Gerade noch schaffe ich es in die Bahn zu springen bevor die Türen schließen und muss feststellen, dass ich kein Kleingeld habe, um mir eine Fahrkarte zu ziehen. Ungläubig fische ich zwischen den Geldscheinen in meiner Hosentasche herum und sehe wohl aus, wie Jemand der sich an einer schwer zugänglichen Stelle kratzt, die man in der Öffentlichkeit regulär nicht unter Beobachtung berührt. Mein genervter Gesichtsausdruck wird von einer alten Dame, die  gegenüber dem Fahrkartenautomaten sitzt, bemerkt. Sie zupft an meinem Ärmel und sagt sehr freundlich: “Sie können mit mir fahren.“ Ich setze mich neben sie und ohne sie anzublicken erwidere ich. „Danke das ist sehr nett. Nicht das ich kein Geld hätte, aber man kann hier ja nur mit Münzen zahlen.“ „Müssen sie denn umsteigen?“ „Nein, ich muss nur ein paar Stationen. Wohin fahren sie?“ Sie lächelt mich an und legt ihre Hand auf die meine. Erschrocken will ich meine Hand wegziehen, denn die unerwartete Berührung dieser Frau überraschte mich. Ich sehe sie an und meine Augen schweifen über die tiefen Furchen in ihrem Gesicht, die sich diagonal kreuzen und wie hunderte kleiner Rauten aussehen. Ihre Hand hingegen sieht nicht aus, wie die einer alten Frau. Wo sich sonst Altersflecken, auf pergamentähnlicher Haut durchzogen von grünlich schimmernden Linien befinden, gibt es noch nicht einmal eine Runzel oder Falte. Man konnte vermuten sie sei aus Wachs oder aus Plastik, wenn sie nicht warm gewesen wäre. „Ich habe keine bestimmte Haltestelle an der ich aussteige.“ Ihre Stimme klingt so freundlich und ihre Augen schauen so gütig, dass ich es nicht über das Herz bringe meine Hand wegzuziehen. Der Ärmel ihres grünen Lodenmantels verdeckt das Handgelenk, so dass ich kein Schraubgelenk erblicken kann, oder etwas das auf eine Prothese hindeutet. Mit der anderen Hand hält sie eine in die Jahre gekommene Handtasche mit abgenutzten Ecken, die auf ihrem Schoß liegt und ein Paar braune Wildlederhandschuhe. Unterhalb der Knie schaut unter dem Mantel ein Rock aus hellbraunem Wollstoff der bis zur Mitte der Schienbeine reicht, die in dunkelbraunen Strümpfen stecken und die wiederum in noch dunkelbrauneren Damenschuhen enden. „Wissen sie, ich fahre jeden Tag durch Oberbilk und sehe mir alles an. Es ist interessant zu beobachten wie sich alles verändert im Laufe der Jahre.“ Sie drückt meine Hand noch ein wenig fester, so dass sich Sehnen am Ansatz ihrer Handknöchel unter der porzellanfarbenen Haut zeigen. Sie sieht wieder nach draußen und ihre Augen weiten sich, als seien dort ungeahnte Dinge zu entdecken, die sie nicht verpassen darf. An der nächsten Haltestelle muss ich aussteigen und weiß nicht was ich tun soll, denn ich fühle mich sehr wohl an der Hand dieser alten Frau. Die automatische Bandansage ist zu hören; eine weibliche Stimme kündigt die nächste Haltestelle an. Ich schaue zu der alten Dame, die mir so fremd ist und doch so nah und bin fasziniert, dass sie so zufrieden ist mit dem was an der Scheibe vorüberzieht. Langsam dreht sie ihren Kopf zu mir, genauso langsam wie die Bahn abbremst. Als die Tram anhält lässt sie meine Hand los und sagt lächelnd mit leiser Stimme: “Hier müssen sie aussteigen.“

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