Die Politik in Bund, Ländern und Kommunen muss sofort dazu übergehen, Antigen-Schnelltests als wichtige Public-Health-Maßnahme zur Pandemieeindämmung einzusetzen. Dies ist ein völlig anderer Ansatz, als Schnelltests lediglich dazu zu verwenden, Öffnungen bei hohen Inzidenzen zu legitimieren.
Seit über einem halben Jahr stehen Antigen-Schnelltests zur Verfügung. Seit Sommer 2020 ist bekannt, dass hochfrequentes Public-Health-Screening mit Antigen-Schnelltests ein Game Changer in der Pandemiebekämpfung sein kann, bei dem Schnelligkeit über Perfektion siegt. Erste Daten aus Massentests lagen bereits im Herbst vor.Seitdem zerfasert sich die wissenschaftlich-politische Debatte in Deutschland darüber, wie viel Prozent Sensitivität akzeptabel sind und ob Max und Erika Mustermann in der Lage sind, sich ausreichend korrekt einen Abstrichtupfer in die Nase einzuführen. In dieser Zeit haben mehr als 65.000 Menschen in Deutschland ihr Leben verloren, an ein Virus, dessen Verbreitung wir nicht mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen.
Jeder Präsenzarbeitsplatz, jede Schulklasse, jeder Haushalt muss sicherer gemacht werden, indem durch regelmäßige Tests (wie mit einem Sieb) ansteckende Virusträger:innen herausgefischt werden. So können Infektionsketten in allen Bereichen unterbrochen werden. Stattdessen lamentieren die Verantwortlichen über notwendige Verfahrenswege, Zuständigkeiten und Unzulänglichkeiten. Tatsächlich bieten nur etwa 30% der Unternehmen mindestens einen wöchentlichen Test an. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand und trotzdem versperren uns Testvorbehalte, Kostenstreitigkeiten und falsche Teststrategien weiterhin den Weg zurück in die Normalität: Schon minimale Lockerungen würden nach aktuellen Modellierungen des RKI den R-Wert und die Sterbefälle unvertretbar ansteigen lassen. Deshalb ist es wichtig, Schnelltests vorerst als zusätzliche Maßnahme einzuführen und erst nach Senkung der Fallzahlen wieder an Lockerungen zu denken, zumal sich der genaue Effekt von Lockerungen nicht präzise durch Testen kompensieren lässt.
Simulationen von RapidTests Deutschland basierend auf dem im Fachjournal "Science" veröffentlichten Modell von Larremore et al. 2021 zeigen: Hätten wir im Oktober bei den damals schwachen Einschränkungen (die zu R≈1,3 führten) Schnelltests bei 45% der Gesamtbevölkerung alle 4 Tage eingesetzt, hätten wir ein R von <0,9 erreichen können und so die zweite Welle vermieden. Bei der heute dominanten Variante B.1.1.7 mit ihrer erhöhten Infektiosität1 gehen wir aufgrund der Zunahme- bzw. Abnahmeraten der B.1.1.7-Variante bzw. des Wildtyps im Januar/Februar davon aus, dass wir trotz der in dieser Zeit geltenden Maßnahmen bereits einen R-Wert von knapp unter 1,3 hatten2. Wir müssten also jetzt zusätzlich zu diesen Maßnahmen 45% der Bevölkerung alle 4 Tage testen, um einen R-Wert von 0,9 zu erreichen3. Um, wie von vielen Wissenschaftler:innen gefordert, für einige Wochen einen R-Wert von <0,7zu erreichen, müsste man etwa 65% der Bevölkerung alle 4 Tage testen (Abbildung a).
In derselben Logik kann man erkennen, dass 1 Test pro Woche kaum ausreicht, wenn man nicht die große Mehrheit der Bevölkerung motivieren kann: Es wäre dann eine Teilnahmequote von über 60% nötig, um R von 1,3 auf 0,9 zu drücken (Abbildung b).
Wir sind weit davon entfernt, die Infektionsdynamik dauerhaft kontrollieren zu können. Es ist daher unabdingbar, mit allen Mitteln deutlich mehr Menschen zum Testen zu bewegenund die Testangebote massiv auszuweiten. Die Umsetzung folgender Punkte ist daher zwingend erforderlich, um die bisherige Strategie zu ergänzen:
1.) Beteiligung aller Arbeitgeber:innen: Verpflichtung der öffentlichen und privaten Arbeitgeber:innen, ihren Präsenzbeschäftigten mindestens 2 freiwillige Tests pro Woche anzubieten, wahlweise im Betrieb mit Bescheinigung oder als Selbsttest zu Hause. Bei hohem Infektionsrisiko am Arbeitsplatz und ausreichender Verfügbarkeit von Tests sollten zum Schutz der Mitarbeiter:innen bis zu tägliche Tests ermöglicht werden.
Zudem sollte ab einer 7-Tage-Inzidenz von 50/100.000 als Notfallmaßnahme eine Testpflicht zur Senkung der Inzidenz mit mindestens 2 Tests pro Woche inkl. Protokollierungspflicht bestehen. Die Homeoffice-Nutzung sollte, soweit möglich, ausgebaut werden und bleibt von der Testregelung unberührt. Aufgrund des hohen Nutzens für die öffentliche Gesundheit (Public Health) sind die Kosten für die Tests von der öffentlichen Hand zu tragen. Die Organisation erfolgt über die Betriebe.
2.) Testangebot für alle Schulen und Kitas: Allen Lehrer:innen, Erzieher:innen, Schüler:innen und Kita-Kindern werden mind. 2 Selbsttests pro Woche für zu Hause kostenlos bereitgestellt, um sich niederschwellig testen zu können. Ein detailliertes Umsetzungskonzept für diesen Bereich liegt bereits vor (Konzeptpapier TRACE).
