Wenn ein Bayer den Raum des Widersinnigen betritt, tut er die sich vor seinen Augen oder in seinem Inneren vollziehende Werteverkehrung kund mit dem markigen Spruch "Jetz wird's hint' höher wie vorn." Bisweilen zweifelt er auch sein naturgegebenes Geschlecht an mit "Bin i Manderl oder Weiberl?"
Anderen mag es die Sprache verschlagen, wenn sie keine Worte und Bilder zur Hand haben, um sich eine für sie ungewöhnliche Situation zu vergegenwärtigen.
Nahtodüberlebende oder Traumatisierte schweigen oft Jahrzehnte über ihr "Erlebnis der dritten Art".
Es gibt vier grundlegende Herangehensweisen (Weltanschauungen) – Realitätssinn • Hintersinn • Widersinn • Tiefsinn – in denen wir Menschen uns meist sukzessiv und nachvollziehbar bewegen oder sogar plötzlich und gleichzeitig aufhalten können.
- Realitätssinn und Hintersinn sind Werkzeuge der Mehrheit, die im Wesentlichen Pflichtaufgaben erfüllt.
- Widersinn und Tiefsinn sind die Instrumente einer kleinen Minderheit, die neben Pflichtübungen auch der Kür nachgeht.
Die Realisten befinden sich in der Mehrheit (90%) und operieren im Rahmen der Wahrscheinlichkeit.
Die Idealisten, die auch der Möglichkeit Raum gewähren, bilden die Minderheit (10%). Die Festgefahreren schätzen ihre Gewissheit, die ihnen Sicherheit vermittelt, ohne zu ahnen, dass sie dem Primäreffekt des Althergebrachten unterliegen.
Die Hinterfragenden, die sich dem Rezenzeffekt der neuen Erkenntnis nähern, lernen zwangsläufig, auf unbestimmte Zeit mit Ambivalenz und Unsicherheit zu leben.
Vier Erfahrungsbereiche in vier Weltanschauungen
- Entweder-oder • Realitätssinn – Lebensnotwendiges Stammesbewusstsein – Gegebenheit (linearer Konsens – Haben)
- Sowohl-als-auch • Hintersinn – Wahrheitssuche und -vertiefung – Symbolik
- Weder-noch • Widersinn – Ambivalenz ◊ Paradoxa – Irrationalität (nichtlinearer existentieller "Nonsens")
- Alles-in-allem • Tiefsinn – Essenz des Seins – Neuwerdung (neuer Konsens – Sein)
- SPALTUNG – Entweder-oder – GEBURT (Anfang - eins)
- AMBIVALENZ – Sowohl-als-auch – HOCH-ZEIT (Mitte - zwei)
- PARADOX – Weder-noch – ÜBERWINDUNG (Krise – Ego-TOD) (Ende - viele)
- GANZHEIT – Alles-in-allem – WIEDERAUFERSTEHUNG (Phönix aus der Asche) (Neuschöpfung - Einheit in der Vielheit)
Worte, die eindeutig wahr sind, scheinen paradox zu sein.
Laotse, Tao te King, Kapitel 78, 4, 1911, Diederichs Verlag, München, 1998
Ein Paradoxon ist eine desorientierende Widersinnigkeit, ein Widerspruch, eine Aussage/Erscheinung/Befund, die der allgemeinen Erwartungshaltung (dem Konsens) widerspricht. Paradoxa treten in Situationen zutage, die mit folgenden Adjektiven beschrieben werden
☛ äußerst merkwürdig, schräg,
☛ ir-rational, ver-rückt und ver-rückend,
☛ un-fassbar, un-erwartet, un-glaublich, un-möglich,
☛ abstrus, krude, enigmatisch, magisch, nonlinear.
Widersinn ist der entgleisende Bestandteil von Witzen (dem Geisthaltigen), der unwillkürlich ein befreiendes Lachen auslöst. Widersinniges ermöglicht, aus eingefahrenen neuronalen Hirnbahnen auszuscheren, zu “entgleisen”.
Der Spalt, der sich durch das Paradoxe – wie beispielsweise Synchronizitäten – öffnet, gewährt die Möglichkeit, sich neuen Ideen, Konzepten, dem bisher nicht Entdeckten zu erschließen.Wer Augen und Ohren hat, das Widersinnige zu sehen, zu hören und anzunehmen, bewegt sich gewöhnlich “außerhalb der Box” und wird folglich stärker von dem Unfassbaren bewegt.
Paradoxe Situationen, Synchronizitäten, Koans und philosophische Fragen sind nicht kurzfristig zu verstehen und zu beantworten. Vielen gelingt es nur, sie anzunehmen oder gar zu lösen, wenn sie sie über einen unbestimmt langen Zeitraum im eigenen Feld der Ambivalenz und Ambiguität halten können.
