "Death figures may be underestimated" "The arbitrary criteria used for including countries and regions, the restrictive comparisons, and our definition of an area as COVID-19 controlled are open for criticism."

Nur falls jemand sagt, meine Punkte seien unfair - die Autoren stimmen da teilweise zu, auch wenn sie natürlich die Stärken ihrer Arbeit eher betonen.
Alles in allem scheint mir Stefan H. aus H. hier also einmal wieder ein bisschen wenig genau hingeschaut zu haben und einfach mal zu feiern, was ihm in die Agenda passt. Wenn Epidemiologen die Arbeit feiern, dann schauen wir genauer hin, aber für den Augenblick scheint mir das kein zentrales Paper zu Corona...

Mäuschen out.