Mögen sich alle sicher fühlen.
Mögen alle gesund bleiben oder gesund werden.
Mögen alle in ihrer Mitte ruhen und sein mit dem, was ist.
In der Woche vor dem Lockdown gab ich den letzten Zen-Einführungskurs im Lassalle-Haus. Danach wurden alle weiteren Kurse abgesagt. Als ich in der Schlussrunde fragte: „Gibt es jetzt am Ende des Kurses einen Unterschied zu vor dem Kurs?“, meldeten sich alle Teilnehmenden nacheinander zu Wort und der Tenor war ziemlich einhellig: Die stressvolle Beschäftigung mit dem Coronavirus hat merklich abgenommen! Ein Schulleiter sagte:
Am Freitagabend sei er verspätet aus dem Corona-Chaos in unseren Kurs gekommen. Er habe nicht gedacht, dass er in so kurzer Zeit vollkommen runterfahren könne und seine Sorgen zeitweise total vergessen könne. In nur 1.5 Tagen Zazen fühle er sich entspannt und in seiner Mitte angekommen.
Die Einzelgespräche spiegelten für mich das wieder, was an Thematiken zur Zeit auch in den Medien wahrnehmbar ist: Angst, Panik, Stress, Ohnmacht, aber auch Selbstmitgefühl, Solidarität, Nachbarschaftshilfe, positive Sicht, Kreativität und Humor. Was haben wir davon, wenn wir aus unserer Mitte – unserem inneren Dirigenten – mit diesen Zuständen in Kontakt sein können? Davon handelt dieser Blogbeitrag.
Angst und Panik
Um welche Ängste geht es? Die Krankheits- und Todesbedrohung bei einem selbst, etwa weil man zu einer Risikogruppe gehört, oder Angst um Nahestehende, Freunde, Kollegen, Verwandte; Existenzielle Ängste vor Einkommensverlust, Arbeitsverlust, Verlust der existenzsichernden Grundlagen für die eigene Familie; die Angst älterer oder alleinstehender Menschen vor zunehmender Vereinsamung und Gefühlen der Abgetrenntheit von der Gemeinschaft durch die verordnete soziale Isolation; die Angst vor wechselseitiger Ansteckung in Familien, in Asylzentren, Kinderheimen, Flüchtlingslagern, Favelas und überall dort auf unserer Welt, wo Menschen auf engstem Raum zusammenleben; die Angst vor häuslicher Gewalt, Partnerschafts- und Familienkonflikten aufgrund der ungewohnten räumlichen Nähe; die Angst von Frauen und Kindern, geschlagen zu werden; schliesslich die Angst vor einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems, des Wirtschaftssystems, des politischen Systems.
Je öfter wir Berichte in den öffentlichen Medien verfolgen, desto mehr steigt die innere Erregung, der Stresslevel, Angst und Panik und desto mehr versteigt sich unser Denken und unsere Phantasie in Kathastrophenszenarien.
Was ist das Geschenk dieser angstvollen, panischen Seite, die Kathastrophenphantasien entwickelt? Sie sagt uns Dinge wie:
„Pass auf!“ „Tue alles in deiner Macht Stehende, um gut durch die Krise hindurch zu kommen und um zu überleben!“
Die Angst rüttelt auf, macht hellwach und motiviert uns, vorsichtig zu sein und uns abzusichern! Das ist das „Positive“ am „Negativen“. Diese Botschaft können wir akzeptierend und wertschätzend zur Kenntnis nehmen und entsprechend handeln.
Wenn wir hingegen zu sehr mit Angst und Panik identifiziert sind, lässt sie uns nicht schlafen, Kreisen unsere Gedanken um nichts anderes mehr, werden unsere Gespräche davon bestimmt, nimmt sie unseren gesamten Alltag ein. Wir lassen uns anstecken von der Panikmache anderer. Die Panik selbst wird zu einem Virus. Unser Denken und Handeln kann dann übertrieben sein, den realen Situationen unangepasst, wirr, plan- und strukturlos werden. Dies spiegelt sich global beispielsweise in den übertriebenen Reaktionen an den Börsen. Aktivismus aus der Identifikation mit Angst und Panik, um aktiv zu bleiben und um die unangenehmen Gefühle, mit denen wir konfrontiert sind, zu verdrängen.
