In der Linkspartei sind inzwischen über 60 Fälle von Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts (sexuelle/sexualisierte Gewalt etc.) bekannt geworden. [1] Dazu (und zum Ukraine-Krieg) ging Donnerstagabend ein taz-Interview mit der Linkspartei-Vorsitzenden Janine Wissler online [2].
Auch zu dem zweitgenannten Interview-Thema ließe sich vieles sagen; hier soll sich aber auf das erstgenannte Thema beschränkt werden, um nicht zwei voneinander unabhängige Themen zu vermengen.
Einer der über 60 Fälle betrifft den seinerzeitigen (2018/19) Partner Janine Wisslers, der zugleich Mitarbeiter der hessischen Landtags-Fraktion der Linkspartei war (deren Fraktions-Vorsitzende wiederum Wissler damals war), und ein damals circa 18 Jahre altes, weibliches Parteimitglied.
I. Wo Wissler das Problem sieht
Wissler sagt in dem Interview: Wir „haben […] inzwischen eine externe Expertinnenkommission eingesetzt, mit einer erfahrenen Rechtsanwältin und einer erfahrenen Psychologin, die beide seit vielen Jahren mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt arbeiten. […]. Es war ein Fehler, dass wir das nicht schon früher gemacht haben.“
Das verkennt den wirklichen Fehler: Der wirkliche Fehler ist,
- daß es partei-intern keine Parteilichkeit für die Opfer, sondern Täterschutz gibt und
- daß nun versucht wird, diesen Fehler durch outsourcing zu kaschieren.
II. Das Problem mit der „externe Expertinnenkommission“
Zu der „externe[n] Expertinnenkommission“ sagt Wissler: „Ich ermuntere alle Betroffenen ausdrücklich, sich an diese Kommission zu wenden, damit man solche Fälle aufarbeiten kann.“
Auch in Bezug auf diese Kommission stellen sich mehrere Fragen – und die Antworten darauf dürften für die Entscheidung von Betroffenen, sich an die Kommission zu wenden oder nicht, von Bedeutung sein:
Wurden die Betroffenen, die sich geoutet haben, an der Auswahl der Kommissionsmitglieder beteiligt?
Was soll genau die Aufgabe der Kommission sein?
Zu dem Gegenstand der zweiten Frage sagte Sarah Dubiel, Awareness-Beauftragte des Jugendverbandes der Linkspartei, kürzlich sehr richtig:
„Die Aufklärung bereits bekannter Fälle, die Beratung von Betroffenen und die Prävention künftigen Fehlverhaltens seien ‚drei verschiedene Dinge‘, […].“ (https://www.fr.de/rhein-main/hessen-kritik-an-neuer-vertrauensgruppe-in-der-linkspartei-91531225.html)
III. Der Fall, in den Wissler als Ex-Partnerin des Täters selbst involviert ist
1. Ein kleines Detail: Wann war die „Affäre“ zwischen Täter und Opfer?
Beginnen wir mit einem kleinen Detail – Wissler sagt in dem Interview u.a.: „Im Mai 2018 teilte mir eine Frau mit, dass sie eine Affäre mit meinem damaligen Lebensgefährten hatte.“
Was hatte die Frau genau mitgeteilt: Daß sie zum Zeitpunkt der Mitteilung noch eine Affäre „hatte“? Oder vielmehr: Daß sie vor der Mitteilung eine Affäre „gehabt hatte“? Was war der Anlaß bzw. Grund für die Mitteilung? –
Warum kommt es auf dieses Detail an? Weil sich die Frage stellt, ob schon die damalige Mitteilung als Bitte um Unterstützung gegen den Täter zu verstehen ist.
2. Eine (zweite) Mitteilung im August 2018
Zu einer zweiten Mitteilung, die rund drei Monate später erfolgte, sagt Wissler: „Im August 2018 hat sie [die Betroffene] mir dann mitgeteilt, dass dieses Verhältnis entgegen anderslautender Versicherungen meines damaligen Partners fortbesteht. […]. Sie können sich vorstellen, dass mich das zutiefst verletzt hat. Ich habe die Frau daraufhin angerufen.“
Der Text dieser (zweiten) Mitteilung ist allerdings öffentlich: https://twitter.com/Rafanelli/status/1515603778392756227.
Da steht nichts von „Verhältnis [...] fortbesteht“! Da steht etwas von einem unerbetenen („plötzlich“) Balkonbesuch und „durchdrehen“!
3. Ende 2021 kein Vorwurf der sexuellen Belästigung?
Trotzdem beharrt Wissler in dem taz-Interview: „Der Vorwurf der sexuellen Belästigung wurde mir gegenüber nicht geäußert.“ Der Vorwurf mag damals nicht expliziert worden sein (das weiß ich nicht). Ein unerbetener Balkonbesuch nebst Gerede über „romantische“ Gefühle ist auch – mangels körperlicher Berührung – in der Tat keine sexuelle Belästigung i.S.d. (2016 eingefügten) § 184i des Strafgesetzbuches (http://gesetze-im-internet.de/stgb/__184i.html), aber sehr wohl eine sexuelle Belästigung im weiteren Sinne (der Ausdruck war ja schon lange vor der Gesetzesänderung von 2016 üblich).
