Eine Hommage an alle Leserbriefschreiber. Sozusagen ein Leserbrief an Leserbriefschreiber.

Danke, danke, danke

an alle Leserbriefschreiber. Für die erbrachten Dienstleistungen an/für die Leser – vor allem der Lokalblätter – in den vergangenen, vergleichsweise ereignisarmen Zeiten. Aufgrund der bekannten Vorgaben zur Kontaktreduzierung entfielen die üblichen Vereinstreffen zum Beispiel des Karnickelzüchtervereins und somit auch die resultierende Berichterstattung zur existenziellen Grundversorgung an Informationen.

Wenn in der pandemiefreien Zeit einem Lokalredakteur fünf Minuten vor Redaktionsschluss auffällt, dass „ihm noch eine halbe Seite fehlt“, dann greift er verzweifelt zum Telefon. Ein kurzer Hilferuf ins Wirtshaus in Niederobertümpelshausen mit der kurzen Bitte um „Material“ für die nächste Ausgabe. Dort wird fix gelost, wem sie die Schützenkette fürs Foto umhängen. Ein routiniertes Posieren vorm Hintergrund der Schießbahn. Und schon am nächsten Tag kann der halbseitige Bericht über das traditionelle Jubiläumsschießen samt Bild vom freudestrahlenden Gewinner den Lesern präsentiert werden.

Zitate

Nun zu den Leserbriefen. Eine erste grobe Einteilung erfolgt anhand der verwendeten Zitate. Dadurch unterscheidet sich ein lieblos dahingeschriebenes Sammelsurium an Gedankenfetzen von einem wohl durchdachten Meisterwerk, das es auch als Doktorarbeit weit gebracht hätte. Aufgrund der Kürze aber eher der Wurmfortsatz einer Doktorarbeit.

Da gibt es die Schalk-im-Nacken-Fraktion. Darf´s ein bisserl Valentin sein? Ein Gedicht von Heinz Erhardt? Oder ein geistreicher Gedanke von Loriot? Handelt es sich beim Verfasser um einen pensionierten Gymnasiallehrer, dann muss das Zitat mindestens aus Goethes Faust sein. Bei Bonmots auf Latein wird gnädigerweise die Übersetzung mitgeliefert. Man ist mit dem abgrundtiefen Bildungsniveau der Leserschaft bestens vertraut. Die Kategorie Bibelsprüche darf nicht fehlen. Dies verleiht den abgedruckten Aussagen die nötige Spiritualität.

Themen

Themen gibt es genug. Umstrittene Bauvorhaben. Vollzug diskutabler Hygienemaßnahmen. Streichung einer überlebensnotwendigen Busverbindung von Niederobertümpelshausen zur nächstgelegenen kleinstädtischen Metropole. Der wahre Könner leitet den Leserbrief mit einer Formulierung ein, die ihn als Sachkundigen legitimiert. 48 unfallfreie Jahre sollten doch zur Untermauerung der These ausreichen, dass Autos die Alleinherrschaft im Straßenverkehr gebührt. Etwas gewiefter ist die Methode „Umarmung deines Feindes“. Das lautet dann so „ich bin doch selbst schon einmal mit einem Fahrrad gefahren, somit weiß ich, wovon ich spreche“. Dann erfolgt eine hieb- und stichfest ausgeklügelte Argumentation zur Überlegenheit des Automobils mit dem emotionalen Höhepunkt „und was macht man mit einem Fahrrad, wenn es regnet?“ Die Umarmung endet in einer verbalen Erdrosselung des Gegners.

Argumentation

Bei der Argumentation ist ersichtlich auf welch unfruchtbaren Boden jahrzehntelange schulische Ausbildung gefallen ist. Gemäß Lehrbuch erfolgt die Argumentation in der Reihenfolge: These, Argument, Beispiel. In der Realität wird eine schlüsselfertige Behauptung präsentiert. Es folgt eine Aneinanderreihung von emotionalen Erlebnisberichten, einer passenden Halbweisheit basierend auf „Studien“ oder einfach eine ordentliche Portion Menschenverstand und schon wird – Houdini lässt grüßen – die These als Argument aus dem Hut gezaubert. Q.e.d.

Chefstratege

Es fehlt noch das Hoch auf die nicht zu unterschätzende Spezies des „strategischen“ Leserbriefschreibers. Der Profi garniert sein kunstvoll angerichtetes Potpourri an Thesen, Meinung und Weisheiten mit einem bemitleidenswerten Kommentar à la „mein Leserbrief wird wahrscheinlich eh nicht gedruckt“. Dieser geniale Schachzug garantiert dem Verfasser einen Spitzenrang in der Kategorie „beleidigte Leser – äh – Leberwurst“. Und meistens auch die ach so unwahrscheinliche Veröffentlichung.

Schluss mit lustig

Genug gegrantelt. Leserbriefe eignen sich nicht nur als Lückenfüller für die Lokalpresse. Nein, die Ventilfunktion der Beiträge darf nicht unterschätzt werden. Dampfablassen in homöopathischen Dosen. An Tagen, an denen ausnahmsweise keine Demo stattfindet. Oder eine Demo gegen die Demo. Eine gedruckte Speakers´corner für die Volksfront von Judäa.

Nachtrag zum letzten Blogeintrag „Wer´s glaubt…“: es gilt als wissenschaftlich erwiesen und anhand von zig Studien belegt, dass das regelmäßige Lesen meiner Blogeinträge die Lebenszeit um mindestens 10 Jahre verlängert. April, April!

www.bullauge-blog.de

Beitragsbild. Danke an Ylanite Koppens