3.) Schnellstmögliche Umsetzung der subventionierten Abgabe von Selbsttests: Der Abgabepreis sollte nicht mehr als 1 € betragen, ggf. sind zu Beginn Stückzahlbegrenzungen notwendig. Kostenfrei sollte die Abgabe von 10 Tests pro Monat an Transferleistungsbezieher:innen und Bewohner:innen von Gemeinschaftsunterkünften sein. Für Bürger:innentests sollte mindestens 2x/Woche eine Kostenübernahme erfolgen.
4.) Fortlaufende Informations-/Mobilisierungs-Kampagnen, z.B. durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), über alle Kanäle (Social Media, TV zur Primetime, Plakat an Bushaltestellen, Multiplikator:innen). Vorrangiges Ziel ist es, die regelmäßige Test- und Isolationsbereitschaft in der Bevölkerung zu erhöhen. Deutlicher Personalausbau der Hotline unter 116117 als zentrale Anlaufstelle für Privatpersonen, um Schnelltest-Ergebnisse rund um die Uhr besprechen und eine Beratung erhalten zu können.
5.) Türöffner-Tests können als Anreiz zum Public-Health-Screening dienen, müssen jedoch mit ausreichend kurzer Gültigkeitsdauer verbunden werden. Sie haben jedoch (abgesehen vom medizinischen und pflegerischen Bereich) die niedrigste Priorität und dürfen nur insoweit für Lockerungen genutzt werden, als genug Tests für die zuvor genannten Punkte verfügbar sind. Keinesfalls sollten Türöffner-Tests dazu politisch missbraucht werden, Öffnungen bei hohen Inzidenzen zu begründen.
6.) Unterstützung der Isolation durch Behebung von finanziellen und alltagspraktischen Hindernissen: Entschädigungsleistung nach §56 IfSG oder alternativ telefonische Krankschreibung bis zum Ergebnis der PCR-Überprüfung eines positiven Schnell- und Selbsttests. Dieses sollte innerhalb von 24 Stunden vorliegen. Besonders Alleinstehende und -erziehende benötigen ggf. schnelle, unbürokratische Alltagshilfen, z.B. Einkäufe, kostenlose Schutzausrüstung, Fernbeschulungsangebote, Kinderbetreuung bei schwerer Erkrankung der Eltern.
7.) Cluster identifizieren statt nur Einzelpersonen isolieren: Alle Kontaktpersonen bestätigter Fälle erhalten Zugang zu mindestens zweitäglichen Schnelltests. Dadurch können größere Cluster schneller erkannt und die Quarantäne-Adhärenz erhöht werden.
Die Optionen sind aufgebraucht. Die bisherige Strategie der Bundesregierung und der Länder hat versagt. Deutschland hängt fest in einer Lockdown-Schleife, der sich zudem immer mehr Menschen entziehen. Wir müssen jetzt handeln und Tests nicht als Lockerungsfeigenblatt missbrauchen, sondern zu einem strategischen Werkzeug der Pandemiebekämpfung machen!
1 Annahmen: Viruslast, die zur Ansteckung notwendig ist, sinkt um eine Zehnerpotenz (auf 105 cp/ml) ggü. dem Wildtyp (106 cp/ml); Limit of Detection (LOD) der Tests: 106 cp/ml; Testsensitivität oberhalb LOD: 90%; Turnaround-Zeit: 0 Tage; Details zum Modell unter: https://github.com/LarremoreLab/covid_testing
2 Der Wert bezieht sich allein auf die Ansteckungsrate mit B.1.1.7, berechnet mit der Annahme, dass das serielle Intervall wie für den Wildtyp 4 Tage beträgt.
3Der Impfeffekt wurde hier noch vernachlässigt.
Verfasser:innen: Das RapidTests-Team, namentlich
Dr. rer. nat. Franziska Briest (Biochemikerin mit Schwerpunkt Molekulare Medizin)
Dr. rer. nat. Jonas Binding (Biophysiker)
Christian Erdmann (Ernährungswissenschaftler)
Marc Bota (Arzt, Leiter Intensivstation)
Nikolaus Kolb (MSc Epidemiology)
Carsten Pfeiffer (MA Politikwissenschaftler)
Alexander Beisenherz (Arzt)
Durchführung der Simulationen: Dr. rer. nat. Bijan Fallah (Softwareentwickler, Angewandte Physik)
Über RapidTests: Wir sind ein ehrenamtlicher Thinktank mit naturwissenschaftlich-medizinischem Hintergrund und kooperieren eng mit dem US-amerikanischen RapidTests-Team, dem Harvard-Epidemiologen Dr. Michael Mina sowie verschiedenen deutschen Wissenschaftler:innen. Unser Ziel ist die Pandemieeindämmung. Wir wollen, dass günstige, schnelle, regelmäßig durchführbare, ausreichend zuverlässige SARS-CoV-2-Selbsttests in Deutschland (idealerweise weltweit) möglich bzw. verfügbar gemacht werden, um über ein weiteres Werkzeug zu verfügen, das uns helfen kann, die COVID-19-Pandemie mit möglichst wenig negativen Folgen für Gesundheit, Gesellschaft, Bildung und Wirtschaft zu meistern. Wir haben weder finanzielle Interessen an SARS-CoV-2-Tests, noch fördern wir einzelne Hersteller. Cathleen Pfefferkorn und Jonas Binding arbeiten jeweils in Großkonzernen, die auch SARS-CoV-2-Tests herstellen, jedoch in komplett anderen Geschäftsbereichen (mehr dazu unter rapidtests.de/erweiterte-selbstauskunft).