Im übrigen spricht Janine Wissler selbst in Bezug den Kontakt zwischen Opfer und Täter von „Affäre“ (es gab also mehr als den unerwünschten Balkonbesuch) und ihr fiel der „großen Altersunterschied“ als „befremdlich“ auf. – Liegt da nicht nahe,
- die Erfüllung jedenfalls irgendeines der Straftatbestände im Abschnitt über „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ [3] des Strafgesetzbuches zu vermuten und
- das Telefonat [4] nach der Nachricht vom 24. August 2018 nicht in erster Linie aus der Perspektive, der selbst „zutiefst [V]erletzt[en]“ [5] zu führen, sondern mit derjenigen solidarisch zu sein, die schreibt, am Durchdrehen zu sein?
Über den schon genannten StGB-Abschnitt hinaus kommen – wegen der unerbetenen Balkon-Besteigung – auch noch
- Hausfriedensbruch ([http://gesetze-im-internet.de/stgb/__123.html http://gesetze-im-internet.de/stgb/__123.html]) und
- Nachstellung ([http://gesetze-im-internet.de/stgb/__238.html http://gesetze-im-internet.de/stgb/__238.html])
in Betracht. –
Da steigt ein deutlich älterer Fraktionsmitarbeiter einem gerade 18-jährigen weiblichen Parteimitglied auf den Balkon; Letztere schreibt, sie sei am Durchdrehen – und die Fraktionsvorsitzende sieht keinen Grund zum Eingriffen? :o
4. „noch weit ins Jahr 2019“ „zusammen gewesen“?
Weiter behauptet Wissler: „Nach dem Ende meiner Beziehung sind die beiden weiterhin zusammen gewesen, offenbar noch weit ins Jahr 2019 hinein.“
Täter und Opfer mögen (weiterhin / wieder) „zusammen gewesen“ sein – das wäre ja nichts Ungewöhnliches für mißbräuchliche Beziehungen. Jedenfalls kam es – wie sich aus dem Aktenzeichen („.../18“) erschließen läßt – bereits irgendwann 2018 zu einer Strafanzeige gegen den (damals bereits Ex- oder noch)-Partner von Janine Wissler (https://twitter.com/Rahel__Hagos/status/1526098065769340928). – Diese Strafanzeige soll damals nicht zur Kenntnis von Janine Wissler gelangt sein? 2019 kam es zu einem Verfahren gegen das Opfer, mit dem diesem untersagt werden sollte, zu behaupten, der Fraktionsmitarbeiter sei gegen ihren Willen in ihre Wohnung eingedrungen und es sei – ebenfalls gegen ihrem Willen – zu Geschlechtsverkehr gekommen. Als Zeuge dafür, daß die Beklagte die fragliche Behauptung aufgestellt habe, war der (jetzige) Vorsitzende der Linksfraktion im Wiesbadener Stadtrat benannt (https://twitter.com/TaP_Theorie/status/1527265755561136128). –
Von diesem Verfahren und damit von dem (angeblichen) Vorwurf will Janine Wissler damals nichts erfahren haben? Sie bleibt bei ihrer Behauptung:
„Ich weise die Unterstellung, ich hätte schon vor Ende 2020/21 Kenntnis von Vorwürfen von sexueller Belästigung im Landesverband Hessen gehabt, entschieden zurück.“
(https://twitter.com/dieLinke/status/1517786710741987328; mündliches Presse-Statement vom 23.04.2022 – ca. ab Min. 14:38)
? Nicht einmal Kenntnis von „Vorwürfen“? – Trotz der Strafanzeige aus dem Jahre 2018? Trotz des Unterlassungsverfahrens 2019? – Wer/welche soll das glauben?
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Siehe ergänzend zum Thema #LinkeMeToo:
+ Die Linke muss sich erneuern (von Melanie Wery-Sims)
https://www.links-bewegt.de/de/article/548.die-linke-muss-sich-erneuern.html (ab der Zwischenüberschrift „Machtmissbrauch bei den Linken“ geht es um #LinkeMeToo und dem Kontext dazu)
+ Julia Schramm verlässt Vertrauensgruppe der Linken: „Ganz ehrlich: Wir waren naiv“ (von Elsa Köster)
+ Ebenfalls von Elsa Köster zum Thema: „Sexismus, Mobbing und Druck auf Journalist*innen“
+ Die Show läuft hinter dem Vorhang (auch von Elsa Köster)
https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/die-show-laeuft-hinter-dem-vorhang
+ Zur geschlechter-politischen Position der Linkspartei-Strömung Marx21
+ Marx21 / Geschlechterverhältnis – Teil II: Weibliche Definitionsmacht oder „sachliche Untersuchung“ nach Art International Socialist Tendency?
http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[pointer]=2&tx_ttnews[tt_news]=80003&tx_ttnews[backPid]=56&cHash=de205a87cf (ein dritter Teil wird folgen)
+ Bitte kein Nachspielen des staatlichen Strafprozesses mit Unschuldsvermutung, Beweisführung und Pipapo
https://de.indymedia.org/sites/default/files/2022/05/Bitte_kein_Pipapo_contra_Staiger_indy.pdf/ https://de.indymedia.org/node/189369
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Foto: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Janine_Wissler_–_Rede_auf_dem_7._Parteitag.jpg – Beschriftung des Redepults an das Thema des hiesigen Artikels angepaßt.
1 „Wir wissen im Jugendverband gerade von über 60 Betroffenen“ (Charlie Birner; https://twitter.com/berlindirekt/status/1518267346254761985 – gleich am Anfang).
2 https://taz.de/Janine-Wissler-ueber-die-Krise-der-Linken/!5852240/.
3 http://gesetze-im-internet.de/stgb/BJNR001270871.html#BJNR001270871BJNG005002307.
4 „Ich habe die Frau daraufhin angerufen.“
5 „Sie können sich vorstellen, dass mich das zutiefst verletzt hat.“