Auch das pure Gegenteil, das Versinken in Depressionen und Motivationslosigkeit ist eine mögliche Reaktion auf Angst, Panik und Kathastrophenphantasien, oder die Flucht in alle möglichen Süchte wie Essen, Rauchen, Trinken, TV, exzessiver Medienkonsum, Handy-, Social Media- oder Sex-Sucht, exzessives „Kathastrophisieren“, etc. All das erregt unser körpereigenes, dopaminerges Belohnungssystem und wir erleben ekstatische Glücksgefühle. Dann sind nicht mehr in Kontakt mit Angst, Panik und Ohnmacht. Süchte sind Formen der Verdrängung, die nicht besonders konstruktiv sind. Vor allem sind wir bei dieser Form der Fluch vor der Realität nicht „präsent mit dem, was ist“.
Sind wir mit Angst und Panik identifiziert und schaukelt sich unsere Erregung auf, so sind dies keine guten Ratgeber für unser Handeln. In den USA hat sich die Zahl der Waffenkäufe zwischen dem 23. Februar und dem 15. März 2020 im Vergleich zum Vorjahr vervierfacht! Darin spiegelt sich das Bedürfnis nach Sicherheit, obwohl doch alle wissen, dass das Virus viel zu klein ist, um es zu erschiessen! Wir Menschen drohen bei übermässiger Panik und Übererregung auf frühe, selbstzentrierte Entwicklungsstufen zu regredieren und unsere sozialen, mitmenschlichen, fürsorglichen, helfenden, kooperativen Seiten in uns zu vergessen. „Nein! Die gehören mir!“, sagte eine Frau in der Migros, als jemand sie fragte, ob sie ein Hefepäckchen von ihr haben könne, nachdem sie alle 20 Hefepäckchen aus dem Regal geholt hatte. Hamsterkäufe oder der mittlerweile nicht mehr erlaubte Besuch, der im Krankenhaus Mundschutz, Desifektionsmittel und Fiebermesser mitlaufen lässt. Angst und Panik schüren die egoistischen, selbstschützenden Seiten in uns.
Am anderen Ende des Spektrums gibt es natürlich auch ein paar Uneinsichtige, die sich nicht berühren lassen von Ängsten, wie beispielsweise einige Verschwöhrungstheoretiker, kuriose Besserwisser, die sich auf YouTube zu Wort melden, sowie Politiker vor allem rechtskonservativer couleur wie Donald Trump, Boris Johnson oder der Brasilianische Präsident Jair Messias Bolsonaro, entweder weil sie nur so tun, als ob sie keine Angst haben, oder weil sie sie verdrängen und fragwürdige Gründe und Strategien gegen die, für sie, „angebliche“ Gefahr vorbringen. Bolsonaro sollte eigentlich für zwei Wochen in Isolation sein, da nach seinem Staatsbesuch in den USA 13 Mitglieder seiner Delegation positiv auf Corona getestet wurden. Eigentlich hatte das brasilianische Gesundheitsministerium angeordnet, grössere Versammlungen zu meiden. Stattdessen versammelten sich hunderte Menschen vor dem Regierungssitz des Präsidenten. Sie waren Bolsonaros Aufruf gefolgt. Er selbst erklärte das ganze „Getue“ um das Coronavirus zur „Hysterie“, schüttelte demonstrativ Hände, posierte für Selfies, umarmte Menschen. Und das als unmittelbare Kontaktperson zahlreicher Coronainfizierter. Diese Leugnung der Gefahr ist nicht nur unverantwortlich und fahrlässig! Sie ist dumm, egozentrisch, ohne Einfühlungsvermögen und ohne Mitgefühl für diejenigen, die bereits auf den Intensivstationen liegen! Ganz ähnlich wie Bolsonaro haben auch Trump und der Britische Premierminister Boris Johnson die Coronaviruspandemie zu lange auf die leichte Schulter genommen. Johnson verteidigte Pub-Besuche, beantwortete Fragen im beengten Parlament und schüttelte im Krankenhaus Anfang März demonstrativ die Hände Coronaerkrankter, wodurch er sich selbst mit dem Coronavirus infizierte. Ähnlich wie in den Niederlanden und Schweden, sollte in England ein Sonderweg beschritten werden und die Wirtschaft erhalten bleiben, das Land vor sozialem und wirtschaftlichem Stillstand bewahrt bleiben, indem nur die Gefahrengruppen isoliert würden. Alle anderen sollten sich nach und nach infizieren und sich so immunisieren. Erst als die Kritik an der „Herdenimmunitätsstrategie“ immer lauter wurde, lenkte Johnson endlich ein und befürwortete die radikale Kontaktsperre. Für ihn selbst kam dieser Schritt offenbar zu spät, wie auch für seinen Gesundheitsminister Matt Hanckock und für Prinz Charles. Auch in den Niederlanden wird zur Zeit die „Herdenimmunität“ nicht als Hauptziel, sondern lediglich als „eine Wirkung der Regierungspolitik“ betrachtet.
