Ich bin die Mutter von Jasmin und weiß seit Mitte 2020 Bescheid über ihren Beruf. Heute möchte ich einmal beschreiben, wie es mir damit ging und geht.
Es ist ganz sicher nicht der Traum einer Mutter, dass ihre Tochter sich prostituiert. Als ich davon erfuhr, kamen mir deshalb auch zahlreiche, widersprüchliche Fragen und Gedanken in den Kopf.
Hatte ich etwas falsch gemacht? Lag es an der Scheidung von ihrem Vater? Wir hatten uns bemüht, kein Drama daraus zu machen und uns tatsächlich ohne Schlammschlacht und im Guten getrennt. Dennoch ging das an Jasmin natürlich nicht spurlos vorbei. Es machte ihr zu schaffen, das spürten wir. Ebenso, dass sowohl mein Partner als auch ich wenig später in andere Städte zogen und sie allein zurück blieb. Auf ihren Wunsch, den wir auch verstanden. Kurz vor dem Abitur die Schule, den Freundeskreis und das komplette Umfeld zu wechseln, wäre hart gewesen. Eventuell hätte einer von uns Eltern weniger egoistisch sein sollen, und noch einige Zeit bei ihr bleiben sollen. Andererseits gab es für die Umzüge gute Gründe und Chancen, die sich nicht oft eröffnen.
Das war die eine Richtung meiner Gedanken. Die andere hinterfragte meine Integrität. Ich habe mich immer als politischen Menschen und fortschrittliche Feministin gesehen. Prostitution war für mich etwas, dass akzeptiert und entkriminalisiert werden sollte. Als die rot-grüne Regierung seinerzeit die Möglichkeit eröffnete, dass Prostituierte nicht mehr sittenwidrig arbeiten mussten, sondern sich krankenversichern sowie ihren Lohn notfalls vor Gericht einfordern konnten, begrüßte ich das ausdrücklich. Der nächste Schritt hätte sein müssen, Prostitution gesellschaftlich zu akzeptieren und zu verankern. Damit jede Prostituierte auch öffentlich zu ihrem Beruf stehen kann und auf Hilfe zählen, wenn erforderlich.
Und nun saß da also meine eigene Tochter vor mir, sichtlich nervös und sagte mir Dinge, die sie gedanklich wohl schon tausendfach formuliert und durchgespielt hatte. Egal wie fortschrittlich und aufgeklärt man sein mag, solch eine Situation ist etwas anderes. Darauf kann man sich nicht vorbereiten. Dafür kann man aber sehr viel falsch machen.
Ich atmete erst einmal durch und versuchte, das Wirrwarr in meinem Kopf zu ordnen. Mir war klar, dass ich alles tun dürfte in der Situation, aber eines nicht: Vorwürfe machen. So stellte ich Fragen. Wie sichert sie sich ab? Tut sie das aus eigenem Antrieb? Was sind das für Kunden? Jasmin antwortete sehr sachlich darauf und ich merkte, dass sie wusste wovon sie spricht.
Hilfreich war, dass wir immer ein offenes Verhältnis hatten und ich nie zu den Menschen gehörte, die Sex für etwas schlechtes hielten. Auch nicht, wenn es um Jasmin ging. Wir haben sie früh aufgeklärt und wussten, dass Teenager ihre Erfahrungen sammeln, egal was wir davon halten. Deshalb sprachen wir über Verhütung, das Recht nein zu sagen und dass wir helfen, wenn doch mal Probleme auftreten.
Auch in diesem Gespräch war es daher kein Problem, dass sie Sex mit unterschiedlichen Männern hatte. Vielmehr fragte ich mich, ob die Risiken dieses Berufs und das geringe Ansehen in der Gesellschaft diese Entscheidung nicht zu einem Fehler machten, den sie später einmal sehr bereuen würde.
Aber Jasmin war es ernst mit ihrer Entscheidung und das spürte ich immer stärker, je länger wir redeten. Sie hatte auf alle meine Einwände eine Antwort und klang überzeugend. So akzeptierte ich das Unvermeidliche zunächst und schloss sie nach einem langen Abend in die Arme.
Natürlich war das nur der erste Schritt. Ich nutzte die Folgezeit, um mir ihre Profile in den Onlineportalen zeigen zu lassen, in denen sie inserierte. Diese Anzeigen waren weniger pornographisch als ich es erwartet hätte. Vielmehr eine freundliche Einladung, gemeinsam etwas intime Zeit zu verbringen. Das passte zu Jasmin wie ich sie kannte und bestätigte mir, dass sie wirklich selbstbestimmt handelte und diesen Beruf gerne ausübte.
In den nächsten Wochen, sprachen und schrieben wir oft und diskutierten über verschiedene Details. Weh tat mir, welcher Hass ihr gerade aus feministischen Kreises entgegenschlug.
Im Laufe der Zeit spürte ich immer mehr, dass ich mich auf Jasmin verlassen konnte und das sie das Leben lebt, welches sie glücklich macht. Mit welchem Recht sollte ich Vorwürfe machen oder gar versuchen, sie zu einem Beruf zu zwingen, der sie einengt und belastet? Nur weil ich selbst in die moralische Falle tappe, und Prostitution verteufle? Ich hätte von anderen Müttern verlangt, zu respektieren, was ich bei meiner Tochter nicht respektiere.
Nein, es ist ihr Leben und ich stehe hinter ihr. Und tatsächlich wurde es immer einfacher und selbstverständlicher für mich, damit umzugehen. Aus den ernsthaften Fragen von mir und den vorsichtigen, langsam formulierten Antworten von ihr wurden wieder offene und lockere Gespräche zwischen Mutter und Tochter. Diese drehten sich nun eben weiter um alles mögliche, aber jetzt ergänzt durch Erlebnisse aus ihrem Beruf oder Fragen, die mir spontan in den Sinn kamen. Auf diese gab es aber nun auch oft alberne Antworten und das ist auch gut so.
Liebe Mütter und Väter da draußen, ich will euch nicht vorschreiben, wie ihr reagieren und was ihr gut finden sollt. Aber vertraut euren Kindern, hört ihnen zu und schluckt das erste Entsetzen herunter, wenn sie euch etwas anvertrauen, das mit eurem Weltbild nicht ganz zusammenpasst. Hört ihre Argumente und Gründe und respektiert sie. Einwände könnt ihr dann immer noch bringen und wenn die Kinder spüren, dass sie nicht gegen eine Mauer der Ablehnung anrennen müssen, werden sie diese Einwände auch annehmen und darauf eingehen.
Ich kann heute aus vollem Herzen sagen: Ich bin stolz auf meine Tochter und habe großen Respekt vor ihr und ihren Entscheidungen.