Konzertkritik Die „Sinfonie der Tausend“ mit Kirill Petrenko und dem Bayerischen Staatsorchesters.

Es war Schicksalszeit in Deutschland. Nicht nur München leuchtete als am 12. September 1910 Mahlers 8. Sinfonie im frisch erbauten monumentalen Deutschen Museum uraufgeführt wurde. Ganz Deutschland stand im glänzenden Zenit. Wirtschaftlich und militärisch die stärkste Macht der Welt, quoll den Repräsentanten des wilhelmistischen Obrigkeitsstaates das Selbstbewusstsein aus allen Poren.

Doch gleichzeitig wuchs bereits die Angst, dass es mit Glanz und Gloria bald vorüber sein könnte. Im Westen wuchs das radikal kapitalistische Amerika rasant, im Osten bedrohten die Bolschewiken die gute alte Ordnung. Mahlers 8. Sinfonie, ebenso wie Thomas Manns „Königliche Hoheit“, sind in ihrem affirmativen Gestus nicht zuletzt Produkte dieser historisch atmosphärischen Gemengelage.

Gerne wird Thomas Manns ergriffenes Dankesschreiben an Mahler nach der Uraufführung zitiert (dem ein Exemplar von „Königliche Hoheit“ beilag), in Mahler offenbare sich „der ernsteste und heiligste künstlerische Wille unserer Zeit“. Auch Thomas Mann war der nationalistischen Trunkenheit dieser Jahre, die in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ kulminieren sollte, hoffnungslos verfallen.

Der Erfolg der Uraufführung war so monumental wie alles in dieser deutschen Epoche. Was auch die Neider und Spötter auf den Plan rief. Hans Pfitzners witzelte mit Verweis auf den ersten Satz („Komm Schöpfer Geist“), „Wenn er nun aber nicht kommt?“, und Richard Strauss befand „zu viel Es-Dur“ im Stück, womit er auf den musikalischen Topos des „Heroischen“ rekurrierte, den  Beethoven in „Eroica“-Sinfonie und „Emperor“-Konzert etabliert hatte (und Strauss auch selbst in seinem „Heldenleben“ exploitierte).

Die bösartigsten Invektiven hat aber wie immer der mephistotelische Theodor W. Adorno zu bieten (der Teufel trägt in „Doktor Faustus“ nicht umsonst eine Hornbrille). Das Werk sei eine „objektiv unmögliche Wiederbelebung des kultischen“, „repräsentativer Karton“, „symbolische Riesenschwarte“.  Adorno diagnostiziert eine „Identifikation mit dem Angreifer. Sie flüchtet zur Macht und Herrlichkeit dessen, wovor sie sich fürchtet.“

Adornos Bemerkungen stammen aus seinem Mahler-Buch von 1960 und sind gewiss nicht zuletzt deswegen so böse und bitter, weil sie „post festum“ niedergeschrieben sind. Auch Thomas Mann hat sich später nicht nur von seinen „Betrachtungen“ distanziert, sondern wurde zum prominentesten Chronisten und Exegeten jenes deutschen Schicksals, das in einer glanzvollen Apotheose gipfelte, bevor es im Höllensturz von zwei Weltkriegen endete.

Sowohl die Ergriffenheit als auch die Kritik zielen im Grunde in dieselbe Richtung. Was die einen als repräsentative Selbstfeier, als Ausdruck von Aspiranz und Vision, als einen Nietzscheanischen Willen über sich hinauszuwachsen, feierten, betrachteten die anderen als den Übereifer eines Konvertiten, als redundante Affirmation und falsche pseudoreligiöse Selbstergriffenheit.

Unabhängig davon wie man ästhetisch zu Mahlers 8. Sinfonie steht. Gerade in seinen fragwürdigen und problematischen Aspekten bleibt sie eines der repräsentativen Kunstwerke ihrer Epoche.

Luther und Goethe

Die Wahl der Texte war im deutschen Kontext denn auch vollkommen stimmig. Auch Thomas Mann verortete den Beginn der deutschen Kultur- und Verhängnisgeschichte in seinem „Doktor Faustus“ in der Epoche des historischen Doktor Faustus und Martin Luthers. Luther hatte vor fast genau 500 Jahren eine deutsche Fassung des „Veni Creator Spiritus“ als „Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist“ gedichtet, die sich rasch als protestantischer Pfingsthymnus etablierte.

Ist das christliche Osterfest die Feier der Transformation und des geläuterten Neuanfangs, ist das Pfingstfest der Moment des Aufbruchs in eine neue Zukunft, der vor allem für die reformatorischen Bewegungen von zentraler Bedeutung war. Tatsächlich kann man auch in Mahlers 6., 7. und 8. Sinfonie eben jene christliche Dramaturgie von Passion, österlichem Durchbruch und pfingstlichem Aufbruch ablesen.