Donald Trump spielte die Gefahr seit Januar lange Zeit herunter. Seit das Virus sich im März ungebremst ausbreitet, spricht er pausenlos davon, „alles unter Kontrolle“ zu haben. Inzwischen bezeichnet er sich als „Kriegspräsident“, der gegen einen „unsichtbaren Feind“ kämpft, nachdem sein Vokabular „das Chinesische Virus“ in den USA und weltweit für Empörung gesorgt hat. Seine fast täglichen Corona-Pressekonferenzen, die Zuversicht und Entscheidungsstärke demonstrieren sollen, sind für Menschen, die Orientierung suchen und an Fakten interessiert sind, kaum zu ertragen. Bei seinen Auftritten verbreitet der US-Präsident häufig Halbwahrheiten, lügt ganz offensichtlich und greift die Presse an. Seine Botschaften sind widersprüchlich, sein Krisenmanagement könnte vielen Amerikanern das Leben kosten. Auch Trump besitzt anscheinend keine Empathie, kein Mitgefühl, keinen adäquaten Zugang zu seiner Angst und ist, wie die anderen „Besserwisser“, egozentrisch von der Richtigkeit seiner eigenen Meinung überzeugt.
Zen und innere Friedenskonferenz können uns in unsere Mitte zurückbringen, uns helfen, uns sowohl von übertriebenen Ängsten und Kathastrophenphantasien zu disidentifizieren, als auch unsere Ängste zu leugnen oder zu verdrängen und ein adäquateres Verständnis der gegenwärtigen Lage zu gewinnen. Dann können wir die überlebenswichtigen Informationen unserer Ängste relativierend und wertschätzend zur Kenntnis nehmen und konstruktiv und situativ passender denken, fühlen und handeln, zu unserem eigenen Wohl, dem anderer und dem Wohl des jeweils grösseren Ganzen.
In einem berühmten Zen Koan stellt Zen-Meister Unmon Zenpraktizierenden die Frage:
„Ich frage euch nicht über all die Tage vor diesem jetzigen Tag? Sagt mir etwas über all die Tage nach diesem jetzigen Tag!“
Ohne eine Antwort abzuwarten antwortete er sogleich:
„Jeder Tag – ein guter Tag!„
Dieses berühmte Koan lässt sich sehr gut auf die jetzige Situation anwenden:
„Ich frage euch nicht über die Tage vor dem Ausbruch der Coronakrise. Sagt mir etwas über all die Tage danach! Jeder Tag – ein guter Tag!“
Wie können wir das in unserem Alltag verwirklichen? Indem wir immer wieder von neuem aus allen Bedrängnissen und Ängsten mit einer liebevollen Entschiedenheit zurückkehren zu unserer Meditationspraxis, sei das der Atem, die Präsenz im Hier und Jetzt, das Koan «MU» oder eine andere Praxis. So finden wir in uns eine Überfülle, wir sind offen, bewusst, besonnen, berührbar, mit uns und anderen mitfühlend, mitmenschlich und auf das Wohl von uns, anderen und des jeweils grösseren Ganzen bedacht.
