„Alles, was ich über Moral und menschliche Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball”

Albert Camus hätte vielleicht auf sein berühmtes Zitat verwiesen, hätte er die am 22. Mai 2021 zu Ende gegangene 58. Spielzeit der deutschen Bundeliga beobachten und kommentieren können. Schon alleine der Umstand, dass die gesamte Saison aufgrund der  Covid-19-Pandemie unter geisterhaften Umständen als virtuelle Inszenierung stattgefunden hat, dürfte ihn zum nachdrücklichen Nachdenken über den engen Zusammenhang von gesellschaftlichen Entwicklungen und seiner frühen Leidenschaft, dem Fußball, angeregt haben: „(...) dass der Ball nie so auf einen zukommt, wie man es erwartet“. Die krisenhaften Besonderheiten dieser Spielzeit entlarven die finanziellen und ideologischen Fundamente des bezahlten Fußballs als fragile Illusionen einer an ihre Grenzen gekommene Geldmaschine. Und zwar nicht einmal in sportlicher Hinsicht, sondern vielmehr auf der Ebene der Funktionäre, Manager und Spielbetriebsleiter. Das so gerne verbreitete Narrativ vom Fußballsport als identitätsstiftendes, gemeinschaftsförderndes, respektvolles und ehrenhaftes Bollwerk im widrigen Meer gesellschaftlicher Wirklichkeiten wurde vor breitem Publikum wohl endgültig zu den Akten gelegt.

Ausgehend von einer scheinbar unspektakulären, da oft geübten Praxis, trennte sich einer der prägenden deutschen Fußballclubs im laufenden Spielbetrieb von seinem Trainer: Er erfülle nicht die in ihn gesetzten Erwartungen, so hieß es. Auch wurde ihm  vorgeworfen, seiner Mannschaft weder zu einer „totalen Gewinnermentalität“ noch zu einer „unbedingten Gier nach Siegen“ verholfen zu haben. Schnell wurde Ersatz für die kommende Saison beschafft. Allerdings bei einem unmittelbaren Konkurrenten, der sehr erfolgreich mit seinem Trainer arbeitete und gute Aussichten hatte, eine erfolgreiche nationale Saison zu bestreiten mit dem Ziel, zukünftig auch mit europäischen Spitzenmannschaften international aufspielen zu dürfen. Die ebenso schnelle Bekanntmachung dieses Vorgangs in aller Öffentlichkeit führte nicht nur zu einem offenkundigen Leistungseinbruch bei der besagten Mannschaft, dessen Anführer sich überraschend für zukünftige Aufgaben neu orientierte, und mit der Folge, dass man nun zum Ende einer mittelmäßigen Saison im unergiebigen Mittelfeld der Bundesliga landete. Nein, dieser Vorgang war lediglich der Beginn einer "Headhunting-Kaskade" von der letztlich kaum ein prominenter Fußballclub verschont blieb: (Erfolgreiches) Beispiel macht Schule!

War der Fußball schon für Camus nach eigener Einschätzung eine Lektion fürs Leben, „zumal für das Leben in der Stadt, wo die Leute nicht ehrlich und geradeheraus sind“, so darf man als langjähriger Beobachter von König Fußball dessen systemischen Abläufe durchaus als eine lehrreiche Metapher für menschliches Verhalten schlechthin einordnen. Vielleicht darf man sogar das aktuelle Verhalten der prominenten Akteure in den Fußball-Clubs  mit den frühesten Weisheiten des alten Indien beschreiben. Folgt man Heinrich Zimmer, so mussten damals Söldner hoch bezahlt werden, um des Königs Kriege auszufechten. Sobald sein Geld versiegte, würden sie sich sofort von ihm abwenden. Auch im alten Indien bedeutete eine verlorene Schlacht meistens auch ein verlorenes Königreich, eine gestürzte Dynastie. Intrige, Verschwörung, Mißtrauen, Verrat bestimmten deshalb die Atmosphäre des Königshofes, so Heinrich Zimmer. Kenntnisreich und eindringlich beschreibt er das indische Denken über die "Philosophie des Erfolges und die Funktion des Verrats". Bei der Beobachtung der aktuellen Lage am Königshof Fußball erscheinen seine Ausführungen geradezu beängstigend: "Je tüchtiger und mächtiger die begünstigten Offiziere waren, desto weniger konnte man ihnen trauen; waren sie es doch, die des Königs Stärken und Schwächen kannten; sie hatten die Schlüsselstellung inne".

Was bleibt? Zunächst eine gesunde Skepsis gegenüber allen Erzählungen von selbsternannten Heilsbringern, aber auch die Liebe der Fans zu ihren Vereinen und deren ewiger Gewissheit: "Die Hoffnung stirbt zuletzt!"

Die Zitate stammen aus Abel Paul Pitous, Mon cher Albert. Ein Brief an Albert Camus. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Arche Verlag, Zürich 2014. Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens. Suhrkamp Verlag Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Zürich 2016. Borussia Dortmund und die fehlende Gier | WEB.DE