Dreihundert Jahre später war die Welt nach der französischen Revolution erneut in einem Modus des Aufbruchs. Beethovens und Schillers „Ode an die Freude“ aus der 9. Sinfonie markieren in ihrem kollektivistischen Gestus zumindest symbolisch einen erneuten historischen Pfingstmoment. Doch ist das Verhältnis zum Schöpfergott bereits angeschlagen.

Bei allen Dichtern und Denkern des deutschen Idealismus, ob bei Kant und Hegel oder bei Goethe, Schiller und Hölderlin, spürt man diese Ambivalenz gegenüber dem christlichen Gott. Man akzeptiert und respektiert ihn noch als historisch gewachsenes, immanentes Element der abendländischen Kultur, und nicht zuletzt als notwendiges Ordnungsprinzip. Doch das Verhältnis ist durch den aufklärerischen Rationalismus bereits fragil geworden, die totale pfingstliche Identifikation längst verloren.

Diese Skepsis kulminiert in Goethe und seinen Selbstprojektionen in Faust und Mephisto. Er, der ein duzend Leben gelebt hat und sich immer wieder neu erfand, alle bedeutenden Menschen seiner Zeit traf, alle Höllen des Hedonismus ausgekostete, von allem neuen und unbekannten, seien es neue Wissenschaften oder fremde Kulturen, magisch angezogen war, jedoch auch alles alte und abgelebte völlig skrupellos von sich abstieß. Es dürfte wenige Menschen gegeben haben, die am Ende ihres Lebens mehr gesehen, erlebt und erfahren hatten wie er.

Gerade der Schluss des Faust, nur wenige Monate vor Goethes Tod 1832 niedergeschrieben, hat jene Doppelgesichtigkeit, mit der er einerseits die christlichen Traditionen in einem Reenactment von Dantes „Paradiso“ aus der „Göttlichen Komödie“ aufgreift, doch gleichzeitig in einem Akt der „Selbstsetzung“ blasphemisch überschreibt. Denn natürlich widerspricht alles, was der „Olympier“ Goethe dort zelebriert, der christlichen Lehre, ist vielmehr eine Umdeutung, die zurückweist auf einen antiken Vitalismus. Gott ist nicht mehr „der andere“. Mit Mephisto ist auch sein dialektischen Gegenprinzip überwunden. Die selbstherrliche menschliche Selbstprojektion Jupiter hat wieder auf dem olympischen Thron Platz genommen.

Nur wenige Jahre zuvor hatte auch Beethoven in seiner „Missa solemnis“ (1823) eine ganz ähnliche Umdeutung vorgenommen. Auch er setzt sich selbst als agierender Heilsspender ein indem er das „Solo deo gloria“ durch „Von Herzen möge es wieder zu Herzen gehen“ ersetzte. Und auch Richard Wagner wird sich in seinem „Parsifal“ in Nachfolge von Goethe mit dem Motto „Erlösung dem Erlöser“ selbst in den Himmel aufsteigen lassen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Gott endgültig tot. Friedrich Nietzsche, der Goethes Antikenkult aufnahm und zu einem „Übermenschentum“ zuspitzte, war eine der Kultfiguren der Ära vor dem ersten Weltkrieg. In Thomas Manns „Tod in Venedig“ (1913) kreuzen sich alle diese Elemente: der Selbstüberwindungs-Heroismus Gustav Mahlers, die Nietzscheanische Schicksals- und Endzeit-Stimmung, Goethes Italienkult und antike Päderastie (übrigens hat Thomas Mann auch diese seine populärste Erzählung später im Rückblick als „falsch“ bezeichnet).

Doch auch die deutsche Wissenschaft des Doktor Faust kulminierte in dieser Epoche mit den bahnbrechenden Entdeckungen von Albert Einstein und Max Planck, die jahrtausendalte Gewissheiten alleine mit ihrem spekulativem Forschergeist aus den Angeln hebelten und, ähnlich wie die kopernikanische Wende 400 Jahre zuvor (auch Kopernikus war Zeitgenosse Luthers) einen kosmologischen Paradigmenwechsel einleiteten.

Wie es endete ist hinreichend bekannt. Wie so oft in der Geschichte der Menschheit waren Größenwahn und Selbstüberschätzung nur die Vorboten für das Ende einer Epoche und den Fall einer Zivilisation, die sich in einem großen Krieg vollzog.

