Ihre Finger waren kalt, daher klammerte sie sich regelrecht an die dampfende Tasse Kaffee in ihrem Schoß. Auch die Sonne vermochte sie heute nicht zu wärmen. Eingekuschelt in ihre Lieblingsdecke - nur die rote Nasenspitze schaute hervor - betrachtete sie das satte Grün der Bäume.
"Der Rasen müsste auch mal wieder gemäht werden", stellte sie mit einem Seufzen fest und nippte vorsichtig an dem heißen Gebräu in ihrer Hand. Dabei verrutschte die Decke und kalte Morgenluft ließ sie erschaudern.
Es war noch früh, die Welt war noch leise. An anderen Tagen genoss sie diese Stille, doch heute drückte sie schwer auf ihre schmalen Schultern.

Und die Feuchtigkeit kriecht mir in die Knochen. Vielleicht sogar bis in die Seele? Wer weiß. Schwermut nannte man das Wohl. Kannten die jungen Leute dieses Gefühl überhaupt noch? Oder schleicht sie sich erst langsam über die Jahre in das Herz und je näher es Richtung Ende geht, desto öfter grüßt sie einen mit ihren schalen, neckischen Worten: Hallo, na? Ich bin auch noch da.

"Blöde Sau, kann ich echt nicht gebrauchen." Sie rückte sich in ihrem Stuhl ein wenig zurecht, weil das dumme Kreuz wieder schmerzte. Wie viele Kissen sollte sie denn noch auf das alte Holz packen? Eines Tages wird sie von dem flauschigen Turm noch herunterrutschen und davon erschlagen werden.
"Ein tolles Bild wäre das", kicherte sie in sich hinein.

Wenn mein junges Ich mich jetzt nur sehen könnte, sie wäre entsetzt. Auf Bäume bin ich geklettert, so flink und ohne Furcht, als würde es die olle Schwerkraft nicht geben. Barfuß bin ich in dreckige Pfützen gesprungen und Schnee hab ich gegessen, weil ich damals die Angst vor Krankheiten noch nicht kannte. Aber mit der Zeit wurde alles anders.

Aber wenigstens hatte sie gelacht - andauernd - und geliebt. Oh, was hatte sie geliebt: unglücklich, aber auch gücklich, schmerzhaft und so euphorisch, als wäre nichts anderes mehr von Bedeutung.
Sie wirbelte durch die Zeit, durch all die Erinnerungen und verfolgte ihre eigenen Spuren.
Sie schoß Pfeile in einen Baum mit dem Bogen, den ihr Papa für sie aus einem zurecht gebogenen Ast und einem dicken Garn gebastelt hatte. Sie biss in den leuchtend grünen Apfel, den sie auf dem Markt hatte mitgehen lassen und erschrak, als dieser alte fette Mann sie fest am Arm packte und deswegen ausschimpfte. Er hatte ihr den angebissenen Apfel sogar entrissen.

Was wollte er denn damit? Der konnte doch gar nicht mehr verkauft werden?

Und sie erinnerte sich an die warme Umarmung, mit der sie ihr Papa empfing, als sie ihm mit dicken, kullernden Tränen und voller Schuld davon erzählte. Eine kindische, dumme Mutprobe war das gewesen. Und die doofe Nadine hatte es beobachtet und der Lehrerin erzählt und dann wurde sie vor der gesamten Klasse vorgeführt. Danach waren sie keine Freundinnen mehr.

Doofe Nadine.

Aber es sollten noch viele weitere Mutproben auf sie warten und die waren nicht so leicht zu bewältigen gewesen.
Felix auf sich aufmerksam zu machen, zum Beispiel, das war richtig harte Arbeit gewesen.
Ja, das Leben fordert einen andauernd zu solchen Mutproben heraus, nur sind sie anders, als die mit dem Apfel. Weil sie aus einem selbst hervor kommen und nicht von einem Oliver mit den Worten: "Das traust du dich eh nicht, du feiges Huhn!"

Und wir bezeichnen sie auch nicht mehr als Mutproben. Wir nennen sie Entscheidungen. Aber warum? Hinter jeder Entscheidung, die man trifft oder nicht trifft, steckt Mut. Mut zur Wahrheit, Mut zu sich selbst und auch zu seiner Angst.

Das mit Felix hatte nicht funktioniert. Das war aber auch nicht weiter schlimm. Ohne Felix hätte sie nie Jens kennengelernt und ohne die Schmerzen mit Jens, wäre sie nie bereit für Ben gewesen. Und ohne ihren Ben gäbe es nicht Sophie, ihre Tochter. Und ohne Sophie hätte sie keine quirligen, aber aufgeweckten Enkelinnen, denen sie Geschichten erzählen konnte. Geschichten von Kobolden, die einen auf schlechte Wege führen konnten, von mutigen kleinen Räubertöchtern, die mit Pfeil und Bogen durch dunkle Wälder schlichen und von bösen Hexen, die Nadine hießen.

Es ist schon alles so gelaufen, wie es laufen sollte. Nur heute laufe ich etwas langsamer und etwas gebückter, aber ich laufe noch. Darauf kommt es an.

Sie hatte doch ein gutes Leben geführt, nicht?

Doch, ja, ganz sicher.

Sie konnte hier sitzen und nachdenken. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, auch wenn es nur ein Kleines war. Aber es war ihr Dach. Und ihr Stuhl. Und ihre Decke. Und ihr Rasen.

Aber der könnte ruhig mal wieder gemäht werden.