Fürsorge, Hilfe, Kooperation
Überall auf der Welt helfen sich Menschen gegenseitig, um Krisen aller Art zu überstehen. Das ist und war auch immer schon in Krisenzeiten zu beobachten. In Zeiten der Not kann eine Welle der Fürsorge, Nachbarschaftshilfe und Kooperation entstehen, die ansteckend ist und sich um viele Ecken ausbreitet zu Menschen, mit welchen wir gar nicht in Kontakt stehen und die wir gar nicht kennen. Das können wir jetzt an den zahlreichen Initiativen erkennen, beispielsweise wenn Kinder und Jugendliche älteren Menschen anbieten, Einkäufe zu tätigen und vor ihre Türen zu stellen oder wenn Kunden ihren Detailhändlern und Selbständigerwerbenden, etwa dem Bäcker in der Nachbarschaft, der Yogalehrerin, etc. weiterhin treu sind, damit diese ihre Existenzgrundlage nicht verlieren. Der Kanton beispielsweise Bern stellt gratis Paartherapeutische Hilfe in Aussicht, wenn Paar- und Familienkonflikte aufgrund der sozialen Isolation auftreten. Ärzte und Pflegepersonal arbeiten bis zum umfallen, das Militär wird aufgeboten und ehemaliges Pflegepersonal meldet sich freiwillig, um zu helfen. Staaten stellen Direkthilfe in Milliardenhöhe zur Verfügung und Länder unterstützen einander, teilen ihr Wissen und ihre Ressourcen im Kampf gegen die Verbreitung des Virus.
Kooperation und Fürsorge sind ein Prinzip der Natur. Soziale Tiere kooperieren und kennen den Grundsatz: „Wie du mir, so ich dir!“ Das gilt auch für das wechselseitige einander helfen! „Hilfst du mir, helf ich dir!“ In uns Menschen entstehen Kooperation und Fürsorge aus der Offenheit und Berührbarkeit, der Fähigkeit, sich in die Schuhe anderer zu stellen und mitfühlend zu sein, d. h. sich die Anliegen anderer Menschen zu seinen eigenen Anliegen zu machen und sich darum zu kümmern. Mitgefühl ist eine wunderbare Sache, die einem Bedeutung verleiht, das eigene Glücks- und Sinnempfinden vermehrt und das eigene Leben und das anderer bereichert.
Leider ist mitfühlendes und kooperatives Verhalten weit weniger stark gesellschaftlich verankert und verbreitet, als selbstschützendes und konkurrenzierendes. Doch Mitgefühl und wechselseitiges Helfen lässt sich durch Mitgefühlsmeditation (Karunapraxis) trainieren, wie ein Muskel. Dabei geben wir uns selbst, einer nahestehenden Person, jemandem, mit dem wir nicht so gut klarkommen und schliesslich der ganzen Welt Mitgefühl. Nimm dir für die folgende Meditation mindestens eine halbe Stunde Zeit.
- Wenn du dich zur Meditation hinsetzt, lenke deine Achtsamkeit für ein paar Atemzüge auf deinen Atem.
- Entwickle Mitgefühl für dich selbst: schau hin, wo gerade deine Schwierigkeiten liegen, sei damit für einen Augenblick bewusst in Kontakt und spüre nach, wie sich das in deinem Körper anfühlt und drücke deinen Stress, Schmerz, dein Ungemach in deinen eigenen Worten aus, z. B. „Autsch!“ „Das tut weh!“ „Das ist Scheisse!“ (oder wie auch immer – in deinen Worten). Dann mache dir klar, dass du gerade nicht der einzige Mensch bist auf der Welt, der leidet. Ganz viele leiden vielleicht am selben wie du und jeder Mensch ist leidensfähig. Leiden gehört zur conditia humana! Dieser Gedanke holt dich aus der Vereinsamung und Isolation deines eigenen Leidens heraus! Das verbindet uns alle als Menschen. Dann sage dir Dinge, die dich – oder einen anderen Menschen in deiner Lage – trösten könnten, wie z. B. „Möge ich mich sicher fühlen.“ „Möge ich mutig sein!“ „Möge ich in Gelassenheit in meiner Mitte ruhen und akzeptieren, was gerade ist.“ Suche deine etwa drei stimmigen Sätze, die du für ein paar Minuten endlos wiederholst. Vielleicht fallen dir in einem letzten Schritt auch Handlungen ein, die dir konkret helfen könnten. Formuliere ev. eine Intention.
