Das Feuer verschlang die letzten Seiten des letzten Buches, das sie gefunden hatten. War es vielleicht sogar das Letzte auf der Welt? Sie wusste es nicht.
Aber sie wusste, dass das Feuer bald erlöschen würde und dann würden sie ihre kalten Fingerspitzen über die nur noch schwach glimmenden Reste aus der alten Welt halten, um das Unvermeidbare noch eine kleine Weile hinauszuzögern.
Aber es war nicht immer unvermeidbar gewesen. Sie hatten noch eine Chance gehabt damals, als alle bereits wussten, was passieren könnte, was passieren würde, wenn sie weitermachten wie bisher. Aber diese Chance hatten sie ihnen genommen. Sie konnte freilich nichts dafür. Sie war damals noch nicht einmal geboren. Und dennoch musste sie schon ihr ganzes kurzes Leben lang die Folgen tragen - wegen der Borniertheit und dem Egoismus der Menschen, die es schon seit vielen Jahren nicht mehr gab.
Ihr Vater hatte ihr erklärt, was diese Worte bedeuten. Und er hatte ihr von der alten Welt erzählt, genau wie sein Vater damals ihm und dessen Vater seinem Vater. Wie viele Väter es insgesamt wohl waren?
Von Betten hatte er erzählt - große Rechtecke aus Holz oder Metall mit Decken und Kissen und Matratzen. Von Orten, an denen man immer genug Essen finden konnte und von seltsamen, magischen Dingen, die warm wurden, wenn man an einem Rädchen drehte. Einmal hatten sie so etwas gefunden, mitten in einem Graben. Sie hatte damals an dem Rad gedreht, aber das Metallding blieb kalt. Da hatte sie frustriert und enttäuscht dagegen getreten und sich den Zeh gebrochen. Der war heute noch ganz schief.
Wie gebannt starrte sie auf die letzten Flammen, die viel zu schnell immer kleiner wurden. "Bitte nicht, bleibt und wärmt uns noch ein wenig länger", flüsterte sie ihnen ängstlich zu. Eine dünne Hand legte sich auf ihre Schulter. Sie schaute auf, in ein Paar traurige, blasse Augen, in ein hageres Gesicht mit dünnen Lippen, die zu keinem Lächeln mehr fähig waren, und auf die andere Hand, die eine Konservendose hielt mit einem lächerlich kleinen Rest Bohnen darin. Sie schüttelte den Kopf. "Du musst, sonst...", die Stimme brach. Sie wusste, was sonst passieren würde. Aber würde es das nicht sowieso, nur eben ein bisschen schneller? Verhungern oder erfrieren, was war wohl die angenehmere Art?
Mit einem Seufzen nahm sie die noch leicht warme Dose in die Hand und kratzte geräuschvoll die letzten Bohnen zusammen. Nicht mal zwei Löffel voll stopfte sich sich in ihren schmerzenden Mund. Er schmerzte schon seit Monaten, denn die wenigen Zähne darin, die sie noch hatte, waren verfault und schwarz. Sie schluckte die weiche Masse aber nicht gleich herunter, sondern wartete geduldig, um ihrem Magen vortzuäuschen, dass es mehr war als ein lächerlicher Klumpen Nichts. Sie schob den Brei von einer Seite zur anderen und stellte sich vor, wie all die Nährstoffe bereits von ihrer Zunge aufgenommen wurden, so lange bis die Bohnen unerträglich fad und matschig waren.
Sie war dankbar, dass sie alle bereits erfroren sein würden, bevor sie damit anfangen mussten, andere Dinge zu essen. Dinge, die man auf keinen Fall essen sollte. Aber sie hatte gehört, dass es einige da draußen wohl schon so machten. Deswegen hielten sie sich fern von anderen Menschen. Man wusste schließlich nie, wie hungrig sie waren und was sie dafür tun würden, um es nicht mehr zu sein.
Verzweifelt wünschte sie sich an die wundersamen Orte voll Essen und Wasser, von denen ihr Vater früher so oft erzählte. Damals trank man sogar süßes Wasser, das nach Früchten oder Beeren schmeckte. Für die Kinder waren die, für die Kinder in der alten Welt. Sie dagegen hatte nur den Schnee und der war kalt und schmerzte an den Zähnen und schmeckte auch nicht süß.
Mittlerweile erzählte ihr Vater keine Geschichten mehr. Er schlief fast nur noch und essen wollte er auch nicht mehr, wenn er denn mal wach war. Wenigstens nahm er noch regelmäßig Schnee in den Mund und ließ ihn darin schmelzen. Vielleicht hatte er ja bereits alle Geschichten erzählt, die es auf der Welt gab? Oder er hat damit aufgehört, weil ihm klar wurde, dass sie seine Geschichten nicht mehr weitererzählen würde, weil es niemanden mehr gab, der zuhören konnte.
Sie steckte ihren Finger in die Konservendose und wischte an ihrem Rand die letzten Reste zusammen. Ihr Finger war ganz rot vom Saft. Traurig schaute sie darauf, dann steckte sie ihn sich in den Mund. Sie behielt ihn auch noch dort, nachdem die letzte Flamme schon längst erloschen war und sie nichts anderes mehr schmeckte als ihre eigene schmutzige Haut. Auch als sie ihren Kopf auf die Schulter ihrer Schwester legte und die Augen schloss, nahm sie ihn nicht heraus. Vermutlich würde sie genau so einschlafen. Und wenn sie aufwachte, nein, falls sie aufwachte, wäre er vermutlich immer noch dort.
"Hätten die Menschen aus der alten Welt doch damals nur eine andere Wahl getroffen, dann hätte sie heute auch noch eine", dachte sie und fiel in einen tiefen Schlaf - den letzten und längsten in ihrem Leben.