Schicksalsmodus

Waren Beethoven und Goethe die Prometheus Figuren der deutschen Epoche, so waren Nietzsche und Gustav Mahler die Epimetheus Figuren. Epimetheus ist der jüngere Bruder von Prometheus und wie so oft in mythischen Konstellation sind die schicksalhaften Kontexte dialektisch ausfiguriert. Ist Prometheus der Befreier und Aufklärer, ist Epimetheus der neidisch ehrgeizige Bruder, der sich von der schönen Pandora verführen lässt, die Büchse der Götter zu öffnen (interessanter Weise tragen Lou Andreas-Salomé und Alma Mahler tatsächlich auch Pandora-hafte Züge).

Gustav Mahler holt in der 8. Sinfonie buchstäblich alles aus der Büchse der musikalischen und orchestralen Möglichkeiten. In durchaus genialer Manier werden die Schatztruhen von Beethoven und Richard Wagner systematisch geplündert. Das „Veni creator spiritus“ ist eine Kombination aus dem „Credo“ der „Missa solemnis“, der Siegfried Motivik des Rings und den Orchestermärschen Richard Wagners. Im zweiten Teil scheint das es-moll der „Götterdämmerung“ ebenso durch wie der dräuende Kopfsatz von Beethovens 9. Sinfonie und die Mystik des „Agnus Dei“. Das Orchester wird ans Maximum dessen gefahren, was zuletzt vor allem von Richard Strauss und Arnold Schönberg eingeführt worden war.

Dabei gelingt es Mahler durchaus die oft sehr auseinanderstrebenden Elemente ästhetisch zu amalgamieren. Auch wenn er im Grunde den Sinn Beethovens für formale und den Wagners für harmonische Bögen zerbricht und fragmentiert, erzeugt er trotzdem einen künstlerischen Mehrwert. Gerade in der Gewaltsamkeit dieses ästhetischen Aktes offenbart sich das heroische Element, ein titanischen Herbeizwingen von Sinn und Synthese. Adorno, der eben doch der klügste Musikexeget des 20. Jahrhunderts war, berührt wie so oft mit seiner Kritik etwas durchaus Wahres. In der „Identifikation mit dem Angreifer“ steckt etwas von der Lust am Untergang dessen, der mit „bedingungslosen Willens“ in den Kampf zieht. Wie es dann die deutschen Soldaten der beiden Weltkriege taten.

Prosaische Zeiten

Von der Uraufführung am 12. September 1910 berichteten die Münchner Neuesten Nachrichten auf ihrer Titelseite. Die Besprechung zur Aufführung des Bayerischen Staatsorchesters mit Kirill Petrenko zur Saisoneröffnung erschien dagegen auf der letzten Seite im Lokalteil der Süddeutschen Zeitung. Was anschaulich den aktuellen Stellenwert der „Klassischen Musik“ illustriert.

Man muss einfach feststellen, dass der Weltgeist weiter gezogen ist. Denn Kunst wird immer dann am wirksamsten wenn sie mit dem aktuellen Zeitgeist interferiert, der immer auch die aktuellen Machtverhältnisse reflektiert. Stand die europäische Kultur nach 1945 zwar im Schatten Amerikas, doch immer noch auf der Sonnenseite des Westens, so rückt sie mit dem Aufstieg Chinas noch weiter in den Hintergrund.

Dabei war die Aufführung von Mahlers 8. Sinfonie im Nationaltheater die beste, die ich je erlebt habe. Als Orchesterorganisator und Orchesterleiter dürfte Kirill Petrenko derzeit nicht seinesgleichen haben. Das Solistenoktett war ausgezeichnet wenn auch ohne wirklich individuellen Appeal. Der stürmische Erfolg, dem Zeitgeist entsprechend eher populär ausgelassen als bürgerlich ergriffen, war wohlverdient.

Doch kann man einfach nicht leugnen, dass das Ereignis tatsächlich eher den kuriosen Charakter einer „Riesenschwarte“ auf dem Oktoberfest hatte als den eines identitätsstiftenden schicksalhaften Ereignisses. Worüber man als ziviler Staatsbürger vielleicht auch nicht allzu traurig sein sollte.

Epilog – Neue Schicksalszeit

Draußen in der Welt rumort es wieder. Es ist neue Schicksalszeit. Die amerikanische Epoche nähert sich ihrem Ende. Alle Ingredienzien sind erneut am Werk, jene Mischung aus Krisenstimmung und gleichzeitiger Hybris, aus übersteigertem Patriotismus und leichtsinnigem Liberalismus. Glaubte die deutsche Epoche an eine Transzendenz durch die Kunst ist die amerikanische Epoche von einem Glauben an eine Transzendenz durch die Technik bessesen. Die künstliche Intelligenz ist das neue Göttliche, auf das alle Sehnsüchte projeziiert werden. Gleichzeitig ist die Angst vor dem Abstieg allgegenwärtig. Westlich der USA wächst das autoritäre China rasant, östlich bedroht Putin die schöne demokratische Ordnung. Die Büchse der Pandora ist erneut geöffnet.