- Richte als nächstes deine Aufmerksamkeit auf einen dir nahestehenden Menschen. Stell ihn dir vor. Wenn wir unsere eigenen Schwierigkeiten erkennen, wissen wir auch, dass uns nahestehende Menschen einen wunden Punkt besitzen und was ihnen vielleicht jetzt gerade Schwierigkeiten bereitet. Schenke diesem dir nahestehenden Menschen die Wärme und Liebe deines Mitgefühls, die Hilfsbereitschaft, die Umarmung, die deine Zuneigung manifestiert. Schenke auch ihm oder ihr deine mitfühlenden, tröstenden Sätze.
- Denke an einen unbekannteren Menschen, oder einen Menschen, der dir gleichgültig ist. Erkenne oder erahne, dass auch dieser Mensch einen wunden Punkt hat, verletzlich ist oder dass er oder sie jetzt Schwierigkeiten hat, mit ihrer Situation klarzukommen. Sei mitfühlend, verständnisvoll. Richte innerlich deine mitfühlenden, tröstenden Worte an diesen Menschen. Umarme auch diesen unbekannten Menschen und zeige ihm oder ihr, dass du für ihn oder sie da bist.
- Und wir denken an einen Menschen, mit dem wir Schwierigkeiten haben. Schwierigkeiten können auch nur ganz minimale Ablehnungen sein. Und erkenne, dass auch diese Person einen wunden Punkt hat und fühle dich dadurch mit ihm oder ihr verbunden und schenke diesem Menschen dein Mitgefühl.
- Richte deine Achtsamkeit wieder auf dich selbst und spüre die Stärke und Unterstützung, die dein Mitgefühl für dich selbst und alle Lebewesen dir gibt. Du kannst dich füllen und umhüllen mit diesem Gefühl. Wir verstehen uns, akzeptieren uns liebevoll und wollen weiter wachsen. Wir spüren deutlich, je mehr Mitgefühl wir anderen verschenken, desto mitfühlender ist unser Herz. Mögen alle Menschen Mitgefühl für einander haben.
Hilflosigkeit und Ohnmacht
Eine weitere Seite, die sich in der Coronakrise bei vielen meldet, ist die hilflose, sich ohnmächtig fühlende Seite.
Wir haben ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit, Eindeutigkeit, Vorhersehbarkeit, Planbarkeit, Kontrollierbarkeit. Daher sind Hilflosigkeit und Ohnmacht in unserer Leistungsgesellschaft die am meisten geächtetsten Gefühle. Kaum jemand mag sich Ohnmacht und Hilflosigkeit freiwillig aussetzen. Sie werden schnell durch Aktivismus und vorschnelle Behauptungen und Einschätzungen übertüncht. Auch das sind Formen der Verdrängung. Dabei sind wir nicht „präsent mit dem, was ist“: Ohnmacht und Hilflosigkeit.
Die Massnahmen der Regierungen, die weltweit ergriffen werden, mit der Absicht, die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, die Gesundheitssysteme und die Wirtschaft zu erhalten, haben in vielen Ländern gute Chancen, erfolgreich zu sein. Doch weder die gesundheitlichen, noch die wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen lassen sich wirklich vorhersagen. Die Geschwindigkeit in der laufend Veränderungen stattfinden, die Dynamik und Komplexität der Wechselwirkungen sind viel zu hoch. Wie die Welt sich dadurch verändert, ist nicht vorhersehbar. Hier gilt nicht einfaches, lineares Ursache-Wirkungsdenken, wie wir es meist aus unserem Alltag kennen. Wir sind hier vielmehr mit nicht-linear ablaufenden Prozessen konfrontiert, die sich stochastisch in unterschiedlichen Bereichen hochschaukeln können und deren weiterer Verlauf nicht vorhersehbar ist. Die staatliche Steuerungsfähigkeit funktioniert nur begrenzt. Ohnmacht und Hilflosigkeit sind daher angebrachte Gefühle.