Wer ein Problem lösen möchte, muss bis zu dreimal die konsensuell festgelegten Schranken überschritten haben, um sich nachhaltig im Feld der Möglichkeit zu bewegen und Lösungen zu erkennen. Kann er sich einem neuen Paradigma anschließen, entdeckt er, dass sein erweitertes Weltbild viele der ungelösten Rätsel der bisherigen Weltanschauung verschränkt und sie letztlich auflöst.
Die Verschränkungslösung im Märchen
Das althochdeutsche Wort Mär heißt "Botschaft aus übersinnlichen Welten". Luthers Weihnachtslied Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär drückt genau das aus.
Die Handlungsbögen der Märchen beinhalten Erfahrungsmomente der vier Arten von Weltanschauungen. Märchen spiegeln symbolische Inhalte, die schließlich in der zugespitzten Krise in eine so genannte Verschränkung einmünden, aus der wiederum eine zunächst unvorstellbare Lösung auftaucht. Wenn sich Sinn mit Widersinn, faktische Realität mit erweiterter Wirklichkeit, Verstand mit Seele, Diesseits mit Jenseits verschränken, gelingt es den Figuren im Märchen, das archetypische Dilemma der Märchenhandlung aufzulösen.
Das Unmögliche ist die Regel im Märchen. Nur unser Verstand kann die Ganzheit des Lebens, die paradox ist, nicht begreifen, indem er immer nur entweder-oder kennt. [...] Wer hat schließlich wen erlöst? Wieder haben zwei Hälften zusammengearbeitet. Die Seele spielt Schicksal, das Bewusstsein muss reagieren.
Ulla Wittmann, deutsche Autorin, "Ich Narr vergaß die Zauberdinge. Was Märchen für das eigene Leben bedeuten", Herder Verlag, S. 157, 1995
Ist alles relativ? Absolute Relativität
Die relativistisch-absolutistische Behauptung Alles ist relativ! beinhaltet folgende Verschränkungen:
- Wird sie als relative Aussage verstanden, so schließt Relativität Absolutheit nicht aus.
Die Behauptung ist widersinnung und widerspricht sich selbst. - Wird sie als absolute Aussage verstanden, liefert sie als solche das sie widerlegende Beispiel einer absoluten Behauptung und den Nachweis, dass eben nicht alle wahrheitshaltigen Aussagen relativ sind.
Es gibt nichts Absolutes und Endgültiges. Wäre alles stählern und alle Regeln absolut und alles so strukturiert, dass kein Paradoxon oder Ironie existierte, könnte man sich nicht bewegen. Man könnte sagen, der Mensch schlängelt sich durch den Spalt, in dem das Paradoxon existiert.
Itzhak Bentov (1923-1979) in Tschechien geborener israelisch-amerikanischer Wissenschaftler, Erfinder, Mystiker, Autor, "A Cosmic Book. On the Mechanics of Creation", 1988
Urrätsel der Menschheit – Gott und das Böse
Der transzendente ⇔ immanente Gott stellt für den gespaltenen Verstand ein unlösbares Paradox dar. Des Weiteren stellt sich das Theodizee-Paradoxon, der Lösungsstau angesichts der "Rechtfertigung Gottes".
Das Böse ist die "unmögliche Möglichkeit".
Karl Barth [Kirchenvater des 20. Jahrhunderts] (1886-1968) Schweizer evangelisch-reformierter Theologe, Kirchliche Dogmatik, Band IV/3.1, S. 199, Zürich, 1932, 1967
Barth führt aus, dass der Mensch nicht dazu berechtigt sei, Gott hinsichtlich der Existenz des Bösen anzuklagen.
Das Paradox von Getrenntsein ⇔ Verbundenheit
Was eins ist, ist eins. Was nicht-eins ist, ist ebenfalls eins.
Dschuang Dschou (~365-290 v. Chr.) bedeutender chinesischer Philosoph
Was ein alter Philosoph erkannte und anerkannte, gelingt auch den Pferden. Als Herdentiere verstehen sie das Paradox von Lebewesen, die zugleich getrennt und nicht getrennt sind.
Das vielleicht schicksalhafteste Paradox stellt unser gleichzeitiges Bedürfnis nach Erkennen und Unabhängigkeit dar: Das andere Subjekt steht außerhalb unserer Kontrolle, und doch brauchen wir es. […] Das heißt nicht, unsere Bindungen zu anderen zu lösen, sondern eher sie zu entwirren; keine Fesseln daraus zu machen, sondern einen Kreislauf des Erkennens.
Jessica Benjamin (*1946) US-amerikanische Psychoanalytikerin, Feministin, "The Bonds of Love", New York 1988
Das Paradox von Toleranz ⇔ Intoleranz
Weniger bekannt ist das Paradoxon der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen. […]Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.
Karl Popper (1902-1994) österreichisch-britischer Philosoph, Erkenntnistheoretiker, Wissenschaftstheoretiker, Begründer des kritischen Rationalismus, "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", Band 1, [1945] Francke, Bern 1957, Mohr Siebeck, Tübingen, 8. bearbeitete Auflage 2003
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