Textauszug „Mondays for Future. Freitags demonstrieren, am Wochenende diskutieren. Am Montag anpacken und umsetzen“, Murmann 2020.

Noch verhält sich die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, Europa und den Industrienationen klimaschädlich, aber immer mehr Menschen verstehen, dass eine massenhafte individuelle Verhaltensänderung notwendig ist – wenn wir das globale Ökosystem sichern und unseren Wohlstand bewahren wollen. Jede einzelne Entscheidung zählt, und kann Vorbild sein für die Entscheidung weiterer Personen. Auch was das angeht, stehen wir an einem Kipp-Punkt.

Wir stehen an entscheidenden „Kipp-Punkten“ – und zwar nicht nur in Bezug auf irreversible klimatische Veränderungen, sondern auch auf gesellschaftlich-sozial-politische Verhaltensweisen.

Spätestens jetzt ist klar, dass wir am alles entscheidenden Wendepunkt der Geschichte stehen: Die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, werden weitreichende Folgen haben. Die Weichen, die wir jetzt stellen, werden über unsere Zukunft bestimmen. Die Investitionen, die wir jetzt nicht tätigen, werden uns irgendwann teuer zu stehen kommen. Jede Entscheidung, die ich heute fälle, hat Folgen, egal ob kleine Nachwehen, Wellen im Wasser, dauerhafte Narben oder gar Lawineneffekte.

Ich habe die vergangenen 20 Jahre den Klimaskeptikern und den Lobbyisten der (fossilen) Vergangenheit nicht unermüdlich widersprochen, um mich jetzt – wo endlich das Klimathema die breite Masse der Menschen erreicht – mit einem „Zu-spät“-Seufzer frustriert aufs Altenteil zurückzuziehen. Besser spät als nie. Meine Vision von 2050 ist eine positive.

Ich habe mir bei dem Thema Klimawandel, das so viele Menschen in Angst und Panik versetzt, den Optimismus auf die Fahne geschrieben. Martin Luther Kings berühmtester Satz heißt ja auch nicht „I have a nightmare“, sondern „I have a dream“. Träume geben Kraft. Zukunft braucht Zuversicht. Doch mit Träumen allein ist nichts gewonnen. Wir müssen handeln, wir müssen machen, wir müssen endlich ins Tun kommen.

Vor zwölf Jahre habe ich in meinem ersten Buch die enormen wirtschaftlichen Chancen echter Klimaschutzpolitik dargelegt. Es folgte ein Jahrzehnt aggressiver Torpedierung jeglicher Klimaschutzpolitik seitens der Gegner, weswegen ich zwei Bücher schrieb, um die gezielt gestreuten Mythen und Fake-News zu widerlegen. Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht noch ein Jahrzehnt mit rückwärtsgewandten Diskussionen vergeuden dürfen, sondern beherzt nach Vorne gehen müssen. Es beginnt das Jahrzehnt, in dem es auf die Frage nach Klimaschutz nur noch Ja oder Nein als Antwort gibt.

Wir alle wissen: Die Uhr tickt. Wir haben noch ungefähr zehn Jahre oder knapp 420 Gigatonnen CO2 Zeit, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen . Also das Ziel, die Erde ungefähr so zu erhalten, wie wir sie heute kennen und wie sie uns die letzten tausend Jahre ein lebenswertes Zuhause geboten hat.

Es wird immer sichtbarer, dass der Klimawandel überall auf der Welt massiv voranschreitet und die bisherige Klimapolitik unzureichend war – trotz großer Anstrengungen Einzelner. Jugendliche gehen seit über einem Jahr auf die Straße und fordern zu recht mehr Klimaschutz. Den jungen Menschen folgen die älteren und auch die ganz alten. Es kamen die Profis und inzwischen auch die Omas. Es ist eine globale Bewegung geworden. Die Ungeduld wächst. Die Auseinandersetzungen werden härter. Manche macht das besorgt. Doch ich freue mich riesig darüber. Seit über zwanzig Jahren kämpfe ich für mehr Klimaschutz. Durch das Engagement der For-Future-Bewegung wird deutlich, dass es eine überwältigende Mehrheit für den Wandel gibt. Lange Jahre wehrten sich die fossilen Konzerne mit allen Mitteln gegen die notwendige Umstrukturierung des Energiemarktes, mit Tricks, mit Kniffen und jetzt immer aggressiver kämpften sie um ihre wirtschaftlichen Interessen. Die Lobbyisten der Vergangenheit bellen und beißen wie alte Rottweiler, aber den – inzwischen nicht mehr ganz so – jungen Welpen gehört die Zukunft.

Wir sind an einem Wendepunkt. Jetzt besteht die Chance für einen echten Wandel!