In den Momenten, in denen wir aus unserer inneren Mitte, akzeptierend mit Ohnmacht und Hilflosigkeit in Kontakt sein können, können wir auch ihr Geschenkt wahrnehmen und wertschätzen: Sie fordern uns zu Innovationen auf! Sie fordern uns auf, offen und kreativ zu sein, um die Probleme, die jetzt entstehen auf eine neue Art und Weise zu lösen. Sie fordern auf, komplexer und systemischer denken zu lernen! Sie fordern auf, uns zu entwickeln! Sie fordern auf, Ungewissheit, Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit besser aushalten zu lernen! Sie fordern auch auf, vermehrt prozessorientiert anstatt zielorientiert zu denken, zu fühlen und zu handeln, d. h. mit dem, was gerade ist zu sein, das zu akzeptieren und daraus den nächsten Schritt sich entwickeln zu lassen. Sie fordern auf, in verschiedenen Möglichkeitsszenarien zu denken, um Alternativen zu erkennen.
Innovationen, Kreativität, Leichtigkeit und Humor
In einem Zen-Koan heisst es: Die Schatztruhe öffnet sich und ich gebrauche die Schätze nach belieben.
Gemeint sind hier die inneren Schätze, die wir in der Stille der Meditation finden. Meditation lässt auf ganz natürliche Weise eine innere Gelassenheit entstehen und sie bringt uns in Kontakt mit einer tieferen Weisheit, die sehr kreativ ist. Eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten weisen auf das kreative Potential der Meditation hin. Meditation fördert unsere Offenheit, sie fördert kreative Assoziationen und verleitet zum Querdenken. Aus eigener Erfahrung und aus den Einzelgesprächen ist mir das kreative Potential von Meditation sehr vertraut. Da kommt beispielsweise regelmässig ein Manager an meine Kurse, der kein bisschen an Satori Interesse zu haben scheint. Er will nichts anderes, als seinen guten Ideen in der Meditation nachhängen, weil er in der Hektik seines übervollen Alltags keine Zeit dafür findet.
Auch Leichtigkeit und Humor kann sich nur da einstellen, wo wir in einer gewissen inneren Distanz zum Stress, Lebensernst, Angst und Panik sind: In den Momenten, in denen wir uns ganz und gar im Hier und Jetzt aufhalten und reiner Beobachter dessen sind, was in uns und da „draussen“ gerade läuft und wir verschiedene Ebenen der Bedeutung aufeinander beziehen können. Und zur Zeit finden sich wunderbar kreative, humorvolle z. B. Videos online, die Leichtigkeit und Ironie im Umgang mit dem Virus und seinen Folgen verdeutlichen. Humor und feine Ironie sind bekanntlich beste und reifste Strategien, um mit schwierigen Situationen konstruktiv umzugehen. Lachen ist ansteckend und verbreitet viral Leichtigkeit in die ganze Welt. Denken wir doch beispielsweise an Roberto Benignis Film „La vita è bella“, in welchem der Held seinem kleinen Sohn den Aufenthalt im KZ durch seinen humorvolle Umdeutung der unmenschlichen Realität so angenehm wie möglich zu machen versucht. Das ist nicht nur Fiktion! Solche Menschen, die mit ihrem Humor das KZ überlebten, gab es auch in Realität. Dafür gibt es reichlich Belege. Doch machen wir uns bewusst: wir sitzen in keinem KZ, wir sind auch nicht im Krieg, sondern in einem der reichsten Länder dieser Erde mit einem der besten Gesundheitssysteme und das Corona-Chaos wird in absehbarer Zeit sein Ende finden. Vielleicht ermutigt uns diese Tatsache dazu, uns auch in die Schuhe derer zu stellen, die nicht so privilegiert sind, wie wir, und zu helfen, da, wo wir können.