Die gestrige Ministerpräsidentenkonferenz (MKP) verabschiedete für die kommenden Wochen einen mehr oder minder neuen Fahrplan im Umgang mit der Coronapandemie. Während in anderen Staaten Europas die Inzidenz bereits vor einigen Wochen vierstellig wurde, nähert sich auch die BRD dem Status in wenigen Schritten. Bis gestern verzeichnete das Robert Koch-Institut (RKI) eine Inzidenz von 894 mit aktuell 126.955 neuen bestätigten Neuinfektionen. In einigen Bundesländern ist der Wert über 1000 jedoch bereits seit einigen Tagen erreicht, so unter anderem in Berlin (1593), Hamburg (1547) und Bremen (1496). Die niedrigsten Werte liegen erstaunlicherweise in Thüringen (310) und Sachsen (377), die von sogenannten „Spaziergängen“ gegen die Corona-Maßnahmen besonders geprägt sind. Die Impfquote scheint weiterhin zu stagnieren, wenngleich es in kleinen Schritten vorwärtsgeht: Während mittlerweile 73,4 Prozent grundimmunisiert sind (das heißt, zwei Dosen erhielten), wurde der “Booster” bereits an 50,4 Prozent der Bevölkerung verabreicht. Zahlen und Statistiken sind in der Regel ein guter Gradmesser, um eine Lageeinschätzung der Gesamtsituation zu erreichen. Allerdings kämpft die BRD spätestens seit der Dominanz der Omikron-Variante stark damit, aktuelle Zahlen einzuholen, da die entsprechenden Ämter schlichtweg überfordert sind. Sowohl Kontaktnachverfolgungen als auch die Erfassung von Testergebnissen bringt die Bürokratie an ihre äußerte Grenzen. Von den Beschäftigten des Gesundheitssektors ganz zu schweigen: Auf den Intensivstationen liegen aktuell 11 Prozent Covid-Patient*innen, wovon 57 Prozent invasiv beatmet werden.
Nach zwei Jahren Pandemie sollte man davon ausgehen, einen entsprechenden Fahrplan erarbeiten zu können, um die Kontrolle wiederzuerlangen. Doch spätestens seit Sommer vergangenen Jahres ist dieser Gedanke eine reine Illusion. Durch die niedrige Impfquote im globalen Kontext besteht die Gefahr von neuen Mutationen und Varianten weiterhin, was sich auch in den Industrienationen niederschlägt, die einfacheren Zugang zu Impfdosen haben. Einzig auf die Impfung zu bauen ist hiernach der falsche Weg. Doch auch die Herrschenden der BRD haben bei der gestrigen MPK ihre Kapitulation erneut ausdrücklich unterschrieben, in dem sie die Fallzahlen und Statistik nicht anhand wirklich spürbarer Maßnahmen drücken wollen, sondern rein theoretisch. Dass die BRD weiterhin viel zu wenig Kapazität hat, um flächendeckend PCR-Tests anbieten zu können, ist nach wie vor ein Skandal. Anstatt entsprechend zu handeln, wurde jedoch vereinbart, jene notwendigen Tests bei Bedarf zu priorisieren - was bedeutet, dass Menschen, die in jenem Fall dann nicht in die Liste der Priorisierten fallen, einen noch erschwerten Zugang dazu bekommen. Hier ist das Motto klar erkennbar: Was man nicht sieht oder testen kann, kann auch in keine Statistik einfließen. Dass es hier sehr viel besser geht, zeigt ein Blick nach Österreich: alleine in der Hauptstadt werden täglich eine halbe Million Tests ausgewertet. Der Zugang ist dort erheblich leichter, die Testung erfolgt zu Hause mit Anweisung. Dieser Weg schlägt sich auch finanziell nieder: während man in der BRD etwa 80 Euro für einen PCR-Test hinlegen muss, kostet er in der Alpenrepublik sechs Euro.
Die Wünsche der Wirtschaft und des Kapitals wurden im Gegenzug wie Anfang des Jahres weiterhin bedient. Die Verkürzung der Isolations- und Quarantänepflicht wurde nun umgesetzt; für Menschen mit einer „Booster“-Impfung fällt die Isolation als Kontaktperson beispielsweise komplett weg. Das ist mitnichten eine Entscheidung auf gesundheitlicher Basis, sondern ein ausdrückliches Geschenk an die neoliberale Ideologie, die Arbeitskraft um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Dass Werktätige sich dadurch weiterhin infizieren und zur Zirkulation des Virus beitragen, scheint den Herrschenden egal zu sein. Der ökonomische Faktor schlägt erneut und immer deutlicher die Gesundheit und das Wohlergehen des Einzelnen. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz betonte hierbei, dass man durch diesen Weg „gut durch die Krise“ käme. Übersetzt heißt das: Der Weg „durch die Krise“ ist die faktische Durchseuchung zum Wohle des Wirtschaftsstandorts auf Kosten der Werktätigen, Schwächsten und Kindern dieser Gesellschaft. Übrigens zeigt sich hier auch der politische Charakter des Gesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD): als Wissenschaftler kann er diese Maßnahmen nicht mittragen, als Minister muss er und wird es auch.
Was von der MPK bleibt ist wenig, dafür viel Tragisches. Unter dem Begriff der „Freiheit“ wird die Handschrift der Ultraliberalen der Freien Demokrat*innen (FDP) deutlich, die den Individualismus über das Kollektiv stellen und eine Infektion nicht (mehr) als Indikator betrachten, an diesem Narrativ etwas zu ändern. Freilich war nicht abzusehen, dass die Bundesregierung nun endlich konsequente Maßnahmen einführen wird, die besonders einen ökonomischen Lockdown implizieren muss. Aus diesem Fehler scheint man gelernt zu haben. Es sei nur daran erinnert, als im Frühjahr letzten Jahres die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für zwei Tage die Wirtschaft ein klein wenig herunterfahren wollte, was einen beispiellosen Aufschrei von der Automobillobby provozierte. Das System, das die Pandemie erst ermöglichte und auslöste, ist nicht in der Lage, damit klarzukommen. Entsprechend werden Verordnungen verkündet, die auf dem Papier wohlwollend klingen mögen, das heißt im Sinne der „Freiheit“ des Einzelnen, aber unterm Strich die Pandemie nur weitertreiben wird. Was wirklich getan werden muss, ist offenkundig: ein konsequenter ökonomischer Lockdown, eine flächendeckende Testung, die Aufhebung der Impfpatente und eine finanzielle Beteiligung derer, die von der Krise profitieren. Die Pandemie darf nicht auf dem Rücken der Ärmsten und Schwächsten der Gesellschaft ausgetragen werden. Doch das wird sie - seit Ausbruch der Pandemie.
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