Peter Schäfer, der ehemalige Direktor des Jüdischen Museums Berlin, veröffentlichte 2020 eine "Kurze Geschichte des Antisemitismus". Antisemitismus, so Schäfer, ist eine "vielköpfige Hydra", die "lebendiger denn je" ist. Meine Eindrücke und auch kritische Überlegungen:

Schäfer schreibt über die langen Kontinuitäten des Antisemitismus beginnend mit der griechisch-römischen Antike. Insbesondere die erste Hälfte des Buchs ist lesenswert. Er zeigt, dass die Unterscheidung von Antijudaismus und Antisemitismus nicht trägt, weil auch sehr alte Formen des Judenhasses schon die Ermordung von Jüdinnen und Juden anvisierten und nicht immer auf ihre Missionierung setzten. Dem Antisemitismus ist also schon sehr lange ein eliminatorisches Element inhärent. Bei allen Wandlungen: Antisemitismus zeichnet immer das Zusammenspiel von Hass und Angst aus. Schäfer sieht das in der Religion verwurzelt und rekonstruiert auch die Elemente der angstvollen Bewunderung. Denn Antisemitismus ist eine Unterlegenheitsfantasie. Das unterscheidet Antisemitismus vom Rassismus, der als Überlegenheitsfantasie daherkommt (an einer Stelle behauptet Schäfer hier, gäbe es eine Parallele zwischen Antisemitismus und "Islamophobie"; die Behauptung ist nicht neu, besser belegt wird sie aber auch nicht).

Lichtblicke des Buches sind Passagen, in denen pointierte Analysen zu finden sind: eine gute Erklärung, warum man Shoah und nicht Holocaust schreiben soll, was die Singularität der Shoah ist und, dass sekundärer Antisemitismus oft ein Wiederaufleben des "traditionellen 'primären' Antisemitismus" ist.

Aber!

Das Buch schreibt sich auch in die jüngsten Antisemitismusdebatten ein.

  1. beginnt es mit einer Kritik an der IHRA-Arbeitsdefinition des Antisemitismus. Nur übt Schäfer eine fundamentale Kritik, die jedweden Versuch Antisemitismus zu definieren, für absurd erklärt! Denn Antisemitismus sei prinzipiell nicht definierbar, weil er ein "variables, vielschichtiges und offenes System" sei, das sich permanent anreichere und Altes aktualisiere.
  2. wiederholt Schäfer auch die Mär vom Antisemitismusvorwurf, um Leute zum Schweigen zu bringen.
  3. In einem wirklich kurzen und wenig innovativen BDS-Kapitel (Boycott, Divestment and Sanctions) greift er auch den Bundestagsbeschluss dazu an. Diese geradezu realpolitischen Passagen wirken bisweilen deplatziert. Wenn er am Material argumentiert, ist er besser.

Er gesteht zu, dass Formen von Israelkritik antisemitisch sind und argumentiert in seinen Ausführungen - aber ohne das zu sagen - genau wie die IHRA-Arbeitsdefinition (International Holocaust Remembrance Alliance). Er lässt auch keinen Zweifel daran, dass die Politik des Iran, der Hisbollah und Hamas antisemitisch sind! Hin und wieder hat mir aber der rote Faden gefehlt! Zwei Beispiele, einmal inhaltlich, einmal methodisch.

  1. In seiner Rekonstruktion des Antisemitismus im Kaiserreich weist Schäfer immer wieder auf den Topos "deutsche Arbeit" hin. Ausgerechnet beim Blick auf den Nationalsozialismus verliert er diesen Faden dann aus den Augen, obwohl er die richtigen Passagen aus "Mein Kampf" betrachtet, um diesen Faden dann in der Nachkriegsgeschichte wieder aufzunehmen.
  2. Sein unterschiedlicher Umgang in der Analyse des Christentums und des Islam erklären sich erst am Ende des Buchs. In den Kapiteln kann man verwundert sein. In der Bibel analysiert Schäfer die antisemitischsten Passagen, um den christlichen Antisemitismus zu rekonstruieren. Im Koran dagegen Stellen, die für Jüdinnen und Juden einstehen. Erst im Kapitel zum islamischen Antisemitismus am Ende des Buchs erschloss sich mir der Grund dafür. Seine These: der traditionelle Islam sei mit Antisemitismus unvereinbar, ganz im Gegensatz zum Christentum. Vom traditionellen grenzt Schäfer aber den neuzeitlichen Islamismus ab, der explizit und wesentlich antisemitisch ist. Im traditionellen Islam fänden sich zwar auch antisemitische Vorstellungen, aber sie prägten dessen Charakter nicht so durchgängig und abschließend wie im Christentum. Der christliche Antisemitismus fand in der Islamischen Welt aber einen Nährboden, etwa beim Import der "Protokolle der Weisen von Zion" oder der Ritualmordlegende, die erst 1840 in der Damaskusaffäre in der islamischen Welt Fuß fasste. Warum das kurze Kapitel zu islamischem Antisemitismus ausgerechnet mit dem Halle-Anschlag endet, bleibt rätselhaft, auch wenn er es zu begründen versucht mit dem Hinweis, das Attentat habe mit dem Angriff auf den Döner-Imbiss eventuell islamophobe Züge.

Zum Schluss:

Schäfer, und da bin ich absolut bei ihm, plädiert für einen nötigen "neuen und radikalen Aufbruch" im Kampf gegen Antisemitismus. Wie der aussieht, sei "noch schwer zu umreißen". Schäfer hat das Große im Blick: Die "unkontrollierte Kraft" des Antisemitismus, "jede menschliche Zivilisation zu zerstören, darf nie wieder in Gang gesetzt werden".

Ergänzen will ich: auch die alltagsprägende Kraft des Antisemitismus, jüdisches Leben zu erschweren, zu bedrohen und zu zerstören, muss mit allen Mitteln unterbunden werden.