Ich schaute in ihr müdes, aber lächelndes Gesicht. Der Zug hatte vier Stunden Verspätung, die halbe Nacht am Bahnhof zu verbringen hatte Spuren hinterlassen. Sie hatte mich, wie so oft in letzter Zeit, beeindruckt mit ihren Plänen, vollkommen allein durch Skandinavien zu reisen, um einmal die Polarlichter zu sehen. Mit dem Zug per Interrail quer durch drei Länder. Ihr Traum.

Nun stand sie in ihrem riesigen Wintermantel in der Tür des Zuges, ein wenig, als würde sie darin verschwinden wollen. Ein Pfiff ertönte, die Türen schlossen sich geräuschvoll und plötzlich erschien die Spiegelung meines Gesichtes im Fenster der Zugtüre. Schnell wandte ich mich ab. Sie ging bereits zielstrebig in ihr Abteil, setzte sich dort und winkte mir zu. Ich versuchte mir die Szenerie einzuprägen, dies war inzwischen zu einer Art Abschiedsritual geworden, und winkte ein bisschen zu fröhlich zurück. Ein weiterer Abschied. Ich blieb alleine am nächtlich verlassenen Bahnsteig zurück, mein Blick auf ein defektes Regenrohr fallend, aus dem das Wasser auf den Bahnsteig lief und eine riesige schwarze Pfütze hinterließ.

Leere.

Ich beruhigte mich damit, dass sie zufrieden und glücklich zu sein schien.

Ich konnte nicht ahnen, dass sie zwei Wochen später wütend und aufgebracht den letzten Flug aus Schweden nehmen musste, da die Welt inzwischen eine andere geworden war.

Natürlich geschah nichts davon unerwartet. Wir hatten es kommen sehen, doch wir wollten wegschauen, denn schon die Vorstellung war absurd. Bereits im Januar drangen Nachrichten einer unnormalen Häufung dieser seltsamen Lungenerkrankung in China immer wieder nach Deutschland. Aber nun ja, wie weit entfernt war denn China, sagte mein Kopf leise. Alles wirkte fern. Bei einem Restaurantbesuch mit Freunden verstiegen sich einzelne in die Behauptung, es wäre nicht verwunderlich, denn es gäbe dort 'diese seltsamen Essgewohnheiten'. Ich war peinlich berührt, wünschte mir wie so oft, Menschen würden in solchen Fällen häufiger schweigen. Später am Abend fiel nebenbei die Bemerkung, dass auch in Frankreich erste Fälle aufgetreten waren und daher damit zu rechnen sei, dass wir irgendwann damit konfrontiert werden würden.

Ein leises, unruhiges Flattern in meinem Hinterkopf setzte ein. Oft denke ich an diesen Tag zurück.

In den kommenden Tagen schickte sie Fotos. Herrliche Landschaften, der Himmel kobaltblau, die Nasenspitze rot und meterhoher Schnee. Immer wieder die Rede von diesem Internetfreund, mit dem sie seit Jahren schrieb und den sie nun zum ersten Mal getroffen hatte. Es stellte sich heraus, dass sich dahinter kein im verschwitzten Unterhemd dasitzender älterer Mann verbarg, sondern ein seelenverwandter, geistreicher, ungefähr gleichaltriger junger Mann, genauso wie sie es mir versichert hatte. Ich war beruhigt.

In den Nachrichten immer höhere Infektionszahlen. Nirgendwo ein anderes Thema, Dauersondersendungen, kein Entrinnen und zum ersten Mal eine Ahnung dessen, was kommen könnte. Bilder von sich stapelnden Särgen in Italien. Ich lerne den Begriff „Lockdown“ kennen. Dann eine E-Mail der Schule, der Beginn der Osterferien werde nach vorne verlegt. Das Unvorstellbare geschieht, die Geschäfte schließen, nur noch Supermärkte sind weiterhin geöffnet. Menschen prügeln sich um Klopapier. Alles fühlt sich surreal an.

In Europa beginnen sich die Grenzen zu schließen, ein Weg zurück mit dem Zug ist nicht mehr möglich.

Ich sehe die schwarze Pfütze vor mir, höre den Regen, spüre die Kälte wieder, die durch die Winterjacke dringt. Sie schickt immer noch Fotos, eine Übernachtung im Eis am Polarkreis, Bilder wie aus einer anderen Welt.

Du musst zurückkommen, alle Grenzen werden geschlossen.

Nein, ich bleibe, Aris hat mir eine Unterkunft besorgt, dort kann ich so lange bleiben, bis es vorbei ist.

Ein ungutes Gefühl versetzt meinen Magen in Aufruhr. Bis es vorbei ist. Wann soll das sein? Ich will nicht, dass sie so weit weg ist. Was passiert, wenn sie krank wird, ernsthaft krank und ich kann nicht zu ihr. Was passiert, wenn ich krank werde und sie nicht mehr sehen kann. Meine Fantasie, angetrieben durch Panik, geht bis zum Äußersten. Fernsehbilder aus Italien spuken durch meinen Kopf, ich kann sie nicht abschütteln.

Hektisch schaue ich im Internet nach Flügen. Wo sonst jeden Tag Flüge starten, stehen nur noch drei zur Auswahl, ob die beiden, die erst in der nächsten Woche geplant sind, tatsächlich fliegen werden, ist ungewiss. Die Preise steigen. Wieder steigt Panik in mir auf. Ich buche sie auf einen Flug am gleichen Abend um 20.20 Uhr. Ein weiteres Telefongespräch.

Wut.
Verzweiflung.

Geplatzte Träume.

Ich rufe in einer Stunde noch einmal an, sagt sie schließlich mit Tränen in der Stimme.

Um 20.20 Uhr am selben Abend sitzt sie im Flugzeug nach Hause.

Auf dem Weg in eine neue Zeit.