Die größte Gefahr: Statt nach vorne zu denken, stellen wir die Schuldfrage. Gerade diejenigen, die erst Ende der 1990er Jahre oder Anfang des neuen Jahrtausends geboren wurden, stehen immer wieder fassungslos vor mir. Sie werden in einer Welt erwachsen, die am Abgrund steht, und erfahren jetzt: Ihre Eltern, die sogenannten „Baby-Boomer“, wussten all die Jahre Bescheid, dass die Welt Kurs auf diesen Abgrund nimmt.

Schon ist die Rede von einem Krieg der Generationen. Derlei mag eine journalistische Sensationslust befriedigen, ist aber sinnlos und kostet bloß Kraft, Nerven und Zeit, die wir nicht haben. Statt uns über Moralfragen zu zerstreiten und zerspalten, sollten wir lieber gemeinsam Lösungen für die immer noch ungelösten Herausforderungen des Klimawandels finden.

Denn im Moment sind wir alle, ob wir wollen oder nicht, eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Wenn wir in der industrialisierten Welt leben, können wir uns der „CO2-Emissionskultur“ derzeit nicht entziehen, egal wie sehr wir uns abstrampeln. Wenn also die junge Generation vorwurfsvoll auf die Älteren zeigt, dann werden die Generationen X und Y auf die Jüngsten zeigen und „Selber!“ rufen. Und schon sitzen wir im altbekannten Klimakarussel, schieben die Schuldkarte weiter zum nächsten und drehen uns im Kreis. Nein, so kommen wir nicht vorwärts.

Wir müssen die Gräben überwinden und Brücken bauen für echten Klimaschutz. Und zwar nicht nur für die Boomer, die Generationen X, Y und Z, sondern auch für die nächsten Menschen, die in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten erst noch auf die Welt kommen: die Generationen N1, N2 bis Nx. Denn sie müssen die Suppe auslöffeln, wenn wir nicht endlich aufhören sie einzubrocken.

Das wissen nicht allein die Jugendlichen. Das wissen auch all die Menschen, die „for Future“ auf die Straße gehen. Eine im Frühjahr 2019 veröffentlichte Studie zeigt, dass eine große Mehrheit der Deutschen (63%) Klimaschutz für ein sehr wichtiges Anliegen hält und ihm eine ähnlich hohe Bedeutung wie den beiden Top-Themen Bildung (69 %) und soziale Gerechtigkeit (65 %) gibt. Allerdings nur 14% der Menschen meinen, dass die Bundesregierung genug tut. Und das gilt über alle Generationen.

In einer repräsentativen Umfrage  vor der Hamburg-Wahl im Februar 2020 gaben 82% der Befragten im Alter 65+ an, ihnen sei Klimaschutz wichtig oder sogar sehr wichtig. Bei den 40-64-Jährigen waren es 73%. Bei den 16-39-Jährigen waren es 85%. Sie wären alle bereit, für einen besseren Umwelt- und Klimaschutz sogar höhere Preise zu akzeptieren.

Deswegen: Wechselseitige Schuldzuschreibungen und Vorwürfe, Beleidigungen und Beschimpfungen bringen uns nicht weiter. Im Gegenteil.

Der echte Zeit- und Maßnahmenplan muss erst noch entwickelt werden –und zwar von all denen, die das 21. zu einem Jahrhundert von Demokratie, Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit machen wollen, kreuz und quer durch die Republik, von Görlitz bis Aachen, von Passau bis Wilhelmshaven von Freiburg bis Stralsund, ab sofort.

Bislang hat Deutschland nur ein halbherziges Klima-Paket verabschiedet. Der mit großem Tamtam angekündigte Klima-Tiger landete als bescheidener Bettvorleger. Entschieden wurde nicht, was klimapolitisch notwendig ist, sondern lediglich, was politisch durchsetzbar schien. Da war die Mutlosigkeit größer als die Weitsicht. Wir müssen den Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik deutlich machen, dass wir mehr verlangen. Wir packen einfach selber an.

Wir brauchen etwas, das größer ist als wir selbst, einen Systemwechsel, eine gemeinsam organisierte und durchgeführte Transformation – weg von der fossilen hin zu einer nachhaltigen Welt. Wir brauchen gemeinsame Entschlossenheit. Wir brauchen Verabredungen und Verbindlichkeit. Wir brauchen einen neuen Generationenvertrag  – analog zum Solidarvertrag zwischen den Jungen und den Alten für eine sichere Rente. Wir brauchen einen Solidarvertrag der Generationen X,Y und Z mit den N-Generationen für einen sicheren Planeten. Wir brauchen eine andere Klima-Zukunft. Wir brauchen Klima-Gerechtigkeit. Wir brauchen einen generationengerechten Klima-Vertrag. Einvernehmlich und verbindlich.


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