Die Notwendigkeit, Lernen und Arbeiten zu nomadisieren, nimmt zu – und es wird immer einfacher, es auch zu tun. Das führt zu krassen Gegen- und Beharrungsreaktionen in den Silos – sowohl im Bildungssystem als auch bei Arbeitgebern. Werfen wir deshalb einen Blick in die Mottenkiste, beleuchten das Scheinargument, und wenden uns dann der Lösung zu.
Für die Gralshüter traditioneller Lern- und Arbeitsprozesse fungiert die körperliche Anwesenheit von Menschen als Voraussetzung für alles andere. Nur wenn der Schüler oder die Arbeitnehmerin "da" ist, finden wirklich Lernen oder Arbeiten statt. "Es gibt nur ein Hier, und das ist hier." Da geht es ganz offensichtlich um Kontrolle, also um ein Bedürfnis des lehrenden oder anstellenden Systems. Es geht nicht um die Potenziale lernender und arbeitender Menschen und darum, wie wir die entwickeln. Es geht auch nicht um die Frage, welche Lösungsmöglichkeiten uns neue Lern- und Arbeitsformate bieten, wenn wir uns nur mal ernsthaft mit ihnen auseinandersetzen würden.
Es geht um die Vermeidung von Kontollverlust.
Home-Office – im Notfall. Home-Schooling gar lieber nicht
Weil es mittlerweile in vielerlei Munde ist, lassen sich die Gralshüter manchmal dazu hinreißen, einen "zweiten Ort" zu genehmigen. Wenn es ums Arbeiten geht, sprechen sie dann von "Home Office", und wenn es ums Lernen geht, von "Home Schooling". Wenn schon "irgendwo", dann zuhause. Im "Home". Hier drückt das Weltbild der Gralshüter durch: Der Mensch hat einen (1) Arbeitsplatz und einen (1) Ort, an den er nach der Arbeit zurückkehrt – und wohin er sie jetzt für einen Tag pro Woche mitnimmt. "Home" ist allerdings sehr nahe an dem, was für die Gralshüter der ausgemachte Feind allen Lernens und Arbeitens ist: die Freizeit. Deshalb: Höchstens einen Tag Home Office, und Homeschooling lieber gar nicht, denn: "Wie sollen wir das um Himmels Willen kontrollieren?"
Also bleiben Arbeitsplatz, Schulzimmer und Seminarraum die bevorzugten Modelle für Arbeiten und Lernen. Da haben wir sie unter Kontrolle – und nicht zu vergessen: sie sich gegenseitig. Schon der Wiener Zetteldichter Helmut Seethaler wusste:
Lernen und Arbeiten funktionieren vielerorts bereits nomadisch
Jetzt gibt es halt schon etliche Initiativen und Projekte, die zeigen, dass Menschen jeden Schlages und Alters sehr wohl in einer Kultur des Nomadischen lernen und arbeiten. Ja, es stellt sich heraus, dass sie durch Asynchronität, Multilokalität und Digitale Vernetzung viel lustvoller und effizienter arbeiten und sogar lernen. Auch wenn sie noch ganz jung sind oder pubertär – für die Gralshüter eigentlich noch ungereifte "pre-people".
Laloux und Bregman schildern, wie das in Organisationen gelingt und funktioniert, demokratische und soziokratische Schulen zeigen es für die Bildung.
Doch auch gegen dieses Gelingen sind die Gralshüter gerüstet. Sie drehen den Spieß einfach um und machen aus ihrem Bedürfnis nach Kontrolle ein Bedürfnis des Arbeitnehmers und der Lernerin, "gesehen" werden zu wollen und geführt. Sie steigern den so genannten Wert der Beziehungsarbeit (die die meisten Lehrer und viele Führungskräfte, mit denen ich zusammengearbeitet habe, fürchten, wie der Teufel das Weihwasser) ins Unermessliche (wo sie ansonsten nur Messbares gelten lassen). Sie führen also „physische Bedürfnisse“ ihre Schützlinge gegen offene Formen des Lernens und Arbeitens ins Feld. Erst recht, wenn das Internet ins Spiel kommt.
Sie führen einfach alles ins Feld, um die Kontrolle nicht zu verlieren.
Die können das doch gar nicht!
Das billigste und zugleich sehr häufig eingebrachte Argument lautet, dass sowohl arbeitende als auch lernende Menschen „das gar nicht können“: Arbeits- und Lernräume bzw. Arbeits- und Lernzeiten selbstverantwortet zu gestalten, Arbeits- und Lernprojekte kollaborativ zu organisieren. Dieses Argument ist deswegen nichtig, gerade in Kontexten des Lernens und der persönlichen Entwicklung, weil sich Lernen & Entwicklung ja gerade dadurch auszeichnen dass Menschen in eine Situation kommen, in der sie etwas „noch nicht können“ und vor der Notwendigkeit stehen, sich bestimmte Fähigkeiten und ein Wissen anzueignen.
Und wie sollten lernende und sich entwickelnde Menschen die Kompetenz, ihr Lernen und Arbeiten selbstgesteuert und kollaborativ zu gestalten, vorweisen können, wenn die Lern- und Arbeitssilos alles dafür tun, die Entwicklung dieser Kompetenzen zu verhindern? Selbstorganisiertes Lernen und Arbeiten kann ich nun mal ausschließlich selbstorganisiert lernen.
Die Lösung: Vernetzter Individualismus
Wir individualisieren das Lernen und Arbeiten radikal und vernetzen es zugleich. Das ist mit Nomadisierung gemeint.
Vernetzter Individualismus unterscheidet sich nur geringfügig von Networked Sociality, in seiner Verwendung richtet sich der Begriff mehr auf konkrete Auswirkungen und bewußte Steuerung. Er kommt bei Manuel Castells (2005) vor, und wurde von Lee Rainie & Barry Wellman in Networked – The New Social Operating System (2012) ausgearbeitet. In einer Übersicht von 12 Grundsätzen stellen die Autoren Charakteristika heraus. (Quelle)
Es geht nicht um isoliertes und vereinzeltes Lernen und Arbeiten, sondern um eine technische, räumliche und zeitliche Erweiterung der Möglichkeiten. Individuen gestalten ihr Lernen & Arbeiten ihren Bedürfnissen, Potenzialen, Interessen und Grenzen gemäß. Sie finden ihr eigenes Lerntempo und organisieren ihre Lernprozesse selbstgesteuert mit entsprechenden Lernpartner*innen zusammen.
Diese Individualisierung und Nomadisierung führt zu einer fundamentalen Humanisierung des Lernens und des Arbeitens, weil lernende Menschen in ihren prägenden Lebensphasen und darüber hinaus nicht mehr jahrelang über einen Kamm geschoren werden und gemeinsam durch ein einziges Nadelöhr kriechen – und die dieses Trauerspiel dann für den Rest ihres Lebens für den Normalfall von Lernen halten – und von Arbeit.
Jederzeit und überall lernen, wann und mit wem auch immer ich möchte.
Dir gefällt, was Christoph Schmitt schreibt?
Dann unterstütze Christoph Schmitt jetzt direkt: